Franz Treller
Der Gefangene der Aimaràs
Franz Treller

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Alonzo und Eugenio

In hellem Sonnenschein lag das fruchtbare Land. Weithin dehnte sich nach Norden und Osten die unabsehbare Fläche, auf der zahllose Rinderherden weideten, von wohlberittenen Hirten bewacht. Westwärts in der Ferne ragten himmelanstrebend die gigantischen Felskegel der Berge. Der die Ebene durchrinnende wasserreiche Fluß führte seine Fluten dem Meta zu, der sie an den windungsreichen Orinoko abgab.

Die Ländereien und Liegenschaften Señor Vincente Vivandas erstreckten sich weit. Die Äcker und Weiden zeugten von sorgfältigster Pflege und Bewirtschaftung. Zerstreut in der Landschaft standen die kleinen sauberen Häuser der Arbeiterfamilien, die vielfach indianischer Herkunft waren.

Das niedrige, luftig gebaute und von schattigen Veranden eingefaßte Herrenhaus lag innerhalb parkartiger Anlagen in der unmittelbaren Nähe des gemächlich dahinströmenden Flusses. Von hier aus hatte man einen freien Blick über die ausgedehnten, abwechselnd mit Mais, Tabak und Kaffeebäumen bestandenen Felder. Hier und da ragte dazwischen eine stattliche Palme oder ein alter Ceibabaum hervor.

Es war ein großer, prächtiger Herrensitz, den sich die Vivandas, die einer alten spanischen Familie entstammten, hier geschaffen hatten. Ihre Ländereien umfaßten mehrere Quadratleguas. Die Bewachung der zahlreichen Herden und die Bewirtschaftung der ausgedehnten Ländereien erforderten eine große Schar von Hirten und Feldarbeitern.

Auf der nach Norden hin gelegenen Veranda des Hauses stand Alonzo, der Sohn Pedro d'Alcantaras. Er führte hier seinen Namen nicht, sondern wurde, mit dem Namen des Herrn von Otoño, Alonzo Vivanda genannt.

Fünf Jahre waren vergangen seit dem Tag, da er den Jaguar niederschoß; aus dem Knaben von damals war ein stattlicher junger Mann geworden. Er war hoch und schlank von Gestalt, aber die breiten Schultern, die muskulösen Arme und die gewölbte Brust verrieten körperliche Kraft. Das schmale Oval seines Gesichtes entsprach nur teilweise dem spanischen Rassetypus, es war in der Regel von einem dunklen Ernst überschattet. Die Jahre der Gefangenschaft in der Bergwildnis hatten es entscheidend geprägt; nur selten sah man Alonzo lächeln.

Don Sebastian Vivanda, der Cura, ein Bruder des reichen Hazienderos, hatte Alonzo in sein Herz geschlossen; er liebte ihn und behandelte ihn wie einen Sohn. Der Geistliche, ein Mann von vollendeter Herzens- und Geistesbildung, hatte früher als Pfarrer an der Kathedrale zu Bogotá gewirkt; angewidert von den Parteikämpfen und Intrigen in der Hauptstadt des Landes, hatte er sich in die Ruhe und Abgeschiedenheit der Llanos zurückgezogen und ging hier seinen geistlichen Verrichtungen nach.

Er war es, der dem jungen Halbwilden sehr bald klarmachen mußte, daß er nicht eher als Sohn und Erbe seines Vaters auftreten könne, bis er Formen und Kenntnisse eines jungen Caballeros erworben habe. Alonzo war ja, als er den Aimaràs entkam, nicht einmal mehr seiner Muttersprache mächtig, konnte weder lesen noch schreiben. Auch hielt der Cura es für klug, die politische Entwicklung abzuwarten und einen günstigen Zeitpunkt herankommen zu lassen. Ein plötzlich aus dem Nichts auftauchender d'Alcantara konnte gar zu leicht als Betrüger gebrandmarkt werden. Denn die herrschende Partei, in der Hand des allmächtigen Ministers, verfügte nicht nur über die staatliche Macht, sondern auch über großen Einfluß im Lande.

