Franz Treller
Der Gefangene der Aimaràs
Franz Treller

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Die Flucht

Ein klarer Quell rann durch das Tal und suchte seinen Abfluß durch die Felshöhlungen; er murmelte unentwegt sein eintöniges Lied. Der Wind rauschte leise über die Felsen hin, und die Sonne schien warm vom unbedeckten Himmel in das stille Tal, das die Flüchtlinge barg. – Nach Stunden erst hob der Junge das Haupt, blickte sich prüfend um und erhob sich dann. Sein Blick fiel auf seine noch friedlich schlafenden Begleiter, er haftete auf dem klaren und reinen Gesicht des jungen Spaniers. Techpo nahm die Büchse auf und schickte sich an, an einer bestimmten, ihm wohlbekannten Stelle die Felswand zu erklettern. Oben kauerte er sich zwischen den Gräsern nieder und blickte auf die am Fuße des Felsens dahinführende Straße hinab, die auf viele Meilen hin den einzigen Zugang zum Tal der Aimaràs bildete. Er sah weit und breit nichts Lebendiges.

Er ging zurück und betrat nun den nach der Straße führenden Weg, den er am Abend zuvor eingeschlagen hatte. Vorsichtig bewegte er sich und bückte sich, um auf dem Boden nach Spuren zu forschen. Weder Mensch noch Tier hatten den Weg seit gestern betreten.

Da – Hufschlag ertönte; er kam vom Dorf her. Die Felsen mußten ihn dem Herannahenden verborgen haben. Schnell erkletterte er den Fels und barg sich hinter den Büschen, machte die Büchse schußfertig und legte sie neben sich. Dann ergriff er einen Stein von der Größe einer starken Männerfaust. Er wußte: der dort geritten kam, war ein an die Wächter ausgesandter Bote; er durfte sein Ziel nicht erreichen, wenn nicht alles verloren sein sollte.

Er lauschte aufmerksam und hörte: es war nur ein Pferd.

In scharfer Gangart näherte sich unten der Reiter; Techpo sah ihn nun und erkannte ihn. Es war einer der ältesten Bewohner des Tales, ein Mensch von finsterer, grausamer Gemütsart. Auf kaum zehn Schritt jagte der Mann an ihm vorbei. Der Junge hob den Arm und schleuderte den Stein. Am Hinterkopf getroffen, sank der Mann lautlos vornüber und glitt schwerfällig aus dem Sattel.

Im Augenblick war Techpo auf den Beinen. Behende wie eine Katze sprang er in den Hohlweg, die blitzende Machete in der Faust. Vom Kopf des gestürzten Mannes rieselte Blut.

Techpo lauschte, bewegungslos verharrend, auf ein Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins. Er lauschte vergebens. Der Mann war tot. Einen Augenblick dachte Techpo daran, dem Toten Büchse und Kugelbeutel zu nehmen, doch unterließ er es dann. Es war besser, sie glaubten, ein herabstürzender Stein habe ihn erschlagen.

Das Pferd des Indianers war in einiger Entfernung stehen geblieben. Techpo, dem das Tier bekannt war, lockte es mit Schmeichelworten zu sich heran. Vorsichtig tilgte er alsdann seine Fußspuren, schwang sich in den Sattel und ritt langsam weiter. In die nächste Schlucht zu seiner Rechten bog er ein. Als er auf Felsboden gelangt war, stieg er ab und leitete das Tier über rauhe Pfade zu der Höhle und durch diese in das Tal, in dem er die anderen zurückgelassen hatte.

Er fand die Gefährten bereits erwacht. Verwundert blickten sie auf das indianisch aufgezäumte Pferd. Techpo erklärte ihnen, wie er in dessen Besitz gelangt sei. Die Lauschenden staunten über die stoische Ruhe, mit der er den aufregenden Vorfall wiedergab.

»Die Botschaft an die Wächter ist zunächst verhindert«, sagte Techpo. »Hoffentlich gelingt es, ihre Augen blind zu machen, denn sie behüten den einzigen Pfad, der nach Osten hin einem Pferd den Durchgang erlaubt.« Mit Hilfe von Stahl, Stein und trockenem Reisig entzündete er ein Feuer und bereitete aus Vorräten, die er für seine längst geplante Flucht in der Höhle aufgespeichert hatte, das Frühstück. Es mundete den nun gut ausgeruhten Flüchtlingen vortrefflich. Der junge Spanier, dem der düstere Ernst des über seine Jahre kräftigen Jungen aufgefallen war, fragte ihn während des Essens nach seinem Namen.

