Franz Treller
Der Gefangene der Aimaràs
Franz Treller

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Durch die Kordilleren

Langsam hob sich der Nebel, in langen Schwaden schwebte er davon; die umflogen in phantastischen Gebilden die Höhen und verloren sich in der Ferne. Am Himmel standen die Sterne. Sie sahen hernieder auf den einsamen Wanderer, der sich inmitten der pfadlosen Wildnis zur Ruhe gelegt hatte.

Rötliche Glut hüllte die Bergspitzen ein, die Sterne verblaßten. Über den ragenden Felszacken erschien der Sonnenball, er wandelte die Tautropfen an Blättern und Gräsern in funkelnde Brillanten. Lautlose Stille herrschte ringsumher, unterbrochen nur von dem eintönigen Murmeln des rieselnden Baches.

Alonzo, vom wärmenden Strahl der Sonne getroffen, schlug die Augen auf. Verwirrt blickte er um sich, aber dann warf er Poncho und Zweiggestrüpp von sich und stand auf den Beinen. Sein erster Blick galt dem Stand der Sonne, sein zweiter dem Lauf des Baches.

Erschrocken erkannte er, daß dieser seine Richtung nach Süden nahm, daß er sich, seinem Bett folgend, weit von der Straße entfernt hatte, die nach den Llanos führte, weit ab von dem Platz, an dem die Gefährten seiner warteten. Es war offensichtlich unmöglich geworden, die Verabredung einzuhalten. Bittere Sorge erfüllte ihn. Was würden die Freunde tun? War es ihnen trotz des Nebels gelungen, die Straße nach den Llanos zu erreichen? Die einzige Hoffnung dieser Art verband sich mit dem Instinkt der Tiere, die den Weg kannten.

Er blickte um sich. Im fernen Hintergrund ragten die steilen, nackten Felsspitzen in den Himmel, rings um ihn her erhoben sich waldige Hügel. Seufzend beschloß er, seinen Weg allein fortzusetzen; er sah ein, daß er Don Fernando und dem Mestizen nicht mehr helfen konnte. Er trank von dem Bach des Wassers und bändigte seinen Hunger.

Wenn es ihm gelänge, ein jagdbares Tier zu stellen! Er war entschlossen, in diesem Falle trotz der damit verbundenen Gefahr zu schießen. Aber nirgendwo zeigte sich ein Wild. Der Wald bestand aus Nadelhölzern; Beeren oder andere Waldfrüchte, mit denen er seinen Hunger hätte stillen können, wuchsen hier nicht.

Nach einiger Zeit wandte der Bach sich nach Osten. Das war immerhin erfreulich, denn in dieser Richtung lagen die Llanos, lagen Leben, Freiheit und – Heimat. Er befand sich auf einer schwach nach Osten zu abfallenden Hochebene.

Weiterschreitend sah er sich, aus den Büschen heraustretend, einem ungeheuren Felsmassiv gegenüber, dessen zerrissene Massen sich weit nach rechts und links ausdehnten; der Bach verlor sich in einer düsteren Spalte, deren schroff aufragende Wände sich nach oben hin verengten.

Alonzo überlegte: Sollte er die Felsen überklettern? Aber er fühlte, daß seine Kraft bereits nachließ, seine Füße waren schon wund, seine leichte Fußbekleidung aus Hirschleder zerrissen. Dem Bach weiter zu folgen, war nicht ratsam, seine Strömung wurde reißend, sein Grund war von glattem Geröll übersät, und fast immer endeten diese Wasserläufe des Hochgebirges in jähem Absturz. An der Felswand, die den Bach zu seiner Rechten einfaßte, gewahrte er einen schmalen Pfad auf einem vorspringenden Felsen. Hier beschloß er den Durchgang zu versuchen. Bald umhüllte ihn die Dämmerung der schmalen Schlucht, deren Wände feucht waren. Unter ihm rauschte unheimlich das Wasser. Der Pfad war gefährlich, ein falscher Tritt konnte den Tod bringen.

Schritt für Schritt tastete der Junge sich vorwärts, oft nur durch den haltenden Lasso vor dem Absturz geschützt. Die fast übermenschliche Anstrengung währte endlos; er mußte häufig ausruhen.

Endlich zeigte sich Tageslicht vor seinen Augen; der Felsrücken war durchquert. Der Weg, soweit überhaupt von einem solchen geredet werden kann, führte abwärts; Alonzo sah vor sich eine freundliche, von Bäumen durchsetzte Savanne. Er erreichte die Niederung und ließ sich widerstandslos zu Boden fallen.

Lange lag er so.