Der Junge sah beides ein und fügte sich geduldig der Klugheit des väterlichen Beraters. Er fand sich nicht ohne Mühe in dem neuen Leben zurecht. Jahrelang hatte er die Luft der Berge geatmet; an die in der Niederung herrschende Hitze mußte er sich ebenso erst gewöhnen wie an die Gewohnheiten zivilisierten Lebens. Gleichwohl arbeitete er unermüdlich an seiner geistigen Bildung. Da er über eine natürliche Intelligenz verfügte, fiel es ihm bald wie Schuppen von den Augen; er unterschied wieder die Lautzeichen seiner Sprache, und die ungeübte Hand gewöhnte sich schnell wieder an den Gebrauch der Feder. Elvira Vivanda, Don Vincentes Tochter, die Alonzo dereinst vor dem Prankenschlag des Jaguars bewahrt hatte, unterstützte ihren Oheim in seinen Bemühungen und wurde dem jungen Halbindianer bald eine liebenswürdige Lehrerin, deren zuweilen mit scherzhafter Überlegenheit vorgebrachten Weisungen er sich nur zu gerne fügte.

Die Vivandas hatten mit der gebotenen Vorsicht Nachforschungen nach Alonzos Verwandten und seinem Eigentum angestellt. Die Ergebnisse waren betrüblich genug. Der Onkel, seines Vaters Bruder, hatte als ein Verbannter das Land verlassen und lebte dem Vernehmen nach in Mexiko; die einzige Schwester war tot, ihr Mann dem Minister de Valla ergeben. Die Verwandten der Mutter wohnten fern an der Küste. Das Eigentum Pedro d'Alcantaras hatte seinerzeit der Staat, das heißt die derzeitige Regierung, eingezogen und dem Minister de Valla für seine Verdienste um das Land als Ehrengeschenk übereignet.

Der Staatspräsident Don Manuel Obanda war an sich ein sauberer und ehrlicher Mann, aber er war seiner Herkunft und Erziehung nach ein Soldat, zufolge seines geraden und unkomplizierten Charakters völlig unfähig, die Parteiwirren zu durchschauen; praktisch befand er sich völlig in der Hand Carols de Vallas.

Unter all diesen Umständen war es einstweilen nicht geraten, für Alonzo Schritte zur Wiedererlangung seines Eigentums einzuleiten. Der Cura hatte deshalb vorderhand nur einige wenige ihm ergebene Freunde ins Vertrauen gezogen und wartete einen günstigen Augenblick ab, um die Ansprüche seines Schützlings öffentlich anzumelden.

Alonzo stand auf der Veranda; er war für einen Ritt in die Steppe gekleidet. Als ein leises Geräusch hinter ihm ertönte, wandte er sich um und sah sich Elvira gegenüber.

»Oh, der Señorito will ausreiten«, sagte das Mädchen.

»Ja, Elvira, ich will nach Norden zu in die Llanos.«

»Warum? Was willst du da?«

»Der Sturm hat die Herden zerstreut. Wir müssen sie zusammentreiben. Wird wohl ein paar Tage dauern, bis ich wiederkomme.«

»Was für ein Unsinn!« sagte Elvira und zog das Näschen kraus. »Das können die Vaqueros doch allein. Warum mußt du dich mit den Herden plagen?«

Alonzo lachte. »Du fragst wie ein Mädchen. Dein Vater will es, und es ist auch richtig. Man soll solche Aufgaben nicht den Leuten allein überlassen. Ich werde mich übrigens beeilen.«

»Gib doch ruhig zu, daß du gern reitest«, versetzte Elvira ziemlich schnippisch. »Du fühlst dich nun einmal am wohlsten auf dem Pferd.«

»Warum soll ich das leugnen? Ich habe gern einen Pferderücken unter und den Himmel über mir.«

»Eben. Ich bekenne, daß alle meine Erziehungsversuche gescheitert sind.«

»Sofern sie darauf hinausliefen, mich zum Stubenhocker zu machen – allerdings«, sagte Alonzo und sah dem Mädchen mit ruhigem Lächeln ins Gesicht. »Aber ich werde den Respekt, den ich meiner Lehrerin schulde, gewiß nicht darüber vergessen«, setzte er hinzu und nahm den Karabiner, der an der Wand lehnte. »Leb wohl, Elvira, wir sehen uns bald wieder.«

In Elviras Augen, als sie ihm nachsah, stand ein versonnenes Leuchten.

