Franz Treller
Der Gefangene der Aimaràs
Franz Treller

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Señor Tejada und sein Peon

Sancho Tejada ritt in ausgezeichneter Laune am felsigen Ufer des Rio Negro einher; gleich den strömenden Wassern des Flusses gedachte er die Niederungen aufzusuchen. Hinter ihm ritt sein Peon Juan; das Gesicht des Mannes sah stumpfsinniger aus denn je.

Der Bandit rauchte behaglich seine Zigarette und sann darüber nach, was er tun könnte, um seine Glücksumstände weiter zu verbessern. Tejada war wirklich nicht mehr als ein Bandit, obgleich er aus guter Familie stammte. Er war in den blutigen Bürgerkriegen, die die kaum vom spanischen Joch befreiten Republiken des nördlichen Südamerika durchtobten, schnell verwildert und im Laufe der Zeit zum Straßenräuber abgesunken.

Für seinen Peon, der sich übrigens als ein brauchbarer Diener erwiesen hatte, hieß er Señor Molino und war ein Haziendero vom Magdalena. Den Namen Tejada vermied er selbst in diesen Bereichen, in denen er an sich kaum bekannt war.

Seine Aufgabe bestand jetzt darin, den Sohn Don Pedro d'Alcantaras ausfindig zu machen. Als er vor einigen Wochen das ihm gut bekannte Versteck seines früheren Spießgesellen Gomez durchsuchte, waren ihm die Briefe Carlos de Vallas in die Hand gefallen, an Stelle des Goldstaubes, den er dort gesucht und vermutet hatte. Der kleine Rancho Gomez' war nach dessen Tode in den Besitz eines unweit wohnenden großen Hazienderos übergegangen, der ihn Gomez' langjähriger Dienerin abgekauft hatte; er wurde jetzt von einem seiner Aufseher bewohnt. Bei diesem des Lesens und Schreibens unkundigen Manne als harmloser Reisender einkehrend, hatte er die Niederschrift des Bekenntnisses aufgefunden, die der schwerverwundete Gomez zu Papier brachte, während Alonzo den Cura herbeiholte.

Der gerissene Bandit hatte sofort begriffen, welche Wirkung die wenigen Zeilen von Gomez' Hand auf de Valla haben mußten, selbst wenn die aufgefundenen Briefe ihren Zweck nicht erfüllen sollten. Er hatte sich unverzüglich nach Bogotá auf den Weg gemacht und dort durch sein freches Auftreten erreicht, was er wollte.

Nun galt es, den jungen Mann aufzufinden, der sich zu Recht oder Unrecht Alonzo d'Alcantara nannte. Tejada sagte sich, daß er die Spur am besten dort aufnähme, wo der Jüngling zuerst aufgetaucht war, also in Gomez' Rancho. Auf dem Wege dahin befand er sich jetzt mit seinem Peon.

Die Vorgeschichte der Tragödie d'Alcantara war allgemein bekannt. Don Pedro entstammte einem sehr alten spanischen Geschlecht. Er gehörte zu den Großgrundbesitzern des nach BolivarsSimon Bolivar (1783–1830) befreite Südamerika von Spanien und gründete die Staaten Kolumbien und Bolivien. Tod neugebildeten Staates Neugranada, von dem sich Venezuela und Ecuador nach blutigen Kämpfen abgezweigt hatten: er war überdies einer seiner edelsten und einflußreichsten Bürger und gehörte zu den führenden Männern der liberalen Partei. Die politischen Wirren ließen jene Länder damals nicht zur Ruhe kommen. Kaum hatte ein der liberalen Partei angehöriger Präsident einige Jahre das Regiment geführt, als sich ein blutiger Aufstand gegen ihn erhob und die Republikaner ihn stürzten, um einen Mann ihrer Partei mit dem höchsten Amt zu bekleiden. Carlos de Valla, öffentlich gleichfalls den Liberalen anhängend, hatte heimlich den Republikanern wichtige Dienste geleistet und stand bei ihnen in hohem Ansehen.

D'Alcantara, der sich seines selbstlosen Patriotismus' wegen der Achtung von Freund und Feind erfreute, war der Verfolgung, die nach dem Sieg der republikanischen Partei über die Libertados hereinbrach, zwar entgangen, selbst sein Eigentum hatte man ihm gelassen, in der Hoffnung, ihn für die Sache der Republikaner zu gewinnen. Doch hatte er es vorgezogen, Bogotá zu verlassen und seinen Wohnsitz im Süden des Landes, in den Llanos, fern von allem Parteigetriebe, zu nehmen.