Schließlich erhob er sich, badete die Füße im Wasser des Baches und umwickelte sie mit Streifen seines Ponchos, die er mit zähen Gräsern befestigte. Langsam nahm er dann den mühseligen Marsch wieder auf.

Aber der Hunger bohrte, und nirgends zeigte sich weder Tier noch Pflanze, die zur Nahrung dienen konnten. Alonzo fühlte, wie seine Kräfte ermatteten. Dennoch ging er weiter, immer wieder zu kurzer Rast gezwungen. Ohne Wimperzucken ertrug er den bohrenden Schmerz, den die wunden Füße ihm bereiteten.

Er kam immer tiefer hinab. Die Bodengestaltung wandelte sich, an Stelle der ragenden Nadelhölzer traten Eichen und Platanen, das Gras wurde höher und saftiger. Aber die Nacht kam, und er mußte sich eine Schlafstätte bereiten. Er trug Blätter und Zweige einer Sykomore zusammen, darauf legte er sich nieder. Bald fiel er vor Hunger und Erschöpfung in Schlaf.

Matt erwachte er am nächsten Morgen und setzte mit wunden Füßen, halb irrsinnig vor Hunger, seine Wanderung fort. Einmal sah er zu seinem grenzenlosen Entzücken einen jungen Hirsch, der zur Tränke ging. Er legte die Büchse an die Wange, aber Auge und Hand waren unsicher; er fehlte, und das erschrockene Tier wurde flüchtig. Verzweifelt brach er zusammen.

Aber die Kraft in ihm war stärker; der Lebenswille trieb ihn weiter. Gegen Mittag sah er vor sich ein langgestrecktes Felsental, das sich nach Osten hin öffnete; ein warmer Lufthauch strömte ihm von unten entgegen. Er ging hinein in das Tal; jeder Schritt auf dem steinigen Geröll bereitete ihm schier unerträgliche Qualen. Das Tal verlief in saftige Wiesen, die von duftigen Wäldern umgeben waren. Aber er vermochte sich des Anblicks nicht zu erfreuen; erschöpft und todesmatt sank er am Fuß einer Eiche nieder. Schwäche und Müdigkeit lullten ihn ein.

Am anderen Morgen vermochte er sich kaum zu erheben, dennoch raffte er sich mit aller Kraft auf. Unsicher torkelte er dahin, aber nach zwei Stunden mühevollen Marsches wollten ihn die durch Hunger und Anstrengung völlig erschöpften Glieder nicht mehr tragen; er sank abermals an der Wurzel eines uralten Baumes zu Boden. Ihm war todeselend zumute. Mußte er sterben? Kurz vor dem Ziel? Er war noch so jung! Und doch, mochte es sein! Er hatte bisher nicht viel Freude vom Leben erfahren. Der dämmerige Zustand, in den er versank, entrückte ihn der Außenwelt. Phantastische Gestalten tauchten vor ihm auf, verdichteten sich zu sonderbaren Gebilden; der Himmel war offen; von irgendwoher ertönten sanfte Melodien. Sie kamen aus sehr, sehr weiter Ferne. Es war kein Denken mehr in ihm.

Dann war da eine rauhe Stimme; sie zerriß jäh die wundersame Melodie.

»Da liegt ein Toter, Felipe«, sagte die Stimme.

Eine andere Stimme klang auf: »Nein, tot ist er nicht – er scheint ohnmächtig zu sein. Wie kommt der Bursche hierher?«

Alonzo fühlte, daß er geschüttelt wurde; es war eine Qual, die Augen zu öffnen.

Verstört sah er um sich. Allmählich nur wichen die Nebel, schoben sich die Konturen der Umwelt aus dem Dämmern heraus. Über ihn gebeugt standen zwei Männer. Aimaràs, dachte er. Aber das war nur ein Hauch. Ohnehin war kein Widerstand mehr in ihm. Auch die Augen waren nicht offen zu halten; das Licht war zu grell. »Hunger«, stöhnte er, »essen!«

»Der Junge ist fast verschmachtet«, sagte die eine der Stimmen.

»Dem ist leicht abzuhelfen«, sagte die andere.

Der eine der Männer setzte Alonzo eine kleine Flasche an die Lippen; sie war mit Wein gefüllt. Der Junge nahm einen Schluck. Es rann wie Feuer durch seine Glieder. Er riß die Augen abermals auf und richtete sich hoch. Ein Mann schob ihm ein Stückchen Maisbrot in den Mund, und er aß. Im Augenblick war er bei Bewußtsein.