Alonzos Begleiter, vier kräftige Rinderhirten, drei spanischer Herkunft, der vierte ein Vollblutindianer, warteten bereits auf den Pferden. Sie hatten die langen Lanzen am Arm befestigt; einer hielt ein mit Mundvorrat bepacktes Saumtier am Zügel. Ein Peon führte den Rappen Alonzos vor.

Der warf die Büchse am Riemen über die Schulter, schwang sich aufs Pferd, nickte noch einmal nach dem Hause zurück, denn er wußte recht gut, daß Elvira irgendwo stand, um ihm nachzusehen, und mit einem »Adelante!« sprengte er, die Vaqueros hinter sich, durch die Felder in nördlicher Richtung davon.

Ein gewaltiger Südsturm hatte vor zwei Tagen die Herden vor sich hergejagt und weit über das Land zerstreut; es ging darum, sie wieder zusammenzutreiben. Fast zwei Tage hatte Alonzo mit seinen Männern zu reiten, bis sie bei schon einbrechender Dämmerung auf die ersten Tiere trafen. Sie fanden die Vaqueros der Hazienda, die bei den Herden im Freien weilten, damit beschäftigt, die Rinder zusammenzutreiben. Sie verrichteten dieses Geschäft gleichzeitig mit einigen Llaneros, deren Tiere gleichfalls verjagt worden waren und sich nun mit den Vivandaschen Herden vermischt hatten.

Die sonnverbrannten Steppenbewohner freuten sich, den jungen Señor der Hazienda Otoño unter sich zu sehen und begrüßten ihn mit Hallo. Der Landessitte entsprechend war jedes Tier mit dem eingebrannten Zeichen des Eigentümers versehen; nur der jüngste Wurf war noch ungezeichnet. Reitergeschicklichkeit, Kraft und Ausdauer waren erforderlich, um die Tiere einzufangen und zusammenzutreiben. Unendlich schwieriger war es dann noch, Ordnung in den Wirrwarr der durcheinander gejagten Rinder zu bringen.

»Es ist gut, daß du gekommen bist, Don Alonzo«, sagte ein älterer Llanero, »wir haben schwere Arbeit hier.« Der junge Mann reichte dem Alten ungezwungen die Hand. »Wir werden es schon schaffen, amigos«, sagte er und warf einen Blick über die auf weite Entfernung zerstreuten Tiere. »Wie wäre es, Companeros«, fuhr er fort, »wenn wir uns vereinigten und alle gemeinsam vorgingen? Wir sondern zunächst eure Tiere aus, und ihr würdet uns dann helfen, die unseren nach Süden zu treiben.«

»Gut, Don Alonzo«, sagte der Alte, »machen wir's so! Auf diese Weise kommt schnell Ordnung in die Sache. Am besten ist es, du übernimmst die Führung und gibst gleich deine Anweisungen.«

Dies war schnell getan. Alonzo nahm die Einteilung vor, und bald begannen sämtliche Hirten in ausgedehnter Linie in die Herden hineinzureiten. Sie hatten die Anweisung, alle Tiere der Hazienda Otoño auszulassen und nur die Rinder der Steppenbewohner herauszutreiben, nach Osten und Westen, je nach dem Wohnsitz des jeweiligen Eigentümers. Die Lassos flogen und fielen über die Hörner widerspenstiger Tiere; von den Peitschen wurde, wo es notwendig war, Gebrauch gemacht, und noch bevor die Sonne endgültig sank, war so unter einheitlicher Leitung ein Großteil der Arbeit vollbracht.