Techpo zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Nennt mich Alonzo, so wurde ich früher von den Meinen genannt.«

»Weilst du schon lange unter den Wilden?«

»Sehr lange wohl schon«, antwortete der Junge, »ich weiß die Zahl der Jahre nicht.«

»Doch du bist noch jung.«

»Ja, ich glaube.«

»Und wie bist du unter die Indios gekommen? Wurdest du geraubt?«

Die schon unbewegten Züge des Jünglings verhärteten sich. »Sie haben die Meinen erschlagen und mich fortgeführt«, sagte er.

»Erschlagen!« Den Spanier schauderte es; er dachte an das ihm zugedachte Schicksal.

»Ja«, sagte Alonzo, den auch wir nun nicht mehr bei seinem indianischen Namen nennen wollen, »erschlagen! Vater, Mutter, die Geschwister – alle!«

Die steinerne Ruhe, mit der das gesagt wurde, erschütterte Don Fernando noch mehr als der grausige Inhalt der Mitteilung. Sie verschlug ihm für eine Weile die Sprache. Schließlich fragte er:

»Aber du hast noch Angehörige, die sich nach dir sehnen?«

Alonzo zuckte die Achseln: »Ich weiß es nicht. Ich sehne mich nur fort von diesen – Menschen.« Ruckartig veränderte sich der Ausdruck seines Gesichtes. »Aber sie sollen es büßen«, knirschte er; »ich bin stark und werde stärker. Die Eltern haben sie getötet, meine Seele haben sie in den langen Jahren gemordet, daß ich nicht mehr denken, kaum noch beten kann; sie sollen es büßen!«

Er schüttelte die Faust in der Richtung des Dorfes, und dieser Ausbruch jähen Zornes war um so überraschender, als er in schroffem Gegensatz zu der stoischen Ruhe stand, die der Junge sonst ebenso wie die Eingeborenen zur Schau zu tragen pflegte. Es währte aber nicht lange, da hatten seine Züge wieder ihren gewöhnlichen Ausdruck gelassener Ruhe. »Es ist alles gut«, sagte er, »es hätte schlimmer werden können.«

»Du wirst mit mir kommen, Alonzo«, sagte der Spanier; »das Haus meines Vaters wird fortan deine Heimat sein. Mein Vater ist reich und mächtig.«

»Wir sind noch nicht sicher«, bemerkte Alonzo nüchtern. »Der Weg ist lang durch die Berge zur Ebene hinab, und die Aimaràs sind flink in der Verfolgung.«

Aber der junge Spanier war in seiner wiedergewonnenen Sicherheit nun nicht mehr zu erschüttern. »Ich bin durch deine Hilfe diesen unheimlichen Priestern entkommen«, sagte er; »was noch vor uns liegt, werden wir auch noch meistern. Übrigens, glaubst du, daß sie wirklich die Absicht hatten, mich ihren Götzen zu opfern?«

»Daran ist gar kein Zweifel«, versetzte Alonzo.

»Und warum ließen sie dich am Leben?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht warteten sie, daß ich zum Mann erwachsen möchte.«

»Nun, lebendig bekommen sie mich ein zweites Mal nicht.« Des Spaniers Antlitz zeigte feste Entschlossenheit. »Holen sie uns ein, dann werden wir bis zum letzten Augenblick kämpfen.«

»Ja«, bekräftigte der Mestize, »auch ich will lieber im Kampf fallen, als mich auf den Opferstein schleppen zu lassen.«

»Das Wichtigste ist, daß wir den richtigen Weg finden«, sagte Alonzo, »ich kenne ihn nur eine Strecke weit.«

»Wir werden ihn weiter verfolgen«, versetzte der Mischling. »Weiter unten kenne ich die Berge und die Schluchten; ich bin ein Montanero.«

»Aber du stammst aus den Llanos?« fragte Alonzo den Spanier.

Der schüttelte leicht den Kopf. »Nicht ganz. Ich entstamme dem Norden des Staates. Da, wo die Ostkordilleren sich erheben, bin ich zu Hause. Aber ich habe einen Teil meines Lebens in den Llanos zugebracht.«

»Wie bist du in diese Berge gekommen?«

»Das Jagdfieber hat mich hinaufgetrieben«, lachte Don Fernando.

»Warst du allein?«

»Nein, ich hatte drei Begleiter bei mir, Indios aus den Vorbergen, die ich dort gemietet hatte. In einem Tal wurden wir von den Wilden überrascht. Meine Begleiter entflohen und ließen mich in der Hand der Räuber zurück.«

»Sie werden nicht weit gelangt sein«, sagte Alonzo ernst. »Die Aimaràs lassen keinen entkommen, der es verraten könnte, daß sie einen Weißen in die Berge geschleppt haben.«

»Oh«, fragte erschrocken der Spanier, »du meinst, sie hätten sie getötet?«

»Ich zweifle nicht daran.«

»Die Bluthunde!« In Fernando kam wieder die Wut hoch. »Man sollte sie vom Erdboden vertilgen«, knirschte er.