Diese Reise brachte ihm und den Seinen ein schreckliches Ende im Tal der drei Quellen. Er selbst mit seiner Gattin, seinen Söhnen Alonzo und José, den Töchtern Maria und Juana fanden, wie die Nachrichten seinerzeit lauteten, unter den Messern der Aimaràs den Tod. Alonzo, der Erstgeborene, war damals zehn, – Juana, die Jüngste, kaum zwei Jahre alt.

Der Name d'Alcantara war nicht in Vergessenheit geraten, er war für alle ehrlichen Leute der Name eines Patrioten, der redlich für die liberale Ausgestaltung der Verfassung gekämpft hatte.

Einen besonderen Klang hatte der Name noch für die Llaneros, die Don Pedro zu wiederholten Malen in blutigen Kämpfen angeführt hatte.

Sancho Tejada wußte das alles. Er sagte sich auch, daß der wie durch ein Wunder am Leben gebliebene Alonzo, immer vorausgesetzt, daß er wirklich existierte, in den Llanos treue Freunde gefunden haben mußte. Freunde, die genauestens mit den Gefahren vertraut waren, die ihn bedrohten, und sicherlich wußten, warum sie ihn vor dem mächtigen und allwissenden Mann in Bogotá jahrelang verborgen hielten.

Es war also sicherlich keine einfache Aufgabe, Don Alonzo ausfindig zu machen. Sancho Tejada, am Ufer des Rio Negro dahinreitend, gab sich darüber keinen Täuschungen hin.

Sein Denken wurde gestört, als aus einem Seitenweg heraus plötzlich ein Reiter vor ihm auftauchte. Der Mann war nach Art der Hazienderos des Landes gekleidet und ritt auf einem vorzüglichen Maultier im raschesten Paßgang daher; er schien es außerordentlich eilig zu haben. Er blickte kaum auf, als er an Tejada vorüberritt, und war dessen Blicken bald entschwunden.

Es mochte eine Viertelstunde vergangen sein, – Tejada war gemächlich weitergeritten und gedachte des Vorfalles schon nicht mehr, als er den Klang von Pferdehufen hinter sich hörte. Er blickte sich um und sah, daß der erste von drei in schnellem Galopp näherkommenden Reitern die Uniform der Landespolizei trug. Zwei schwer bewaffnete Lanzeros ritten hinter ihm. Tejadas erster Gedanke war Flucht; er hatte gar nicht gern mit der Polizei zu tun. Freilich gewann er sofort seine Fassung zurück; schließlich hätte er nichts Törichteres tun können, als jetzt, da er längst gesehen worden war, zu flüchten. So setzte er denn seinen Weg, wenn auch nicht ohne Beklemmungen, ruhig fort.

Die Reiter hatten ihn bald eingeholt. Der Alguacil, an seine Seite reitend, grüßte sehr höflich. Don Sancho erwiderte den Gruß und sah fragend zu dem Reiter auf.

»Haben Sie unlängst auf Ihrem Weg einen Reiter auf einem ungewöhnlich schnellen Maultier bemerkt, der nach Pflanzerart gekleidet war?« fragte der Alguacil.

Der Befragte fühlte jede Besorgnis für seine eigene Person schwinden. Trotzdem, Vertreter der Obrigkeit waren ihm widerwärtig; er hätte am liebsten geleugnet, den Mann gesehen zu haben. Doch bezwang er diese Anwandlung, es dünkte ihn wichtig, zu erfahren, worum es da ging. »O ja, Señor«, sagte er deshalb, »vor zehn, fünfzehn Minuten etwa tauchte ein Reiter auf einem guten Maultier vor mir auf; ich hielt ihn für einen Haziendero. Er ritt sehr eilig in südlicher Richtung.«

»Dann ist er uns vorläufig entkommen«, sagte der Alguacil ärgerlich, »denn ich kann ihm jetzt nicht nachsetzen. Ich brauche frische Pferde, die unseren sind völlig erschöpft.«

»Es handelt sich um einen Verbrecher?« fragte Tejada.