Dann aber wurden Feuer entzündet, ein junges Rind geschlachtet und gebraten, Kaffee gekocht, Maiskuchen gebacken, und bald saßen die Hirten im Kreise um Alonzo geschart, ließen sich die Mahlzeit schmecken und freuten sich des vollbrachten Werkes. Die Gitarren erklangen, und die Llaneros sandten ihre schwermütigen Lieder in die dunkle Weite der Nacht.

Alonzo saß noch lange an dem niederbrennenden Feuer, während die Männer um ihn herum schliefen. Seine Gedanken suchten die ungewisse Zukunft zu durchdringen. Er fühlte sich wohl bei den Vivandas; das war es nicht. Sie hatten aus einem halbwilden Jungen einen Mann, einen Caballero gemacht; sie hatten alles getan, um ihn der Welt wiederzugeben, aus der ein grausames Schicksal den Knaben gerissen. Aber das im letzten ungelöste Rätsel, das den Untergang seiner Familie umgab, quälte ihn nach wie vor. Er war eine trotzige, entschlossene Natur und keinesfalls willens, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Der jahrelange Umgang mit den grausamen und barbarischen Wilden war nicht dazu angetan gewesen, besänftigend auf seinen Charakter zu wirken; auch diese Zeit war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er haßte die Mörder der Seinen und sehnte die Gelegenheit herbei, Vergeltung zu üben.

In all den Jahren, die er nun in den Llanos weilte, hatte man nichts mehr von den Aimaràs vernommen; sie mußten ihre Raubzüge eingestellt oder nach einer anderen Richtung hin verlegt haben. Er gedachte zuweilen auch der beiden jungen Männer, die er seinerzeit befreit hatte; er hatte nie mehr von ihnen gehört und zweifelte nicht, daß sie umgekommen seien. Er hatte ihre Namen nicht behalten. Gleichwohl waren von den Vivandas auf seine Veranlassung wiederholt Nachforschungen nach einem vermißten jungen Caballero und einem Mestizen angestellt worden; ohne jedes Ergebnis, was schließlich bei der dünnen Besiedlung des Landes und den endlosen Entfernungen nicht weiter verwunderlich war.

Es waren aber auch noch andere Betrachtungen, die der schweigsame Junge in all den Jahren immer wieder angestellt hatte und die ihn auch jetzt beschäftigten, als er an dem niederbrennenden Feuer saß und in die dunkle Nacht hineinstarrte.

Schon vielfache Äußerungen, die er in den Jahren seiner Gefangenschaft bei den Aimaràs aufgefangen hatte, ließen darauf schließen, daß weiße Leute bei dem Untergang seiner Familie beteiligt waren. Das Verhalten des alten Gomez ihm gegenüber war dazu angetan gewesen, diesen furchtbaren Verdacht zu festigen. Die Brüder Vivandas hatten sich zwar über diese Dinge nur sehr vorsichtig und zurückhaltend geäußert, doch wußte er durch sie immerhin, daß er als Sohn und Erbe seines Vaters mächtige Feinde habe. Und schließlich hatte er den Klang des Namens de Valla nicht mehr aus den Ohren bekommen, seit der sterbende Gomez ihn mit warnender Beschwörung genannt hatte.

Durch seine Erzieher war er mit der Geschichte seines Heimatlandes vertraut gemacht worden. Er wußte von dem langen Unabhängigkeitskampf der Kolonien gegen die spanische Macht unter Bolivar, dem Befreier. Er kannte die blutige Geschichte der Bürgerkriege, die nach dem Tode des trefflichen Mannes nicht mehr abrissen und zu neuen Staatenbildungen führten. Er wußte, daß sein Vater im Dienste des Landes tätig gewesen war und daß gegenwärtig der mächtigste Mann des Staates de Valla hieß. War dies der Feind, den er zu fürchten hatte? Es mußte wohl so sein, denn warum sonst sollte er, Alonzo, seinen eigenen Namen geheimhalten?

Er war entschlossen, diesen verworrenen Dingen auf den Grund zu kommen. Bei diesem Beginnen stand er allein. Gleichaltrige Freunde hatte er nicht. Sein Wesen war zu verschlossen und unzugänglich; die jungen Leute, die er nach und nach kennenlernte, wußten mit ihm und er mit ihnen nichts anzufangen. Sie alle waren unter dem Schutz eines Elternhauses aufgewachsen, sie sahen das Leben anders als er, der von Kindheit auf Einsame.