Es fiel bei dieser Unterredung sowohl dem Spanier als dem Mestizen auf, daß ihr Retter nur mühsam das Spanische beherrschte, nach Ausdrücken suchte und oft unvermittelt in die Aimaràsprache überging, anscheinend ohne es selbst zu merken. Sie erklärten sich das aus seiner langen Gefangenschaft, sahen es aber gleichzeitig als ein beklagenswertes Zeichen für den Einfluß an, den die Umgebung des Jungen auf seine Seele ausgeübt hatte. Auch das tiefe Wohlgefallen, mit dem er den spanischen Lauten lauschte, entging ihnen nicht.

»Wie denkst du nun der Falle zu entschlüpfen, die uns erwartet?« fragte Don Fernando.

»Wir müssen die Nacht abwarten und dann weitersehen. Der Weg, der am Wächterhaus vorbeiführt, ist eng und gefährlich, wenn die Krieger dort wachsam sind.«

»Ich vertraue mich ganz deiner Führung an, amigo mio«, sagte der Spanier. »Ist das Wächterhaus nicht zu umgehen?«

»Für Menschen vielleicht, obgleich es gefährlich ist, keinesfalls aber für Tierhufe, und zu Fuß kommen wir nicht weit, wenn wir die Aimaràs auf den Fersen haben.«

»Mithin befinden wir uns immer noch in einer schlimmen Lage?«

Alonzo zuckte die Achseln. »Sicher. Aber wir sind drei entschlossene Burschen. Im Notfall müssen wir uns den Durchbruch erzwingen. Die Aimaràs werden sich euere Flucht schwer enträtseln können. Ihr Aberglaube kommt uns zustatten. Zweifellos schreiben sie euer Entkommen bösen Geistern zu, weiß doch niemand, daß ich den unterirdischen Gang zu den Priesterhäusern kenne, auch glauben sie mich auf der Jagd.«

Don Fernando drückte dem Jungen die Hand. »Du bist klug und tapfer, mein Freund«, sagte er. »Ordne an, was du für richtig hältst. Kommt es zum Kampf, wirst du sehen, daß ich meinen Mann stelle.«

Alonzo nickte. »Es ist gut. Haltet euch jetzt still hier und erklettert in keinem Falle die Felsen; man könnte euch sehen. Ich will den Weg beobachten und die Berge durchforschen.«

Die Befreiten mahnten ihn zu äußerster Vorsicht, waren sie sich doch klar darüber, ohne diesen erfahrenen und bergkundigen Führer alle verloren zu sein; dann entfernte sich Alonzo auf dem Weg durch die Höhle.

»Ein kühner Junge!« sagte Fernando anerkennend. Der Mestize nickte zustimmend. »Er ist weit über seine Jahre besonnen und tapfer«, erwiderte er, »und doch wird es Zeit für ihn, daß er wieder unter seinesgleichen kommt, ehe er ganz zum Wilden wird.«

»Du magst recht haben, Antonio«, stimmte der Spanier zu, »er hat zuweilen ganz das Gebaren eines Indios; trotzdem ist er ein Weißer. Welcher Familie er wohl entstammen mag?«

»Er wird es in diesem schrecklichen Dasein unter Wilden vergessen haben«, versetzte der Mestize; »mich sollte es nicht wundern. Ohnehin ist es erstaunlich, daß er unter solchen Umständen die geistige Klarheit bewahren konnte; manch einer wäre sicher verrückt geworden.«

»Sollten wir glücklich in die Heimat zurückkehren, werde ich ihm vergelten, was er an uns getan hat. Ich werde ihn auch wieder zum Spanier machen«, sagte Don Fernando. »Hast du übrigens gewußt, daß in diesen Bergen solch verwegene Räuber hausen? Du bist doch ein Montanero.«

Der Mestize schüttelte den Kopf. »Ich habe wohl gewußt, daß die Indios hier oben zuweilen Raubzüge unternehmen, um sich mit Vieh, mit Maultieren und Waffen zu versorgen; daß sie auch Menschen fangen und fortschleppen, wußte ich nicht.«

»Nun, wir haben dafür einen sehr nachdrücklichen Beweis«, knurrte der Spanier. »Zweifellos wären auch wir spurlos im Gebirge verschwunden wie die anderen Unglücklichen, die in ihre Hände fielen. Man schaudert, wenn man daran denkt. Ich begreife nicht, weshalb diese Räuberhöhlen geduldet werden, warum die Regierung sie nicht zerstört und die Wilden dem Gesetz unterwirft.«

»Ich denke, wir trachten zunächst einmal, aus diesen Felsenwällen herauszukommen«, entgegnete trocken der Mestize, »die Sache hat zweifellos ihre Schwierigkeit; ich habe mir die Felsenpässe betrachtet, als ich hier heraufgeschleppt wurde.«

»Wir werden es schon schaffen.« Der junge Spanier hatte seine innere Sicherheit und Gelassenheit völlig zurückgewonnen und sprach nun mit ruhiger Überlegenheit auf seinen Gefährten ein.