»Das kann man wohl sagen.« Der Polizeioffizier lachte grimmig. »Und zwar um einen gefährlichen. Señor sind in den Llanos zu Hause?«

»Nein, ich bin am Magdalena ansässig und werde nur durch vorübergehende Geschäfte nach Süden geführt.«

»So suchen Sie doch sicherlich Naëva auf, des großen Jahrmarktes wegen?«

»Wahrscheinlich ja. Offengestanden, ich weiß es noch nicht recht, mein Reiseziel liegt am Ocoa.« Er bot dem neben ihm reitenden Polizeioffizier seinen Tabakbeutel; der dankte erfreut und drehte sich eine Cigarrito.

»Darf ich mir eine Frage erlauben, Señor« – Sancho Tejada fühlte sich ganz als Caballero – »was hat denn der Mann, den Sie da verfolgen, auf dem Kerbholz?«

»Das will ich Ihnen sagen, es ist weiter kein Geheimnis.« Der Alguacil setzte die Cigarrito in Brand – »es ist mir im Gegenteil ganz lieb, wenn Sie verbreiten, was ich Ihnen sage. Wir suchen da eine Bande von Flußpiraten – weiß der Teufel, was seit den Bürgerkriegen aus unserem schönen Vaterland geworden ist – die Kerle hausen hier irgendwo in den Gewässern – den genauen Ort wissen wir leider nicht, doch jedenfalls am Orinoko oder in einem seiner größeren Zuflüsse. Ich sage Ihnen, Señor, das ist wie ein Spinnennetz.«

»Was Sie nicht sagen!« Tejada schien sehr erstaunt.

»Es ist leider so.« Der Polizist hob resigniert die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Die Departements sind nur schwach bevölkert, dichtere Ansiedlungen weisen nur die Flußläufe auf, und unsere Pflanzer haben keinen anderen Weg den Orinoko hinab, wenn sie ihre Erzeugnisse zur Küste bringen und ausführen wollen. Nun haben wir schon seit ein paar Jahren festgestellt, daß immer wieder Flußkähne und Flöße auf dem Orinoko verschwinden, mitsamt ihrer Ladung und ihrer ganzen Bemannung. Der Orinoko ist der Felsen und Stromschnellen wegen ein wilder, gefährlicher Strom und fordert alljährlich seine Opfer; außerdem sind seine Ufer auf Hunderte von Meilen von unzugänglichen Wäldern umsäumt, in denen nur der Todfeind aller Weißen, der wilde Guarani, haust. Trotzdem, es wurde immer klarer, daß hier noch etwas anderes im Spiel war. Man achtete nun besonders auf die Stapelplätze an den Flußläufen, vor allem am Meta, fand aber nichts.«

Das denke ich mir, dachte Tejada und hätte am liebsten gegrinst. Er wußte von dem räuberischen Treiben auf den Flußläufen viel mehr als der Alguacil, aber nun schien er sich vor Erstaunen und Empörung nicht fassen zu können. »Nun und –«, fragte er, »und – – ?«

»Mir war schließlich ein in Orocue ansässiger Handelsagent aufgefallen«, fuhr der Polizeioffizier fort. »Der Mann kaufte für eine Firma in Trinidad auf und ermunterte die Hazienderos, ihren Kaffee, Tabak, Kakao, ihre Häute und Felle nach der Küste zu senden. Die meisten von diesen Ladungen verschwanden spurlos auf dem Strom. Schließlich erfuhren wir etwas mehr von den Zusammenhängen. Einer unserer Stromschiffer nämlich wurde auf dem Orinoko von einem schwerbewaffneten Piratenboot angefallen und entkam. Auf diese Weise erfuhren wir von den unheimlichen Zusammenhängen, und nun begann sich auch der Agent in Orocue verdächtig zu machen. Es wurde uns klar, daß es sich da um einen ganz gefährlichen Zutreiber der Piratenbande handele. Nun, und als wir genügend Material in Händen hatten, da griffen wir zu. Das heißt, wir wollten zugreifen, aber der Mann hatte eine gute Witterung; er entkam uns. Ich fand seine Fährte wieder und war jetzt eben hinter ihm her – wie es scheint, wieder vergebens.«

Weder der Polizeioffizier noch Tejada achteten darauf, daß der Peon Juan während der ganzen Zeit, da der Alguacil erzählte, dicht hinter ihnen ritt.