Er sah, daß zwei Männer in der Tracht der Montaneros vor ihm standen; sie führten ein Saumtier mit sich, das einen Packsattel trug.

»Langsam, Muchacho – könnte dir schaden, zuviel auf einmal zu essen«, sagte der eine der Männer, Alonzos gierigen Blick gewahrend. »Wie kommst du hierher? Hast dich verlaufen, was?«

»Aus den Bergen«, flüsterte Alonzo.

»Kann mir's denken. Sind nicht für jedermann, die Berge.«

Er gab ihm wieder ein Stückchen Maisbrot und noch einen Schluck Wein. Der Junge fühlte, wie seine Kräfte wiederkehrten.

»Du hast eine Büchse, wie ich sehe«, sagte der eine Montanero, »verstehst du auch, damit umzugehen?« Alonzo nickte.

»Nun, dann kannst du nicht mehr zugrundegehen. In diesen Bergen hier ist Wild genug. Wo willst du denn hin?«

»In die Llanos.«

»Das ist noch weit genug. Aber du erreichst bald Ansiedlungen, wo man dich gastfreundlich aufnehmen und dir weiterhelfen wird.«

»Ihr habt mir das Leben gerettet, Señores; ich war dem Tode nahe«, stammelte Alonzo.

»Gott hat uns des Weges geschickt, mein Junge; du solltest noch nicht sterben.« Der Montanero, ein älterer Mann, sah ihn freundlich an. »Mußt ihm dankbar sein.«

»Ich bin es, Señor. Oh, ich bin es.«

Wieder gab ihm der schwarzbärtige Mann etwas zu essen, der zweite sah, behaglich lächelnd, zu. Dann sprachen beide leise miteinander.

»Leider müssen wir dich verlassen, mein Junge«, sagte der Schwarzbärtige schließlich, »haben wichtige Geschäfte, müssen die kostbare Chinarinde suchen. Wir lassen dir aber genug zu essen hier. Wenn du immer nach Osten gehst, triffst du bald auf Menschen.«

»Laßt mich getrost allein, Señores«, sagte Alonzo, »ich fühle schon, daß meine Kraft wiederkehrt, und werde die Ansiedlungen sicher erreichen.«

Die Männer legten Maisbrot und getrocknete Fleischstücke neben ihn, schüttelten ihm die Hand und verschwanden bald darauf mit ihrem Maultier im Wald. Alonzo, an Leib und Seele gekräftigt, blieb in hoffnungsfroher Stimmung zurück. Die Gefahr lag hinter ihm. Er überwand die heftige Begierde, größere Mengen der ihm überlassenen Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, prüfte aber aufmerksam den Zustand von Büchse und Kugelbeutel und war befriedigt, die Waffe gebrauchsfähig zu finden. Dann beschäftigte er sich mit seinen wunden Füßen. Er kroch zu dem nahen Busch, wusch sorgsam seine Wunden und hüllte sie in einen kühlenden Blätterumschlag, um sie dann mit Fetzen seines Ponchos zu umwickeln. Nur von Zeit zu Zeit aß er einen Bissen.

Er machte sich ein Lager in den Büschen zurecht. Hier mußte er ausharren, bis seine Füße geheilt waren und sein Körper die nötige Spannkraft erreicht hatte. Mit dem wiederkehrenden Bewußtsein kamen auch die Gedanken an die Freunde zurück, die seiner vergeblich gewartet hatten. Mochten auch sie dem Tode entgangen sein!

Die Luft war würzig und mild; warm schien die Sonne vom strahlenden Himmel hernieder. Die Akazien und Weiden am Bach, die Farne, die Blüten der Schlingpflanzen, der Fuchsien und Myrten, die Eichen und Platanen, die rundherum in üppiger Schönheit wucherten, erfreuten sein Herz; es war, als sei er aus der düsteren Härte des Hochgebirges in eine andere Welt geraten.

Gegen Abend sah er Hirsche am Bach. Er hob die Büchse und erlegte mit sicherem Schuß einen Spießer. So hatte alle Not ein Ende. Er hatte frisches Fleisch und Fell, sich eine neue Fußbekleidung zu schaffen. Er kroch hin, nahm das Tier aus und schnitt aus der Decke große Stücke heraus, die er, warm wie sie waren, mit der inneren Seite um die Füße legte und festband. Die Hirschhaut schmiegte sich auf diese Weise der Form des Fußes dauernd an. Schließlich entzündete er ein Feuer, briet sich ein paar Stücke des jungen Hirsches und hielt ein wunderbares Mahl. Wohlbehagen durchströmte ihn, er ließ sich fallen, schloß die Augen und schlief auf der Stelle ein.


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