Alonzo war indessen, über schier ungangbares Felsgeröll kletternd, zu dem Pfad zurückgekehrt, der nach Osten zur Grenze des Tales hinführte. Er erreichte schließlich einen Punkt, von dem aus er die roh aus Steinen gefügte Behausung der Wächter überblicken konnte. Emporquellender Rauch zeigte an, daß drinnen gekocht wurde, und die nachlässig am Boden hingestreckte Gestalt eines Aimaràs zeigte an, daß den Grenzwächtern bisher keine beunruhigenden Nachrichten zugegangen waren. Ihre Aufmerksamkeit wurde ja auch nur selten auf die Probe gestellt.

Nachdem Alonzo sich überzeugt hatte, daß kein weiterer Bote zu ihnen gelangt war, kletterte er vorsichtig zurück und erreichte nach einiger Zeit die Stelle, wo er den Stein nach dem Aimarà geschleudert hatte. Der Tote lag noch unberührt am Boden.

Während Alonzo sinnend auf den Leichnam niederblickte, vernahm er Hufschläge, die sich aus der Richtung des Dorfes näherten. Er umwickelte sich den Kopf mit Grasbüscheln, legte sich platt auf den Boden, nahm die Büchse zur Hand und lauschte. Die Hufschläge kamen näher und verstummten schließlich. Die Reiter hatten den Leichnam erblickt und hatten angehalten.

Mit äußerster Vorsicht schob Alonzo den Kopf etwas vor; er erblickte den Kaziken Tucumaxtli und zwei andere Aimaràs, die stumm inmitten des Weges hielten.

Dann stieg einer der Männer ab und untersuchte den Toten. Die Waffen des Mannes waren da, und als Verletzung zeigte sich nur die von dem Steinwurf herrührende Wunde am Hinterkopf. Verdächtige Spuren wies der Boden nicht auf. »Ein Stein hat ihn getötet«, sagte der Mann. Auch Tucumaxtli verließ nun den Sattel; seine sorgfältige Untersuchung bestätigte die Wahrnehmung seines Kriegers.

»Nun wissen wir, warum Chiacam nicht zurückkam«, sagte der Häuptling, »der Berg hat ihn erschlagen.«

Mit abergläubischer Scheu starrten die drei Indios auf die Wunde, die den Tod ihres Stammesgenossen herbeigeführt hatte, dann blickten sie zu den drohenden Felsen hinauf.

»Aber wo ist Chiacams Pferd?« fragte der Kazike.

»Es wird zu den Wächtern gelaufen sein.«

»Nein. Dann hätten sie den Boten gesucht und gefunden.«

»So wird es zu einem Weideplatz zurückgekehrt sein.«

»Wir forschen hier vergebens nach den Flüchtlingen«, sagte der Häuptling, »sie werden nach Norden zu entwichen sein.«

Einer der Männer schüttelte den Kopf. »Sie können nicht entwichen sein, sie sind in den Felsen.«

»Hast du vergessen, daß Chibchas zwischen unseren Häusern waren?« sagte der andere Krieger.

»Was soll das?« Der Kazike schnaufte verächtlich. »Torheit«, sagte er. »Die Furcht hat Feiglinge den Schlachtruf der Chibchas hören lassen. Kennen die Chibchas die geheimen Wege der Priester?«

»Ein böser Geist hat den Aimaràs die Opfer entrissen, wir werden sie nicht finden«, äußerte der erste der Krieger. »Suchten wir sie, würden wir uns seinen Zorn zuziehen, wie Chiacam, den der Berg erschlug.«

Die Indios schwiegen scheu. Nach einer Weile sagte Tucumaxtli: »Wir müssen jedenfalls die Wächter benachrichtigen, dann wollen wir Chiacam die Totenlieder singen.«

Ein Windstoß erschütterte die Luft, und unweit der Indios in Richtung nach dem Wächterhaus zu, sauste ein Stein in die Tiefe. Die unzweifelhaft mutigen Männer, deren abergläubische Furcht durch die geheimnisvolle Flucht der Gefangenen und durch den Tod des Boten stärker als je erregt war, fuhren merkbar zusammen.