»Das ist freilich eine große Gefahr für Leben und Eigentum, Señor«, bemerkte Don Sancho, »hoffentlich gelingt es Euch, dem gefährlichen Treiben dieser Burschen ein Ende zu machen.«

»Ja«, seufzte der Beamte, »wenn wir nur die Schlupfwinkel der Banditen kennen würden. Die Ströme mit ihren einsamen Ufern bieten leider Gelegenheit genug, sich verborgen zu halten. Immerhin, wenn ich den Burschen vor mir erwische, werden wir der Sache schon auf den Grund kommen.«

»Das wäre wirklich zu wünschen!« stellte Tejada im Brustton der Überzeugung fest. »Bei uns am Magdalena macht sich nur selten ein Pirat bemerkbar. Sonderbare Zustände sind das hier im Süden.«

»Gott sei's geklagt, Señor«, versetzte der Beamte bekümmert. »Im Vertrauen, es liegt an der Regierung in Bogotá, sie greift nicht durch; es hätte längst etwas geschehen müssen. Ich begreife es offengestanden nicht. Bei der Stimmung, die ohnehin unter den Llaneros herrscht, hätten die Herren in Bogotá alle Veranlassung, sich zu rühren.«

Die Berge blieben allmählich zurück, und nach kurzer Zeit erreichten die Reiter eine seitab ihres Weges gelegene Posada. Tejada beschloß, hier zu übernachten.

Der Alguacil fragte zunächst nach dem von ihm Verfolgten, erfuhr aber nichts. Er wollte dem Mann unter keinen Umständen einen großen Vorsprung lassen, deshalb ließ er sich frische Pferde beschaffen, speiste mit seinen Lanzeros und ritt unverzüglich mit ihnen nach Süden weiter, um seinem Wild auf der Fährte zu bleiben.

Don Sancho hatte mit gutem Appetit eine vorzügliche Mahlzeit zu sich genommen; nun rauchte er höchst befriedigt seine Cigarrito und sann dem soeben Erfahrenen nach. Nein, viel Neues hatte der Alguacil ihm nicht gesagt. Das Piratenwesen auf dem Orinoko war ihm recht gut bekannt; er hatte selbst einige Genossen unter der verwegenen Bande, die die Flüsse unsicher machte. Ja, er hatte einige Male sogar selbst Neigung verspürt, sich den Piraten anzuschließen, als die Verfolger ihm gar zu nahe auf den Fersen waren; nur die Hoffnung, doch noch ein sicheres Asyl auf dem Lande zu finden, hatte ihn immer wieder davon zurückgehalten.

Aber die Leute auf dem Orinoko, die auf einer Insel eine geheime Niederlassung unterhielten, hatten auch zu Lande weitreichende Verbindungen. Vielleicht brauche ich sie demnächst, dachte Tejada, vielleicht finde ich im Notfall da eine Zuflucht. Denn ohne Frage habe ich mich auf eine gefährliche Sache eingelassen. – Er kannte die Llaneros aus Erfahrung. War Don Alonzo einer der Ihren, und das war ja in hohem Grade wahrscheinlich, dann gehörten viel Vorsicht und Klugheit dazu, ihm einen Streich zu versetzen, ohne selbst in Gefahr zugeraten. Diese wilden Rinderhirten mit ihren langen Lanzen und mit ihrer verblüffenden Sicherheit im Gebrauch des Lassos, zugleich mit ihrer Findigkeit im Spurenlesen, konnten furchtbare Gegner sein. Sancho Tejada, der ehemalige Teniente im Dienste der Republik, hatte gar keine Neigung, sich ihrem Grimm auszusetzen.

Vielleicht, dachte er, gelingt es mir, eine Verbindung mit den Männern auf der Insel aufzunehmen. Vielleicht finde ich unter den Leuten sogar einen Mann für meine Zwecke. Es ist immer gut, wenn man solche Dinge von einem anderen tun läßt. Nein, es war ihm gar nicht unangenehm, durch die Begegnung mit dem Alguacil die Erinnerung an die Räuberinsel aufgefrischt zu sehen.

Nun, man würde jedenfalls sehen. Zunächst galt es, diesen sonderbaren, von den Toten auferstandenen jungen Mann ausfindig zu machen. Hoffentlich fand sich in der Nähe von Gomez' Rancho irgendeine Spur, die weiterführte. Das übrige mußten dann die Umstände ergeben.

Tejada, der im Besitz einer Summe Geldes war, wie er sie lange nicht mehr besessen hatte, und der sich hier absolut sicher fühlte, war bester Laune und malte sich eine Zukunft aus, die er mit Hilfe von de Vallas Geld ganz nach seinem Belieben gestalten wollte.

Unweit von ihm saß sein indianischer Peon. Er blickte mit nach innen gekehrten Augen stumpfsinnig und teilnahmslos vor sich hin.


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