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22. Kapitän Edvardson.

Er war ein Pfiffikus.

Wegen verschiedener Geschäfte war Konsul Lars Graberg gezwungen, seinem ersten Buchhalter Södergren einen Platz im Comptoir zu geben und sagte ihm, als die Postzeit sich näherte: »Wo bleibt Edvardson?« Der pünktliche Mann hatte es wider Gewohnheit versäumt, mit dem Schlag elf Uhr einzutreten.

»Kapitän Edvardson segelte heute morgen um sieben Uhr auf die Rhede hinaus,« antwortete der Buchhalter.

»Warum gerade heute, wo es so stürmt?«

»Des Kommerzienrats »Argo« kam vorgestern nach Hause. Die Besatzung soll abgemustert werden, und Kapitän Edvardson wollte zur rechten Zeit mit dem Steuermann und den besten Matrosen sprechen. Unsre »Solide« soll nächste Woche ihre Besatzung aufmustern.«

»Na, darum handelt es sich! Aber es ist ja ein fürchterlicher Sturm. Ich sehe die Flaggenstange am Packhause nicht mehr.«

»Die wehte vor einer Stunde um.«

»Und Edvardson ist in solchem Sturm auf der Rhede!«

»Alter Seemann, Herr Konsul!«

Graberg schwieg. Mehr denn je bedurfte er gerade jetzt Edvardsons Hilfe; er stand vor einem großartigen Geschäft, das dieser tüchtige Mann ausspekuliert hatte. Es handelte sich um nichts Geringeres, als sich die Salzeinfuhr des ganzen Frühlings für die beiden Nachbarstädte zu sichern, denn das Salz war zu neun Reichsthaler pro Tonne gestiegen, und das Haus Graberg war das einzige, das einen größeren Vorrat dieser unentbehrlichen Ware auf Lager hatte. Aber dazu waren rasche Ordres nach Liverpool und St. Ybes erforderlich – Ordres, die nur der sprachkundige Edvardson ausfertigen konnte.

»Weshalb habe ich nicht Englisch gelernt?« seufzte Lars Graberg, der immer unruhiger wurde, je näher die Postzeit kam. »Södergren, rufe meinen Sohn.«

Lars Roderik war vor einigen Tagen angekommen und fand sich alsobald im Comptoir ein.

»Kannst Du Englisch?«

»Etwas.«

Von fremden Sprachen lernte man zu jener Zeit in den Schulen nur Deutsch und ein barbarisches Französisch, aber nicht Englisch.

»Schreibe nach meinem Diktat einen Brief an Hawkes & Söhne in Liverpool.«

»Einen Brief?« sagte der Student verlegen. »Ich habe etwas Englisch gelernt, aber es weder gesprochen noch geschrieben.«

»Nicht geschrieben!« rief der erzürnte Vater. »Kostest schon im dritten Jahre Geld, und hast nicht so viel gelernt, daß Du Deinem Vater mit einem simpeln Brief helfen kannst! Was nützt mir denn all Deine Gelehrsamkeit?«

»Mit Vaters Erlaubnis möchte ich gern Schullehrer werden.«

»Was? Schullehrer?« sagte der Vater ganz verblüfft. »Also nicht Magister!«

Es gab eine Zeit, in welcher praktische Männer mit Ehrfurcht zum Magistergrad als dem Inbegriff aller Weisheit hinaufsahen. Später sind die Zeiten anders geworden, und jetzt ist der Magistertitel in den Augen eines Geschäftsmannes nicht viel anders als ein Konfusionarius oder Müßiggänger.

»Erst die Würde, mein Vater,« antwortete der Sohn.

»Du Schullehrer? Du? Und mit meiner Erlaubnis? Niemals! Mein Sohn Schullehrer! Mein einziger Sohn! Bist Du verrückt?«

»Es thut mir leid, daß ich Vaters Wunsch nicht erfüllen kann, aber ich habe durchaus keine Neigung zum Handel. Erfülle meinen Wunsch. Es ist mein fester Entschluß. Eines Schullehrers Beruf ist ein bescheidener, Vater, aber ein sehr ehrenwerter.«

»Ja, so ehrenwert, daß ein Schullehrer zwanzig Jahre denselben Rock trägt, sich jedesmal ein halb Pfund Kaffee kauft, um sich damit zu erquicken, und überall Schulden hat, die er nie bezahlt. Lars Roderik … wenn Du, der Du ein angesehener und unabhängiger Mann werden kannst, Dich in Sklaverei und Armut begeben willst, was sollen dann arme junge Menschen anfangen, die keine bessere Aussichten haben? Knabenstreiche! Schlag sie Dir aus dem Sinn! … Nur zwanzig Minuten, bis die Post geht, und Edvardson kommt nicht!«

»Was für Ordres will Vater dem englischen Hause schicken?«

»Salz! Salz! Berge von Salz!« rief der verzweifelte Kaufmann.

»Nun wohl, Vater, schreibe: Hawkes & Sons, Liverpool. Salt! Salt! … Das ist kurz und verständlich.