»Zu den Wächtern«, sagte der Kazike entschlossen, »dann kehren wir um; die Unsichtbaren werden uns schützen.«

Er ritt voran, und seine Krieger folgten ihm. Alonzo, der ihnen von oben herab nachsah, war sich klar darüber, was es für ihn und seine Gefährten bedeutete, wenn die Wächter benachrichtigt wurden. Dennoch sah er keine Möglichkeit, es zu hindern. Er wartete geduldig, und tatsächlich währte es nicht lange, bis die Reiter zurückkamen. Sie hoben nun den Leichnam des Erschlagenen auf, einer der Krieger nahm ihn vor sich auf sein Pferd, dann ritten sie weiter.

Alonzo wußte: Kam ihm und seinen Freunden jetzt nicht ein günstiges Geschick zu Hilfe, war ein Entrinnen mit Pferden und Maultieren nicht mehr möglich; es blieb dann nur noch die Flucht über die Felsen, die unendlich schwierig war und wenig Aussicht auf endgültige Rettung bot.

Der Junge zweifelte nicht, daß die Aimaràs bald Streifscharen ringsum in die Berge senden würden, wenn das nicht überhaupt schon geschehen war. Zunächst freilich befand er sich mit seinen Gefährten in vollkommener Sicherheit; es war in jedem Fall gut, die Nacht abzuwarten. Denn nur die Dunkelheit konnte noch helfen. Er kehrte in das Tal zurück und gesellte sich mit unbewegter Miene zu den anderen.

»Schlaft«, antwortete er auf ihre Fragen, »wir werden vielleicht in der Nacht wach sein müssen.«

Er ließ sich selbst zum Schlafe nieder, suchte aber, noch ehe der Tag zur Neige ging, den Weg wieder auf. An den Spuren auf dem Boden erkannte er jetzt deutlich genug, daß eine Reiterschar dem Ausgang zugeritten war; seine Vermutung war also eingetroffen. Die Verfolger waren auf dem Weg, der in die Llanos führte. Das war schlimm genug.

Er kehrte zurück und ließ die Tiere satteln; sie packten soviel Mundvorrat auf, wie sie unterbringen konnten. Dann erst teilte er den Gefährten mit, daß sich die Aimaràs bereits jenseits des Tales befänden.

Beide erschraken zutiefst, aber Alonzos kaltblütige Ruhe beschämte sie. »Die Krieger sind weniger gefährlich als das Wächterhaus«, sagte der Junge. »Sie fürchten die Nacht, in deren Schatten sie böse Geister vermuten; zweifellos haben sie einen Schlupfwinkel aufgesucht.«

Als die Nacht hereingebrochen war, nahm er das Pferd des erschlagenen Indios am Zügel und hieß Fernando und Antonio mit den Maultieren folgen. Trotz der tiefen Dunkelheit passierten sie glücklich die Höhle und erreichten die Schlucht, die nach dem Weg führte. »Wir wollen hier warten«, sagte er, »wir müssen auf alles gefaßt und zu allem bereit sein. Die Nacht wird dunkel, kein Stern steht am Himmel.«

Schweigend verharrten sie eine geraume Zeit im Schatten der Felsen. Antonio schlich mehrmals zur Straße hinüber und lauschte – kein Laut war zu vernehmen. Als er zum dritten Male zurückkehrte, sagte er leise: »Das Schicksal ist uns günstig gesinnt, der Sturm kommt von Norden; er ist furchtbar hier zwischen den Felsen.« Er hatte das kaum ausgesprochen, da ließ sich ein Sausen hören, das geradewegs vom Himmel zu kommen schien.

»Ah, er kommt schon, unser nördlicher Freund«, sagte er, »wartet nur, er wird sich noch ganz anders vernehmen lassen. Er wird die Wolken wie ein Jaguar die Bergschafe hetzen.« Das Sausen verwandelte sich in ein dumpfes Heulen, und selbst in ihrer geschützten Stellung spürten sie den harten Anprall der Luft. Große Tropfen begann zu fallen.

»Großartig!« rief Antonio. »Auch der Regengott ist mit uns im Bund; die Roten können seine Tränen nicht vertragen. Wir wollen es wagen. Freunde! Haltet die Machete bereit!« »Ja, auf in den Sattel«, – Alonzo schwang sich als erster hinein, »überlaßt euch den Tieren und folgt mir. Die Büchsen nur im äußersten Notfall gebrauchen.«

Alle drei waren aufgestiegen, Alonzo, sein unruhiges Tier mit indianischen Schmeichelworten beruhigend, ritt voran. Als sie in den Felsenweg einbogen, spürten sie erst die ganze furchtbare Gewalt des Sturmes. Von den mit ewigem Eis bedeckten Höhen der Bergriesen herab brach er mit elementarer Gewalt über die Felsen und Berge, durch Schluchten und Wälder hernieder, dunkle Wolken vor sich herjagend und ganze Schauer kalter Regenstürme niedersendend. Ein Heulen, Pfeifen und Zischen war ringsum vernehmbar, das sinnbetäubend wirkte. Die Erde selbst schien zu beben.