An den Brüdern Vivanda, vor allem an dem Cura hing er mit herzlicher Zuneigung; dennoch war zwischen ihnen und ihm so etwas wie eine unsichtbare Wand. Nur Elvira gegenüber gab er sich völlig unbefangen. Er hing an dem Mädchen mit der ein wenig rauhen Zärtlichkeit eines Bruders. Von den düsteren Regungen seiner Seele, von dem verzehrenden Haß, der in ihm schlummerte, sprach er auch ihr gegenüber nicht. Der Cura mochte etwas davon ahnen; er mühte sich, den Dämonen in des Jünglings Seele durch Lehre und Beispiel entgegenzuwirken. Aber Alonzo hatte sich gut in der Gewalt. Er verstand es, sein Gesicht wie ein Indio zu beherrschen; die Schule, die er bei den Wilden durchgemacht hatte, wirkte nach.

Was wird die Zukunft bringen? Welche Wege wird sie mich führen? dachte er, und sein umschleiertes Auge suchte die Sterne. Er fand keine Antwort. Tief in der Nacht erst sank er in Schlaf.

Früh am Morgen begann wieder die aufregende Tätigkeit der Vaqueros und Llaneros. Alonzo erkannte bald, daß seine weitere Anwesenheit nicht nötig war; er ritt weiter nach Norden zu, um vielleicht ein jagdbares Tier vor die Büchse zu bekommen. Bald war er den Hirten aus dem Gesicht.

Er hatte sich einige Leguas von seinen Männern entfernt, ohne bisher zum Schuß gekommen zu sein, als er, sein Tier am Zügel führend und langsam einherschreitend, plötzlich die Abdrücke eines menschlichen Fußes gewahrte. Er hielt und betrachtete die Spur aufmerksam. Es war ohne Zweifel kein Llanero, der hier gegangen war; seinem geübten Blick enthüllte sich die Spur alsbald als der Abdruck eines eleganten Stiefels, wie er von vornehmen Leuten in der Stadt getragen wurde. Wie kam solches Schuhwerk in die Llanos? Nirgendwo war der Abdruck eines Pferdehufes wahrzunehmen; in die Llanos kam man aber doch nur auf dem Rücken eines Reittieres. Frischer Tau lag auf der Spur; sie mußte vom Vortage stammen.

Langsam folgte Alonzo der Fährte; die Folge der Abdrücke ließ darauf schließen, daß der Stiefelträger unsicher gegangen, vermutlich also sehr erschöpft gewesen sein mußte. Was bedeutete das? Ein Stadtbewohner, allein ohne Pferd, in den Llanos?

Er sah sich um und erkannte bald, daß die Spur zu einem kleinen Gehölz führte, das unweit vor ihm lag. Ihr folgend, ging er darauf zu. Es dauerte auch nicht lange, da erblickte er am Rande des Gehölzes, ausgestreckt zwischen den Farnen, eine menschliche Gestalt. Alonzo war zu sehr Jäger und zu indianisch erzogen, um nicht zunächst den Saum des Gehölzes aufmerksam zu durchforschen und die Büchse schußfertig zu machen, obgleich in den Llanos im allgemeinen weder mordlustige Indios noch sonstiges räuberisches Gesindel zu befürchten waren. Nichts Verdächtiges bot sich seinem Blick, auch war weiter keine Spur, weder von Mensch noch von Tier, zu erblicken. Vorsichtig trat er näher.

Da lag unmittelbar vor ihm ein junger Mann, ein Spanier, in seinen Poncho eingewickelt. Der Mann war blaß wie ein Toter. Seine Augen waren geschlossen; er regte sich nicht. War er tot?

Alonzo bückte sich und befühlte die Stirn des Fremden. Sie war warm, die Brust hob und senkte sich schwach; der Mann lebte. Alonzo berührte seine Schulter und schüttelte sie leicht. Der Fremde öffnete die Augen und sah ihn mit einem starren Blick an. »Hunger!« sagte er leise.

