Franz Treller
Der Gefangene der Aimaràs
Franz Treller

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Die Grabstätte der Kaziken

Alonzo hatte sich in seinen Berechnungen etwas geirrt. Es war schwieriger gewesen, auf die andere Talseite zu gelangen, als er vorausgesetzt hatte. Zudem waren ihm diese Bergpartien nicht bekannt genug, als daß es ihm möglich gewesen wäre, immer die kürzesten Pfade zu wählen. Gleichwohl gelang seine Absicht. Er sah noch, wie seine Begleiter durch das Tal ritten und hörte auch den Büchsenschuß des Mestizen. Schließlich war es ihm doch gelungen, die verabredete Stelle zu erreichen. Die Aimaràs, die er durch künstlich erzeugte Geräusche auf sich aufmerksam machte, mußten ihn, der Poncho und Sombrero Don Fernandos trug, für den zum Opfer bestimmten Spanier halten; dies eben war seine Absicht.

Sie war gelungen, und nun galt es, sich die Verfolger vom Leibe zu halten. Er vertraute dabei auf seinen Jägerinstinkt, auf seine Kraft und Geschicklichkeit. Die einzuhaltende Richtung kannte er genau, wenn ihm das Gelände selbst auch unbekannt war; das Klettern in den Bergen war ihm vertraute Gewohnheit.

Freilich – und darüber täuschte der Junge sich nicht – in seinen Verfolgern hatte er zum äußersten entschlossene Feinde hinter sich. Feinde, die diesen Teil des Gebirges aufs genaueste kannten und sicherlich alles aufbieten würden, um der Entflohenen wieder habhaft zu werden. Er bekam das auch bald zu spüren, denn zweimal fand er die Wege besetzt, die er einschlagen wollte und einschlagen mußte. Nur die äußerste Vorsicht verhinderte jedesmal seine Entdeckung. Aber Alonzo war entschlossen, sich eher in einen Abgrund zu stürzen, als noch einmal in die Hand der Wilden zu fallen.

Er hielt sich auf den Höhen, weil er hier immerhin sicherer war als in dem Gewirr der ihm unbekannten Schluchten. Immer wieder hörte er Stimmen unter sich, die ihm den Standort der Verfolger verrieten; das zwang ihn, wiederholt die Richtung zu wechseln; die Gefahr, sich auf solche Weise immer weiter von seinem Ziel zu entfernen, mußte angesichts der unmittelbaren Bedrohung in Kauf genommen werden. Im Begriff, einen abgeplatteten Felsen zu überschreiten, der mit dünnem Buschwerk bestanden war, verriet ihm ein von der Seite her kommender Ausruf, daß er gesehen worden war. Tatsächlich gewahrte er gleich darauf jenseits einer steil abfallenden Schlucht den Kopf eines Aimarà. Blitzschnell riß er die Büchse hoch und schoß. Krachend entlud sich die Waffe, und der Kopf verschwand. Hinter Buschwerk geduckt, lud er sein Gewehr; er mußte ja jeden Augenblick damit rechnen, neue Feinde auftauchen zu sehen. Aber ringsumher regte sich nichts.

Behutsam kroch er durch die Büsche dem Rande des Felsens zu, um einen Einblick in die trennende Schlucht zu gewinnen; er gewahrte aber nichts Verdächtiges. Er lief in hastigen Sprüngen zur anderen Seite hinüber; hier schien der Abstieg möglich. Aber er war zu erschöpft, er mußte einen Augenblick ruhen. Er warf sich zwischen den Büschen nieder und sah zur Sonne auf, die am Himmel ihre Bahn zog; weit und breit regte sich nichts.

Nach einer Weile fühlte er sich kräftig genug, um den Abstieg zu wagen. Er ging mit unendlicher Vorsicht zu Werke, jeden Augenblick eines plötzlichen Überfalls gewärtig. Aber er kam ungehindert hinab und stand nun in einer mit Steingeröll übersäten Schlucht. Die Sonne sagte ihm, daß er sich nach rechts halten müsse. Eine andere Schlucht, breiter und mit Gras und Buschwerk bewachsen, kreuzte seinen Weg. Gebückt überquerte er sie.