Fernando, der Spanier, und Antonio, der Mestize, zitterten vor der unheimlichen Macht der zu wildem Grimm entfesselten Naturgewalten, deren Toben um so schrecklicher war, als vollkommene Finsternis sie umgab.

»Es ist gut so«, drang die Stimme Alonzos an ihre Ohren.

Halb bewußtlos trieben die Reiter ihre Tiere an; die gehorchten fast betäubt von der Wucht des Sturmes und des schauerlich prasselnden Regens. Der Sturm entwickelte sich zum Orkan, bald entlockte er dem Felsgestein hellklingende Laute; es war ein Konzert von grausiger Majestät. In wenigen Augenblicken waren die Reiter bis auf die Haut durchnäßt, und doch fühlten sie es kaum in den Schrecken der Stunde.

Der ansteigende Weg wurde enger und enger; je mehr die Felswände zu beiden Seiten näher zusammentraten, um so mehr zischte es über ihnen, hinter ihnen, rings um sie her.

Den Gefährten Alonzos, denen die Stürme des Hochgebirges fremd waren, schien es, als ob die Welt zugrunde ginge; sie begannen Gebete zu murmeln. Aber gehorsam, dem Aufruhr der Naturgewalten trotzend, gingen die angstvoll schnaubenden Tiere ihren Weg weiter.

Jetzt nahte die gefährliche Stelle. Alonzo verhielt sein Pferd, und in düsterer Entschlossenheit faßten die Reiter die Waffen fester.

Was aber war der Zorn der Menschen gegen den Grimm der Natur? Als wolle er jahrtausendalte Felsen entwurzeln, raste der Sturm durch die Nacht. Ein dumpfes Krachen und Poltern war vernehmbar; Felsstücke mußten herabgestürzt sein.

Dunkel und stumm lag das Wächterhaus da, vom Nordsturm umtost, mit Regenströmen übergossen; schattenhaft vermochte Alonzo seine Umrisse zu erkennen. Waren die Wächter auf dem Posten, dann genügte es, einige der zu solchen Zwecken bereitliegenden Felsbrocken zu lösen und herabzuschleudern; dann war der Ausgang versperrt, und die Büchsen der Lauernden machten ihrem Leben ein schnelles Ende, oder lieferten sie, was noch schlimmer wäre, in die Hand ihrer blutdürstigen Feinde zurück.

Einen Augenblick bebte auch der junge Alonzo. Doch das Wächterhaus lag in steinerner Ruhe. Die entfesselten Naturgewalten hielten die Wilden in Bann, sie füllten ihre Seelen mit abergläubischen Schauern. »Vorwärts!«, befahl Alonzo und biß vor Erregung die Zähne zusammen.

Und eingehüllt in den Mantel der Nacht, beschützt vom Grauen der mitternächtigen Stunde, legten die Reiter die gefährliche Wegstrecke zurück.

Das Wächterhaus lag hinter ihnen. Alonzo rief seinen Begleitern zu, daß die größte Gefahr überstanden sei. Neue Hoffnung erfüllte die Herzen. Der Weg senkte sich und wurde breiter. Sicher schritten die des Weges gewohnten Pferde weiter. Da sie um eine Felsnase bogen, begann die Wucht des Orkans nachzulassen, auch der Regen wurde schwächer.

Alonzo lenkte in eine Schlucht zur Rechten ein, wo sie unter dem Schutze eines überragenden Felsens verhielten. Hier waren sie der Gewalt des Sturmes entzogen und den Regenstürmen weniger ausgesetzt. »Wir müssen hier warten«, sagte der Junge, »unser Weg wird von einem Bach gekreuzt, und der ist jetzt nicht passierbar, seine Wasser müssen erst ablaufen.«

Sie hatten Büsche und einige Bäume vor sich. Der Aufforderung Alonzos folgend, stiegen sie ab, banden die Tiere an und suchten unter der Führung des Jungen eine enge, bedeckte Felsspalte auf, wo sie sich, eng aneinandergedrängt, fröstelnd niederkauerten.

Und immer noch tobte draußen der Sturm, doch schien seine grimmigste Wut mittlerweile gebrochen. Lange hockten sie so; schwächer und schwächer wurde das Tosen, der Regen hatte längst aufgehört, und schon flirrten hier und da einige Sterne am samtschwarzen Himmel.

»Zu Pferde«, rief Alonzo, »wir müssen versuchen, über den Bach zu kommen.«

Es war kühl geworden. Don Fernando, an wärmere Temperaturen gewöhnt, zitterte vor Frost. Antonio, als Bewohner der Vorberge, ertrug die Kälte leichter. Der Junge in seiner dünnen Gewandung schien unempfindlich zu sein.