Alonzo setzte ihm seine Flasche mit kaltem Kaffee an den Mund und reichte dem gierig Trinkenden daraufhin ein kleines Stück Maisbrot. Er betrachtete währenddessen die schlanke, grazile Gestalt, das schöne, ein wenig weichliche Gesicht, den modischen Sommeranzug, der unter dem Poncho sichtbar wurde, die eleganten Reitstiefel. »Auf welche Weise kommen Sie hierher, Señor?« fragte er.

Der junge Mann, bei dem die kleine Stärkung Wunder bewirkt hatte, richtete sich zu sitzender Haltung auf und sah den über ihn Gebeugten mit ein wenig hilflosem Lächeln an:

»Verzeihen Sie, daß ich Ihnen Mühe mache, Señor«, sagte er. »Der Sturm hat uns überrascht und mich von meinen Begleitern getrennt; mein Maultier ist mir entlaufen, ich war schon ziemlich verzweifelt. Bis hierher habe ich es geschafft, – gestern abend; ich hatte mich schon aufgegeben.«

»Dann hat mich die Vorsehung zu Ihnen gesandt«, lächelte Alonzo.

»Oh, ich bin Ihnen dankbar, Señor.«

»Aber wie, um alles in der Welt, kommen Sie in diesen seltsamen Aufzug, der für die Stadt passen mag, aber in den Llanos denkbar ungeeignet ist«, staunte Alonzo, »noch dazu ohne Waffen?«

»Oh, Señor, ich war ja in guter Begleitung. Ich bin Naturalista.«

»Naturalista? Was heißt das?«

»Ich bin hier, um die Tier- und Pflanzenwelt der Llanos zu studieren.«

»Was es alles gibt!« lächelte Alonzo. »Aber immerhin, da ich nichts davon verstehe, werde ich mich hüten, Kritik zu üben. Indessen schlage ich Ihnen vor, mit mir zu frühstücken.« Damit ging er zu seinem ruhig grasenden Pferd, nahm den Beutel von dessen Sattel, und bald saßen die beiden jungen Männer beieinander und verzehrten kaltes Fleisch und Maisbrot.

»Sie sind ein Llanero, Señor?« fragte der Fremde während des Essens. Er fragte es mit einigem Zweifel in der Stimme, denn Pferd und Sattelzeug hatten ihm gezeigt, daß er keinen der gewöhnlichen Bewohner der Ebene vor sich hatte.

»Llanero, Montanero, wie es kommt, Señor«, sagte Alonzo.

»Oh, Sie kennen das Gebirge auch?«

»Bis zum ewigen Eis hinauf.«

»Aber hier unten sind Sie zu Hause?«

»Ja.«

Sie schwiegen eine Weile; der junge Fremde sah betrübt vor sich hin. »Wie finde ich nur meinen Professor und meine Peons wieder?« fragte er schließlich.

»Wo waren Sie, als der Sturm kam?«

»Ja, wenn ich das wüßte?«

»Sie sind leichtsinnig, mein Lieber. Da wird es freilich schwer halten, Ihre Begleitung wiederzufinden. Die Ebene ist weit.«

»Aber was beginne ich, mein Freund?« Der junge Mann schien völlig ratlos.

»Aber das ist einfach, Señor«, lachte Alonzo. »Ich nehme Sie mit. Ich denke, mein Cesar trägt uns beide, bis ich ein Reittier für Sie habe. Glauben Sie, den Ritt auszuhalten?«

»Oh, ich denke wohl.« Der Fremde erhob sich, er schwankte noch beträchtlich. »Es wird sich geben«, lächelte er.

»Nein, Señor Naturalista.« Alonzo schüttelte den Kopf. »Es wird nicht gehen. Sie sind noch zu erschöpft. Wir haben einen langen Ritt vor uns und einen rauhen Weg.« Er stand auf und erkletterte gewandt die unteren Äste einer Tamarinde, um von hier aus Umschau zu halten. Wie er gehofft, gewahrte er am westlichen Horizont leichten Rauch, nur seinem ungewöhnlich scharfen Auge wahrnehmbar.