Er hatte kaum den jenseitigen Einschnitt erreicht, als gellende Rufe aus der Höhe ihn darüber belehrten, daß er entdeckt worden sei. Die Aimaràs schienen alle oben zu sein. Sie waren mit Büchsen bewaffnet, aber sie schossen nicht. Es lag ihnen wohl zuviel daran, den Entwichenen lebend zu bekommen, und sie waren sicher, daß er ihnen nicht mehr entgehen könnte.

Alonzo, noch immer mit Hut und Poncho Fernandos bekleidet, jagte in der ursprünglichen Richtung weiter; er wußte, daß er die Verfolger bald auf den Fersen haben würde. Sein gehetztes Auge überflog die bizarre Szenerie. Plötzlich gewahrte er zur Rechten auf einem Felsvorsprung einen gewaltigen, viereckig behauenen Stein und dahinter eine dunkel gähnende Öffnung im Fels. Blitzartig sagte er sich, daß dies eine der alten Begräbnisstätten sein müsse, wie sie das einst zahlreiche Volk der Aimaràs anzulegen pflegte. Ein rauher Felspfad führte hinauf, Alonzo erklomm ihn in kurzen, hastigen Sprüngen und verschwand in der Öffnung. Gleich darauf betraten zwei Indianer die Schlucht. Sie liefen weiter, die anderen kamen nach. Keiner schenkte dem Zufluchtsort des Jungen auch nur die geringste Beachtung.

Aber dann kamen einige Indios, die stehenblieben und hinaufsahen.

»Dort schlummern die Toten früherer Zeiten«, sagte ein älterer Mann. »Vor Jahren hat der zornige Erdgeist die Felsen geschüttelt, den Stein verrückt und die Pforte des Todes geöffnet.«

»Sollte der Weiße dorthin geflohen sein?« fragte ein anderer. Die Möglichkeit lag nahe, denn die jäh ansteigenden Felsen ringsum waren nicht zu erklettern, und Alonzo hatte nicht genug Vorsprung gehabt, um die Schlucht schon durchmessen zu haben, als sie von den ersten Verfolgern betreten wurde.

Die Indios ließen drei Männer als Wache bei dem Grabmal zurück, die anderen begannen sorgsam jeden Strauch und jeden Winkel der Schlucht zu durchsuchen. Sie fanden nichts; keine Spur war auf dem weichen durchnäßten Boden eingeprägt. Es war klar: der Entwichene mußte in der Grabstätte sein.

Aber kann ein Aimarà die geweihte Stätte des Todes betreten? Er kann es nicht. Der Gott des Todes würde den Eindringling strafen. Die Indios versuchten, von der gegenüberliegenden Felswand aus einen Einblick in die Höhlung zu gewinnen.

Alonzo sah, kaum daß er im Dunkel der Höhle untergetaucht war, daß er sich nicht geirrt hatte. Es war eine altindianische Gruft, in der er sich befand. Ringsum standen in den in Stein eingehauenen Nischen die verschnürten Ballen, die die Leichen in hockender Stellung bargen. Die trockene Luft dörrt sie in diesen Felsen schnell zu Mumien aus. Auf seinen Streifzügen im Gebirge hatte der Junge dergleichen schon oft gesehen. Er atmete auf, denn er wußte, daß die Aimaràs dieses Felsengrab nicht betreten würden. Fürs erste durfte er sich als gerettet betrachten.