Die Büchsen waren schußbereit, die Schlösser dank der Vorsicht, mit der man sie vor Nässe geschützt hatte, trocken geblieben.

Alonzo ritt voran und forderte die anderen auf, etwa hundert Schritt hinter ihm zu bleiben. Am Rande eines in steinigem Bett dahinströmenden Baches hielt er an; das Gebirgswasser war seicht. Er winkte die anderen heran, gab Fernando die Zügel seines Pferdes und sagte: »Wartet hier, ich will Ausschau halten.« Damit durchschritt er das Wasser und verschwand um eine Felsbiegung.

Nach einiger Zeit kehrte er zurück. »Der Weg ist frei, soweit ich sehen kann«, sagte er. Vorsichtig leiteten sie die Tiere durch den mit allerlei Geröll gefüllten Bach, stiegen wieder auf und ritten weiter, Alonzo mit immer gleicher Vorsicht weit voran.

Ringsumher herrschte das tiefe Schweigen des Hochgebirges. Die Sonne war über den Berggipfeln erschienen und sandte ihre wärmenden Strahlen auf die Flüchtlinge herab. Wohl eine Stunde lang ritten sie dahin. Neue Lebenskraft durchströmte die Adern der Männer, die eine so grauenvolle Sturmnacht hinter sich hatten.

Vor ihnen schien der Weg eine Biegung zu machen. Alonzo ließ die Gefährten halten, gab den Zügel seines Pferdes an den Spanier ab und ging voraus, um Umschau zu halten. Bald schon kam er zurück. »Sie sind vor uns am Weg«, sagte er. »Sie haben ein Feuer entzündet und lagern.« Es war, als spreche er von irgendeiner gleichgültigen und belanglosen Sache.

Fernando und Antonio erschraken in der Tiefe ihrer Seele; der entscheidende Augenblick war also da. Doch überwanden sie den Schrecken sehr schnell, und ihre mehrfach geäußerte Entschlossenheit, sich jeder etwaigen neuen Gefahr kämpfend zu stellen, kehrte zurück. »Wir werden tun, was wir können«, sagte Fernando. »Lebend bekommen sie mich nicht«, preßte er zwischen den vor Erregung geschlossenen Lippen hervor. »Aber du«, wandte er sich gleich darauf an Alonzo, »warum willst du unser Schicksal teilen? Du hast wahrlich genug für uns getan. Geh, rette dich.«

Alonzo streifte ihn mit einem kurzen Blick. »Wir kämpfen und sterben zusammen, wenn es sein muß«, sagte er ruhig.

»Kommen wir davon, wahrhaftig, ich will es dir vergelten«, rief Fernando, und nur Alonzos hart verschlossenes Gesicht hinderte ihn, den Jungen zu umarmen. »Aber was tun wir nun?« fragte er, seine Erregung gewaltsam niederzwingend, »sollen wir über sie herfallen? Überraschung ist schon der halbe Sieg.«

Alonzo schüttelte den Kopf. »Es wäre vergeblich«, sagte er ernst. »Wir können einige töten, die anderen legen sich in den Hinterhalt, erwarten uns und schießen uns ab wie Rehe. Ich will dir sagen, was wir tun müssen. Während ihr hier wartet, klettere ich drüben in die Felsen und zeige mich den Aimaràs; ich bin gewiß, sie werden mir folgen. Diesen Augenblick benutzt ihr und jagt auf dem Weg, der dort durch das Wiesental führt, an ihnen vorbei. Bald seid ihr wieder von Felsen umgeben; der Weg ist eng, dort könnt ihr euch wehren, wenn sie euch folgen. Wartet auf mich; an der Stelle, wo der Weg wieder in ein grünes Tal mündet, das ein Bach durchfließt, stoße ich zu euch. Ich gehe über die Berge.«

»Das heißt, dein Leben leichtfertig aufs Spiel setzen«, sagte Fernando.

»Nein«, sagte der Junge. »Ich klettere so gut wie ein Bergschaf, die Indios nehmen es nicht mit mir auf – für mich ist keine Gefahr. Folgen sie mir aber nicht alle, dann müßt ihr hervorbrechen und euch durchschlagen. Nur mein Pferd dürft ihr nicht zurücklassen.«

Der Plan war verwegen, aber ausführbar; größer konnte die Gefahr dadurch nicht werden. Und obgleich Fernando und Antonio sich klar darüber waren, daß Alonzo sich ihretwegen von neuem in Gefahr begab, sahen sie doch keinen anderen Ausweg und fügten sich schließlich seinem Beschluß.

