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8. Das Gold als Gespenst.

Wagst Du's, ihm Deinen goldenen Ring zu zeigen?

Im selben Augenblick, als die Explosion der Bierflasche das Inkognito der Gesellschaft verraten hatte, war die Nachtmütze verschwunden. Unmittelbar darauf hörte man innerhalb des Festungsthors einen ziemlich lebhaften Wortwechsel, nach welchem die Besatzung selber uneinig zu sein schien. Es währte auch nicht lange, bis die Thür sich öffnete, und die Nachtmütze sich auf der Treppe zeigte, diesesmal in ganzer Figur, eine hohe, magere Gestalt, mit einer Laterne in der Hand.

Hätte Frau Margareta Halm noch länger über ihres Schwagers Gesundheitszustand in Zweifel sein können, so wurden nun alle ihre Illusionen zerstört, denn ein schlanker, stattlicher alter Mann trat ihr mit raschen Schritten entgegen, umarmte sie mit ceremonieller Höflichkeit und begrüßte dann Lisu in derselben Weise. Er bedauerte sehr, daß sie so lange im Hof hätten warten müssen, aber warum hätten sie denn nicht gleich gesagt, wer sie seien. Es trieben sich so viele Landstreicher in der Gegend herum, denen man nicht trauen könne; sie müßten entschuldigen, wenn ein alter Mann so sehr um seine Sicherheit besorgt sei. Und so spät am Abend noch einen Schuß abzufeuern könne für unbekannte Reisende doch auch nicht gerade Vertrauen erwecken, und sie dürften sich daher nicht wundern, wenn ein alter Militär eine Kriegserklärung mit gleicher Münze erwidert habe. Aber nun möchten sie hereinkommen und sich an dem genügen lassen, was das Haus eines armen Garçon biete.

Man trat in den verfallenen Flur und von diesem in ein Empfangszimmer, das drinnen noch trauriger aussah, als man von außen hatte ahnen können. Von dem großen, offenen Kamin war der Kalk herabgefallen, die Dielenbretter schienen sich nach Luft zu sehnen, drei oder vier zerschlagene Fensterscheiben waren mit Werg verstopft, einige jammervolle Stühle, ein grob gehobelter Tisch, ein ungemachtes Bett und eine braune Wanduhr, deren Zifferblatt von einem grauen Teller verfertigt war, bildeten das mehr als bescheidene Möblement. Eine alte Frau an ihrem Spinnrad und eine schlafende Katze, die auf einer Matte von Bast in einer Ecke des Zimmers lag und sich streckte, waren außer dem Hausherrn und dem Hofhunde die einzigen lebenden Wesen dieses verfallenen Hauses.

Der Gruß der Eintretenden wurde von der Alten an ihrem Spinnrad mit einem verdrießlichen Nicken erwiedert – sie wars gewesen, deren Stimme sie eben erst im Flur gehört hatten, aber nun schien sie sehr beschäftigt zu sein. Man legte die Pelze ab, der Kommissär zündete ein Talglicht an und führte seine Gäste in ein anderes, etwas kleineres und nicht sonderlich viel besser möbliertes Zimmer hinein. Einige Schränke, ein altertümliches Pult, ein abgenutzter Schreibtisch und dito rohe hölzerne Stühle, die noch mit keiner Farbe in Berührung gekommen waren, ließen vermuten, daß es das Arbeitszimmer des Hausherrn war und vermutlich das einzige, welches außer dem der Haushälterin wohnlich eingerichtet war.

Nachdem sie dermaßen introduziert worden waren, unterließ Frau Margareta es nicht, sich nach ihres lieben Schwagers Gesundheit zu erkundigen. Sie habe gehört, er sei in letzter Zeit nicht wohl gewesen, und freue sich nun doppelt, ihn so munter zu sehen.

»Ach ja,« antwortete der Alte, »im ganzen gehts mir recht gut. Ich pflege täglich eine Meile zu gehen, nehme meine drei kräftigen Mahlzeiten ein und haue selber mein Holz.« Und um ihnen einen Beweis seiner Kraft zu geben, faßte er Lisu um den Leib, hob sie wie ein Kind in die Höhe und setzte sie vorsichtig auf einen hölzernen Stuhl. Unwillkürlich schwebte auf Frau Margaretas Lippen ein: »Schäme er sich doch!« aber sie schwieg.

»Schwager Sten ist also gar nicht krank gewesen?« sagte die Schwägerin mit einer Verwunderung, die ihrem Schwestersohn unvergleichlich komisch erschien.