Er kam herunter und sagte: »Dort hinten wohnen Leute, ich will Sie dahin bringen; wir finden da ein Reittier, und, wenn es sein muß, auch ein Nachtlager.«

»Mille gracias, Señor, mir ist alles recht.«

»Also gut. Es ist Mittag vorüber, die Sonne steht nicht mehr lange am Himmel.« Alonzo rief seinen Cesar, der gehorsam wie ein Hund herankam, stieg in den Sattel und sagte: »Geben Sie mir die Hand, setzen Sie Ihren Fuß auf den meinen.« Der Fremde gehorchte und saß im Augenblick, von Alonzos Arm gehalten, vor diesem auf dem Pferd. Alonzo ließ das Tier, das sich die ungewöhnliche Belastung nach einigem Stutzen ruhig gefallen ließ, angehen, doch zeigte es sich bald, daß der aller Strapazen ungewöhnte Körper des Fremden unter der Bewegung und dem unbequemen Sitz heftig litt, so sehr er auch seine Schmerzen zu verbergen suchte. Sie mußten wiederholt halten.

So kam es, daß Cesar mit seiner doppelten Last erst kurz vor Sonnenuntergang vor der einfachen, von einigen Bäumen umstandenen Behausung eines Llaneros anlangte. Erschöpft stiegen beide ab, denn auch Alonzo hatte, besonders in der zweiten Hälfte des Weges, seine ganze Kraft aufbieten müssen, um den erschöpften Verirrten vor sich auf dem Sattel zu halten.

Aus dem Hause heraus kam ihnen eine ältere Frau entgegen und begrüßte sie freundlich; mit Erstaunen sah sie, daß zwei Reiter auf einem Pferde saßen. Während sein halb geräderter Gefährte willenlos auf eine Bank sank, sagte Alonzo: »Ja, Madrecilla, wundere dich nur, die Mula meines Freundes hat der Sturm fortgetragen; wir mußten uns mit einem Pferderücken begnügen.«

»Geht auch«, sagte die Frau, »ich sitze oft genug hinter meinem Mann, wenn wir die Nachbarn besuchen. Aber sattelt Euer Tier ab, Señor, und macht es Euch bequem! Pferdefutter findet Ihr dort. Mein Mann ist den Rindern nachgeritten, aber deshalb soll es Euch doch an nichts fehlen.«

»Gib, was du hast, Mutter, wir sind dankbar für alles.« Alonzo sorgte für das Pferd und setzte sich dann neben seinen Gefährten. Die Frau brachte gleich darauf frischen Kaffee, Eier, Maisbrot und kalten Braten. Das stellte die Lebensgeister der jungen Männer bald wieder her; auch der Naturalista erholte sich zusehends. Die Sonne sank, ein leichter Abendwind kam auf, erquickend und wohltuend nach dem heißen Tag. Die beiden Gefährten saßen noch ein Weilchen im Freien und gingen dann in das Haus. Sie betraten das durch eine kleine Lampe freundlich erhellte Gemach und ließen sich dort nieder.

Alonzo betrachtete den Verirrten sehr aufmerksam; sein kluges, offenes Gesicht gefiel ihm ungemein, überhaupt hatte er einen ausgezeichneten Eindruck von dem Fremden, so sonderbar dessen Tun ihm auch vorkam. »Also Schmetterlinge und Käfer haben Euch in die Llanos gelockt?« fragte er mit einem scherzhaft spöttischen Lächeln.