Die Stimmen, die zu ihm hereindrangen, sagten ihm bald, daß man ihn hier vermutete. Auch erkannte er, daß man einen Teil der Höhle von der gegenüberliegenden Felswand aus übersehen konnte. Die schauerliche Umgebung focht ihn nicht an; er streckte sich auf seinem Poncho aus, um zu ruhen. Der Hunger meldete sich, und der Durst begann ihn zu quälen. Der Beutel mit Nahrungsmitteln war am Sattel des Pferdes befestigt, aber wo war jetzt das Pferd? Wo waren die Freunde? Waren sie durchgekommen? Bei vorsichtigem Umherspähen gewahrte er, daß sich in den Vertiefungen des Felsgesteins draußen kleine Pfützen Regenwasser gesammelt hatten. Hinter den Stein kriechend, der das Grabmal dereinst geschlossen hatte, vermochte er seinen Durst zu löschen, ohne gesehen zu werden.

Die Zeit ging hin. Er nahm wahr, daß die Sonne trübe geworden war und erkannte bald, daß dichte Nebel aus dem feuchten Tal aufstiegen. Diese Nebel, er wußte es wohl, pflegten oft die ganze Bergwelt in einen grauen, undurchdringlichen Mantel zu hüllen.

Immer matter wurde die Sonne, immer stärker der Nebel, schon konnte Alonzo die gegenüberliegende Felswand nicht mehr genau überblicken. Diese Nebel nach langen Regengüssen hielten oft tagelang an; konnten sie ihm zur Rettung werden?

Es kam ihm der Gedanke, daß auch die Aimaràs den Nebel benützen möchten, heraufzuschleichen, um ihn abzufangen. Vielleicht waren einige Krieger weniger abergläubisch und wagten es, das Grabmal zu betreten. Ich will mich wenigstens darauf vorbereiten, dachte Alonzo.

Unverzüglich machte er sich an die Arbeit. Er stieß einen der mit Bastdecken umwickelten Ballen aus seiner Nische, durchschnitt die Faserstricke mit seiner Machete und stellte die zutage tretende Mumie dicht neben den Eingang an den Felsenpfad. Wenn die Narren vor diesem Anblick nicht zurückweichen, müßte ich mich wundern, dachte er. Der Nebel war jetzt so dicht, daß man nicht drei Schritte weit zu sehen vermochte. Von der Sonne war nichts zu erblicken.

Alonzo horchte nach unten; kein Laut drang zu ihm herauf. Vor der Höhle befand sich eine kleine Plattform; sie war einst für den schweren Verschlußstein hergestellt worden. Der Fels stieg von hier aus fast senkrecht an. Den Abstieg nach unten versperrten die Aimaràs, aber gab es nicht auch nach oben einen Weg? Er schlich sich bis dicht an den Rand des Einganges und untersuchte den ansteigenden Fels. Tastend erkannte er leicht eingehauene Stufen, vermutlich Überreste einer ehemaligen, in den Fels gemeißelten Treppe, die Regen und Frost noch nicht ganz zerstört hatten.

Er sann nach. Wenn ich meinen Lasso hätte, dachte er. Aber waren nicht die Mumien mit langen, ungewöhnlich zähen Stricken umwickelt, von deren Festigkeit er sich soeben überzeugt hatte? Er zerrte einen zweiten Mumienballen aus seiner Nische, löste den umschnürenden Strick und formte daraus einen Lasso. Dann warf er die Büchse über die Schulter, rollte die Seitenteile des Ponchos zusammen und umschnürte ihn mit seinem Gürtel; so hatte er die Arme frei.

Er betrat die Plattform und lauschte nach unten. Sein feines Ohr vernahm trotz des dämpfenden Nebels leichte Schritte. Ah, – kamen sie doch? Er trat zurück und spannte den Hahn seiner Büchse.

Ein Schrei des Entsetzens, ein irrer, wahnsinniger Schrei traf sein Ohr; er hörte, wie eilende Schritte sich entfernten. Ich danke dir, roter Kazike, lächelte er, du hast sie verjagt. Unzweifelhaft hatten einige junge Krieger versucht, sich dem Eingang der Höhle zu nähern und hatten plötzlich, von den Schleiern des Nebels umhüllt, die Mumie gesehen. Diesem Anblick hatte ihr Mut nicht standgehalten.