»Nicht, daß ich wüßte,« antwortete der Kommissär. »Will sagen, abgerechnet von einer unbedeutenden Schwachheit, an der ich zuweilen leide. Der junge Mann dort vielleicht meiner Schwägerin Sohn?«

»Meiner Schwester Sohn, Lars Roderik Graberg, ein Sohn des Konsuls. Entschuldige seinen knabenhaften Mutwillen, aber er feuerte ja seine Pistolen ab, um die Bewohner des Hauses zu wecken.«

»So, so, Graberg? Ja, nun erinnere ich mich … habe seinen Vater und seine Mutter sehr gut gekannt. Ich glaubte, der junge Herr heiße Stigell und sei königlicher Steuerbeamter zu Laukkas. Nur gut, daß wir beide im Dunkel unser Ziel nicht trafen. Passiert mir sonst nicht so leicht, daß ich fehl schieße.«

»Ich bitte den Herrn Kommissär, mir einen kleinen Scherz nicht übel nehmen zu wollen,« antwortete der Student etwas verlegen, da er merkte, daß die Rollen nun plötzlich vertauscht zu sein schienen. Er hatte einen armseligen, alten Wucherer mit krummem Rücken zu finden erwartet und geglaubt, mit ihm seinen Scherz treiben zu können, und nun stand ein riesengroßer Veteran vor ihm, von dem mans wirklich glauben konnte, daß er selten fehl schieße, und der den jungen Herrn sehr deutlich seine Überlegenheit fühlen ließ.

»Ach, sag Onkel!« fing Margareta wieder an, offenbar mit dem Wunsche, die Spuren des ersten Mißverständnisses zu verwischen.

»Laßt uns von den paar verschossenen Kugeln nicht weiter reden,« fuhr der Alte in leichtem Ton, der den ehemaligen Gentleman verriet, fort. »Sag mir lieber, welchem glücklichen Zufall ich solch lieben Besuch hier in meiner einsamen Wohnung verdanke, wo, wie die Schwägerin sehen kann, nur sehr selten fremde Menschen kommen. Oder, sollten es Geschäfte sein, so laßt uns die bis morgen aufschieben, und erzähle mir etwas von meinen alten Freunden in den nördlichen Städten.«

»Keine Geschäfte, lieber Schwager,« beeilte sich Frau Margareta zu erwiedern. »Wir kommen von einer Reise nach dem Süden und, da wir hier vorbeikamen, wollten wir gern sehen, wie es dem Schwager in seiner Einsamkeit gehe. Sind viele Jahre vergangen, seitdem wir den Schwager in der alten Heimat sahen, und hätte Lisu uns nicht im Winter vorigen Jahres einen Gruß von hier gebracht, so wäre der Schwager ganz für uns verloren gewesen.«

»Ja nicht wahr, tot und begraben? Meine lieben Verwandten würden so aufrichtig über mich getrauert haben! Aber ein altes, verrostetes Gewehr kann lange an der Wand hängen, ehe der Feuerstein aus dem Schloß herausfällt. Ich gedeihe vortrefflich in meiner Einsamkeit. Im Sommer baue ich Kohl, im Winter mache ich Drechslerarbeiten, und dann und wann ein kleines Geschäft … etwas muß man ja treiben, um leben zu können. Ich habe nur wenige Bedürfnisse, jedes Bedürfnis ist eine Sklavenkette. Wozu brauchen wir Freunde und Umgang mit andern Menschen? Junger Mann, richte Dich so ein, daß andere deiner bedürfen, während Du selber keines andern bedarfst; das ist die wahre Unabhängigkeit, eine andere giebt es nicht. Das weiß Lisu … Aber es ist wahr, Ihr habt einen langen Weg gemacht; was kann ich Euch anbieten? Trinkt man in den nördlichen Städten noch jeden Abend seinen Grog?«

Lars Roderik antwortete der Wahrheit gemäß, er nehme es an, wenn er es auch nicht verbürgen könne, daß diese Sitte in den letzten beiden Jahren, während derer er nicht zu Hause gewesen, aus der Mode gekommen sei.

»Grog kann ich Dir nicht anbieten, junger Mann,« fuhr der Kommissär fort, »auch habe ich leider keinen Thee für die Damen, aber etwas Warmes wird in der kalten Abendluft nicht schaden. Werde sehen, was ein so bescheidenes Haus draußen auf dem Lande bieten kann.«

Mit diesen Worten ging er lächelnd hinaus.

Lars Roderik wandte sich jetzt an seine junge Cousine, die nun ebenso wie auf der ganzen Reise ein Schweigen beobachtete, das dem Studenten unerträglich erschien. »Du kannst wie ein Pastor reden, aber auch schweigen wie ein Ulea-Lachs,« sagte er. »Du kennst ja das Haus, Lisu, was wirds wohl geben? Die aufgewärmten Molken von saurer Milch?«

»Wir werden es sehen,« antwortete Lisu kurz.