»Nicht sie allein«, antwortete der andere ernsthaft. »Es fehlt unserem Vaterland, das die unterschiedlichsten Klimata vereinigt, von der Terra caliente bis zur Terra fria noch an einer genauen Kenntnis seiner Tier- und Pflanzenwelt. Das ist nicht nur eine Frage der Wissenschaft, Señor; die Kenntnis dieser Dinge ist auch von praktischem Wert. Außerdem hoffe ich, daß Ihr von der Wissenschaft nicht gering denkt.«

»Im Gegenteil, Señor, obgleich, oder vielleicht, weil ich ziemlich ungelehrt bin, nur – das möchte ich Euch ganz offen sagen – ich verstehe nicht recht, daß dergleichen Forschungen einen Mann zu befriedigen vermögen.«

»Oh, es ist wunderbar, der Natur ein wenig hinter den Schleier zu sehen«, sagte der andere. »Die Beschäftigung mit diesen Dingen kann ein ganzes Leben ausfüllen.«

»Ich will es Euch ohne weiteres glauben, Señor.« In Alonzos Augen erschien ein unruhiges Leuchten. »Obgleich mein Ideal ein wenig anders aussieht«, setzte er hinzu.

Der Fremde lächelte. »Freilich«, sagte er. »Man muß Euch ja nur ansehen. Übrigens, wollt Ihr mir nicht verraten, wem ich eigentlich mein Leben verdanke?«

Der Befragte zögerte ein wenig, dann sagte er: »Man nennt mich Alonzo Vivanda. Ich wohne an einem Nebenfluß des Meta.«

»Ich heiße Eugenio de Valla«, sagte der Fremde.

Das traf wie ein Schlag; unwillkürlich zuckte Alonzo zurück, doch hatte er sich sofort in der Gewalt. De Valla! dachte er, de Valla! Dieser harmlose, liebenswürdige junge Mann als Träger des dunkel gehaßten Namens? Es war wie eine Enttäuschung. Und wie ein neues unlösbares Rätsel.

»De Valla?« Alonzo dehnte den Namen, indem er ihn aussprach. »Ihr seid der Sohn des Ministers?«

»Ja, amigo mio, Carlos de Valla ist mein Vater.«

Der andere schwieg. Nach einem Weilchen fühlte er sich von einem fragenden Blick getroffen.

»Ihr staunt, Señor«, sagte Eugenio, »daß mein Vater, der so große Verdienste als Staatsmann erwarb, mir gestattet, bescheiden der Wissenschaft zu leben? Mein Vater liebt mich, Señor, und er weiß, was zu mir gehört. Er ist der beste Mann unter der Sonne; auch Ihr werdet ihn lieben, wenn Ihr ihn erst kennt.«

Alonzo äußerte sich nicht; er sah starr vor sich hin. Bald erhob er sich. »Es ist spät geworden, Señor«, sagte er, »wir müssen schlafen. Ein anstrengender Tag wartet auf uns. Wo hofft Ihr, Eure Freunde zu treffen?«

»Vermutlich in Villavacencia am Rio Negro. Dort wollten wir halt machen.«

»Das könnt Ihr von hier aus ohne große Mühe erreichen.«

Während er noch sprach, trat der Llanero ein und sah überrascht auf die Fremden. »Oh, Don Alonzo« – er erkannte den jungen Señor Vivanda – »welche Freude, Euch bei mir zu sehen«, sagte er. Alonzo begrüßte ihn und erklärte ihm die Zusammenhänge, sprach auch die Hoffnung aus, daß er Señor de Valla nach Villavacencia führen könne. Der Llanero bejahte das bereitwillig.

Auf Alonzos Bitten wies die Señora den beiden jungen Männern ihre Schlafstätten an, und sich eine gute Nacht wünschend, trennten sie sich.

Alonzo ging noch einmal hinaus, um nach seinem Pferd zu sehen. Dabei sagte er zu dem Llanero: »Ich will abreiten, ehe die Sonne aufgeht und den jungen Herrn nicht im Schlaf stören. Sage ihm, ich ließe ihn grüßen. Pflege ihn gut und bringe ihn, sobald er im Sattel sitzen kann, sicher zu den Seinen. Ich werde dir dankbar sein, amigo.«

»Verlaß dich auf mich, Don Alonzo.«

Der Jüngling suchte die eigene Lagerstätte auf. Düstere Bilder standen vor seiner Seele. »Schade!« sagte er, und sah Eugenio de Vallas gutes offenes Gesicht vor sich, »schade!«

Noch ehe sich die Sonne im Osten erhob, galoppierte er bereits in die Weite der Llanos hinein.


 << zurück weiter >>