»Bursche, willst Du Deinen Vater zum Narren machen?«

»Salt ist gut Englisch. Ich habe von einer neuen Einrichtung gelesen, die Telegraph, Lufttelegraph heißt und in England gebraucht wird. Derselbe besteht aus Signalen, die man weit sehen kann und welche von Station zu Station wiederholt werden. Die Ordres, die man auf diesem Wege schickt, bestehen stets nur aus wenigen Worten.«

»Ach, Dummheit! Was wird man von einem so lächerlichen Brief sagen?«

»Man wird ihn originell finden, aber man wird ihn verstehen.«

»Die Ordre muß sofort expediert werden. Was heißt rasch oder prompt

»Das heißt ›prompt‹.«

»Hm … Wenns so geht, dann kann jeder Englisch schreiben. Aber es geht nicht anders. Das kommt auf Edvardsons Risiko. Schreibe!«

Der originelle Brief ward expediert und erregte ohne Zweifel in Hawkes & Sons Comptoir in Liverpool große Heiterkeit. Die meisten englischen Häuser, die mit den nordischen Ländern in Verbindung standen, hatten schon damals um der Korrespondenz willen Nordländer auf ihren Comptoirs, aber es traten doch wohl Fälle ein, in denen mehr als ein finnischer Kaufmann, welcher der fremden Sprache nicht mächtig war, in dieselbe Verlegenheit kommen konnte wie Konsul Lars Graberg.

Um Mittag ging der Konsul nach dem Hafen hinab, denn er war allmählich unruhig geworden, weil Edvardson noch immer nicht wiedergekommen war. Es war nicht so leicht, gegen den heulenden Sturm, der von schweren Bojen begleitet war, anzugehen. Und überall sah er Spuren der gewaltsam rasenden Elemente, zerschlagene Fenster, niedergeworfene Schornsteine und umgestürzte Planken: das Wasser war hoch und strömte schon über einen Teil der Hafenstraße. Eine Galeasse lag auf der Seite, während die Wellen über sie wegschlugen; alle Schiffe im Hafen hatten doppelte Anker ausgeworfen und konnten sich kaum bergen, obgleich sie noch ziemlich geschützt vor dem wildesten Wetter lagen.

Halms »Argo«, ein großes, schwer geladenes Schiff, lag weiter draußen auf der tiefen Rhede und hatte Schutz durch eine mit Bäumen bewachsene Felseninsel. Aber um nach dieser Rhede kommen zu können, oder wieder von ihr weg, mußte ein Boot die von der Windseite ungedeckte Kallisbucht passieren, wo der Sturm und das offne Meer mit voller Kraft wüteten. Gegen diese Bucht wandte Graberg seine spähenden Blicke, bald hoffend, er werde ein Segel im Kampf mit den Wellen sehen, bald wünschend, es möchte sich nicht hinauswagen. Die Kallisbucht sah großartig wild aus, das Meer hatte seine schöne grüne Farbe ganz verloren, man sah nur ein weißes, schäumendes Schneefeld und über demselben einen Himmel so drohend schwarz wie die anbrechende Nacht.

Vom Wind und Regen gepeitscht, trat Graberg in eine Fischerhütte am Strande und fragte, ob man Kapitän Edvardson gesehen habe. Man hatte ihn um sieben Uhr wegsegeln sehen, aber zurücksegeln … nein, das Boot hätte erst gezimmert werden müssen.«

»Ihr glaubt also, daß Kapitän Edvardson bis Abend auf der »Argo« bleibt?«

»Wird er wohl schon müssen!«

Konsul Graberg ging vom Hafen wieder nach Hause, etwas, aber doch nicht ganz beruhigt. Edvardson hatte das Salzgeschäft ausspekuliert, er wußte, daß es Eile hatte und die Ordre selbigen Tages abgesandt werden mußte, und daß er bei der Abfassung derselben nicht entbehrt werden konnte. Er pflegte solche Post nicht zu versäumen.

Es ward Abend; der Wind legte sich, das Meer vertauschte seine schneeweiße Tracht mit grünen, schillernden Wellen, und ein Segel nach dem andern tanzte zwischen der Rhede und der Stadt hin und her. Wieder ging Graberg nach dem Hafen. Die »Argo« hatte sich gerade an die Brücke gelegt. »Wo ist Kapitän Edvardson?«

»Kapitän Edvardson? Legte zehn Uhr morgens von der Argo ab, steuerte sein eigenes Boot »Trafalgar« und hatte seinen Matrosen am Vorsteven.«

»In dem Sturm?«

»Alter Seemann!«

Es heißt, ein alter Seemann ertrinke gewöhnlich in seinem eigenen Hafen. Am folgenden Tage fand man Kapitän Edvardsons Boot »Trafalgar« an einem Felsen der Rhede. Weit am öden Strande der Kallis-Bucht fanden einige Knaben, die dort gefischt hatten, eine Woche später einen schwarzseidenen Hut voll von Sand und von Steinen zerkratzt. Das war die einzige Spur, die man von einem der klügsten und kühnsten, aber auch rücksichtslosesten Menschen fand, der zwischen einem Handelscomptoir und den Märkten der großen Welt stets neue Verbindungen zu knüpfen wußte. Er war auf seinem Posten zu Grunde gegangen, gerade, während er ein glänzendes Geschäft machen und einem Rivalen seine besten Matrosen wegnehmen wollte. Lars Graberg trauerte aufrichtig um ihn. Oft wenn die Geschäfte drängten und ein kluger Kopf fehlte, eine fein gespitzte englische Feder, um die Ordres nach fremden Häfen auszufertigen, hörte man Graberg halblaut bei sich sagen: »Hätte ich nur Edvardson noch! Er war ein Pfiffikus! Er hätte am Leben bleiben müssen, um seine Verschreibungen quittieren zu können.«

Kapitelnumerierung ab hier fehlerhaft im Buch, korrigiert. Re.


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