Vorsichtig führte der Junge seine Gefährten weiter. Als sie sich einem Felsvorsprung näherten, banden sie die Tiere an Sträuchern fest, und auf dem Boden kriechend, bewegten sie sich, jeden Felsbrocken zur Deckung ausnutzend, so weit vor, daß sie einen Ausblick ins Tal hatten. In einiger Entfernung gewahrten sie etwa ein Dutzend Indianer um ein Feuer sitzend. Ihre Reittiere grasten; die Wilden schienen völlig sorglos.

»Von hier sollt ihr die Aimaràs beobachten«, sagte Alonzo. »Ich zeige mich ihnen da drüben auf dem Felsen« – er wies auf die Stelle. »Sind sie mir gefolgt, reitet eilig voran, nur vergeßt mein Pferd nicht.« Er zeigte ihnen auch die Schlucht, durch die der Weg weiterlief. »Nun gib mir deinen Poncho, Fernando, und deinen Hut«, sagte er, »sie müssen mich für einen von euch halten.«

Bereitwillig gab ihm der Spanier das Verlangte. »Gebt acht und bleibt vorsichtig in Deckung«, warnte der Junge; »die Indios haben scharfe Augen.« Er nahm seine Büchse und ging zurück, um eine geeignete Stelle zu suchen, die ihm gestattete, auf die andere Seite des Tales zu gelangen. Tief erregt blieben die anderen allein, ungeduldig erwartend, was weiter kommen würde.

Die Aimaràs, die wohl ihrer Pflicht völlig genügt zu haben glaubten, auch wohl der Ansicht sein mochten, daß ein Passieren des Wächterhauses völlig unmöglich sei, gaben sich nach der unheilvollen Nacht der Ruhe hin. Einige hatten sich niedergestreckt, andere saßen friedlich und rauchten.

Immer länger wurde den lauschenden Flüchtlingen die Zeit, immer angstvoller erwarteten sie das Erscheinen des Jungen auf dem bezeichneten Felsen. Nur flüsternd wagten sie sich zu unterhalten und sorgfältig achteten sie auf jedes Geräusch.

So vergingen wohl an die zwei Stunden; Alonzos Weg mußte schwierig sein.

»Seht dort«, flüsterte endlich der Mestize in fieberhafter Erregung, »dort ist er!«

Fernando folgte der weisenden Hand. Es war kein Zweifel. Auf der Felsenhöhe jenseits des Tales zeigte sich ein Mensch im Poncho und Sombrero. Die Aimaràs gewahrten ihn nicht. Da rutschte er aus und glitt eine Strecke hinab; er mochte einige Steine ins Rollen gebracht haben. Die Aimaràs erhoben sich auf das schwache Geräusch wie ein Mann und starrten nach dem Felsen hinüber. Alonzo schien in Todesangst dort oben herumzuklettern. Der größte Teil der Aimaràkrieger lief auf die Felsen zu, mit einem Triumphgeheul, das bis zu den Lauschern drang. Drei blieben zurück, wohl, um die Pferde zu bewachen.

Die Männer, die Alonzo nachsetzten, waren verschwunden; Alonzo selbst ebenfalls. Die zurückgebliebenen Indios starrten zu den Felsen hinauf. Jetzt wurde die Gestalt des Jungen wieder sichtbar. Die Männer unten schrien; Alonzo verschwand hinter einem Felsen. Zitternd vor Erregung sahen Don Fernando und der Halbindianer dem abenteuerlichen Geschehen zu.

»Vorwärts«, flüsterte Antonio, »es ist Zeit!«

»Ja, es ist Zeit!«

Sie bestiegen die Mulos. »Nehmt Alonzos Pferd, Don Fernando, ich will schießen«, sagte Antonio. Er ritt, die schußfertige Büchse in der Hand, voran, Fernando, Alonzos Pferd am Zügel führend, folgte. Die Aufmerksamkeit der zurückgebliebenen drei Aimaràs war so ganz auf die Felsen gerichtet, daß sie das Erscheinen der Flüchtlinge nicht bemerkten. Wieder zeigte sich der verwegene Junge an einer anderen Stelle; er gewahrte die Freunde und verschwand gleich darauf.

Plötzlich wandte sich einer der Aimaràs um, und sein gellender Schrei belehrte die Flüchtlinge, daß sie entdeckt waren. Sie waren bereits in Schußnähe, und der Mestize riß, dies erkennend, die Büchse an die Wange und schoß auf den, der geschrien hatte. Er mußte getroffen haben, denn der Mann wankte und fiel ins Gras. Die beiden anderen verschwanden mit großer Geschwindigkeit hinter den weidenden Pferden.

»Vorwärts, vorwärts!« schrie Antonio. Sie trieben ihre Tiere an und erreichten, das Tal rasch durchreitend, bald den engen Felspfad, der sie weiterführen sollte.


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