Also war es Zeit; diese Gelegenheit kam vermutlich nicht wieder. Alonzo nahm den zusammengerollten Strick in die Hand und begann vorsichtig den Anstieg. Er fand genügend Stufenreste, um den tastenden Fuß zu stützen; im Schutz des verschleiernden Nebels gelangte er mühsam nach oben. Endlich hörten die Stufen auf; vor ihm war nichts als der nackte, glatte Fels, doch mußte er dem Gipfel nahe sein. Er wickelte seinen Strick los und warf die Schlinge nach oben. Sie kam zweimal zurück, beim dritten Mal haftete sie an irgend einem Gegenstand, den er nicht zu sehen vermochte. Er zerrte mit aller Gewalt, hing sich an den Strick; er hielt fest. Entschlossen kletterte er hoch und erreichte mit geringer Anstrengung den Felsrand. Die Schlinge hing an der zähen, tief im Fels haftenden Wurzel eines Baumes, den der Sturm gebrochen haben mochte. Er atmete auf.

Rings um ihn her wallte undurchdringlicher Nebel. Er machte den Strick los und rollte ihn zusammen. Die Sonne war nicht zu sehen, doch das war ihm gerade recht. Im rechten Winkel zur Schlucht schritt er mit der Sicherheit eines indianischen Jägers in gerader Linie vorwärts. So gelangte er erst nach geraumer Zeit an den gegenüberliegenden Rand des felsigen Berges. Der Abstieg schien von hier aus möglich; die Wand fiel terrassenförmig ab. Vorsichtig, sich seines künstlichen Lassos bedienend, den er um Stein und Felszacken schlang, gelangte er Fuß für Fuß auf eine grasbewachsene Talsohle. Beglückt vernahm er das Rauschen eines Baches, der ihm den Weg wies und gleichzeitig seine Spur verbarg.

Er stieg in das seichte Wasser hinein und ging mit dessen Strömung. Es kam ihm jetzt vor allem darauf an, einen größeren Raum zwischen sich und die Aimaràs zu bringen. Das Gehen auf dem glatten Geröll in dem kalten Wasser war schwierig. Nach etwa zwei Stunden fühlte er sich ermattet, stieg aus dem Bach und fand ein Dickicht von Nadelholz. Mit seiner Machete hieb er Zweige ab, wickelte sich in seinen Poncho und schloß die Augen; er schlief sofort ein. Seine letzten Gedanken waren die beiden Gefährten, die jetzt ratlos im Nebel seiner harren mochten. Er konnte ihnen jetzt nicht helfen.

Er erwachte, und noch immer lag die Welt in undurchdringlichem Nebelgrau. Er stillte seinen Durst in dem kleinen Bach; mit dem Hunger hieß es einstweilen fertig zu werden. Mit einem Stab bewehrt, den er sich geschnitten, schritt er wieder im Bett des Flusses talabwärts; plötzlich ließ ein dumpfes Rauschen ihn stutzen. Er suchte das Ufer auf, das von Büschen und Bäumen gesäumt war und hielt sich, immer am Bachlauf entlang, dicht am Rand des Gehölzes. Das dumpfe Rauschen wurde stärker; jäh erkannte er, daß der Bach sich neigte und zu seiner Linken senkrecht in die Tiefe stürzte.

Die Sonne hatte er seit dem Aufkommen des Nebels nicht mehr gesehen, jetzt mußte er an der schnell einfallenden Dunkelheit erkennen, daß sie hinter den Bergen gesunken war. Soweit Nebel und Dämmerung es ihm gestatteten, suchte er nach einem Platz, an dem er die Nacht zubringen könnte. Er fand einen vom Sturm gefällten Baum zwischen dichtem Buschwerk; hier bereitete er sich nach Jägerart sein Lager aus Zweigen, hüllte sich dicht in seinen Poncho und erwartete die Nacht.


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