»Was werden wir sehen? Vielleicht Wasser-Preißelbeeren? Oder gekochtes Wasser mit Wacholdersirup. Es wird jedenfalls riesig gesund sein. Was meinst Du, Lisu, eine brillante Eremitage, die Du einmal erben wirst! Du kannst hier bleiben und gleich barmherzige Schwester werden. Mag in Storkyro wohl ein Bedürfnis sein; sie schlagen sich hier Spaßes halber oftmals tot. Oder Du kannst Geschäfte machen. Man muß ja etwas treiben, um leben zu können.«

Lisu schwieg, aber Frau Margareta ergriff das Wort: »Mein lieber Freund, Du redest, so gut Du es kannst und verstehst. Du solltest einsehen, daß gewisse Menschen ihre zwei Seiten haben, eine gute und eine schlechte. Schwager Sten liebt es, aller Welt die schlechte Seite zu zeigen, und von der magst Du sagen, was Du willst, aber er hat auch eine gute Seite, die sehr selten und fast nur wider seinen Willen an den Tag kommt. Lisu kennt ihn besser als Du.«

»Ich verstehe. Die schlechte Seite ist dies allerliebste Haus, die gute – eine Million. Lisu ist seine Erbin, sie kennt also seine gute Seite.«

»Ja,« antwortete Lisu verletzt, »ich weiß etwas von der guten Seite, und die ist mehr als Millionen wert. So viel kann ich Dir sagen: die meisten Menschen wollen gern besser scheinen als sie sind, einige aber haben den Wunsch, schlechter zu scheinen als sie sind. Mein alter Onkel gehört zu den letzteren.«

»Das sollst Du mir nicht einreden. Mit sechstausend Reichsthalern weckte ich den Bären aus seinem Winterschlaf. Mit einem Dukaten werde ich seine Seele kaufen. Lisu … darfst Du ihm Deinen goldenen Ring zeigen? In diesen Zimmern sieht man nichts Gelbes.«

»Ich bitte Dich, Lars Roderik, beschwöre nicht die bösen Geister!« bat Lisu unruhig. »Sie finden sich überall, in Deiner Brust so gut wie in der meinigen. Und wo sie sich melden, da soll man nicht trotzig herausfordern, sondern demütig beten.«

»Sagte ich nicht, daß Du selber an sie glaubst? Nun wohl, zeige Du ihm deinen goldenen Ring, sonst thue ich es. Thut er nicht, als verachtete er die Welt, der alte Wucherer? Heuchelt er nicht eine Philosophie, die ihn über die andern Sterblichen erhebe? Versuche ihn! Wir kennen ja den Talisman.«

»Was schwatzt er da in seinen ungeborenen Bart hinein?« sagte Frau Margareta, deren praktischer Blick an dem Reisemantel einen losen Knopf entdeckt hatte, den sie mit eigener Hand wieder annähen zu wollen schien. »Keine Dummheiten mehr, mein lieber Lars Roderik. Du magst denken, was Du willst, aber laß es heute abend an einem Schuß genug sein. Sieh, da ist unser lieber Schwager Sten wieder …«

Der Kommissär kam mit einer dampfenden Kanne von feinem Porzellan und drei, seltsam genug, krystallhellen, geschliffenen Gläsern, die er auf den Schreibtisch setzte, wieder hinein. »Trinkt nun!« sagte er.

Lars Roderik ließ sich soweit herab, mit einer schlecht verhohlenen Grimasse von der verdächtigen Flüssigkeit zu trinken, entdeckte aber zu seiner Verwunderung, daß es ein feiner, mit Vanille abgekochter Portwein war. Es strömte eine angenehme Wärme durch seine steifen Glieder, und er sprach sein Bedauern nur darüber aus, daß der Wirt seinen Gästen nicht zutrank.

»Ich trinke Wasser,« sagte der Alte mit demselben satirischen Lächeln, welches den jungen Studenten schon einmal irritiert hatte. »Der Wein ist wirklich besser, als man ihn heutigestags kaufen kann. Ich habe ihn von einem Lissaboner Hause, das seiner Zeit mit dem unsrigen in Verbindung stand.«

»Torlades & Komp.« bemerkte Frau Margareta, mit Wohlbehagen von dem warmen Trank nippend. »Wir haben an dasselbe Haus viel Theer verkauft und viel Salz wieder eingekauft.«

»Deshalb weiß Onkel Theer und Salz zu veredlen,« sagte Lars Roderik. »Onkel muß trotzdem einräumen, daß er sich zuweilen daran gütlich thut. Wie ist es möglich, solche Weine zu besitzen, ohne sie zu trinken!«

»In deinem Alter ist es vermutlich unmöglich,« antwortete der Kommissär; »wenn man aber so alt geworden ist wie ich und vielleicht auch etwas geizig, dann hat man mehr Freude daran, solch seltene Ware zu besitzen als sie zu genießen. Ich betrachte die Flaschen in meinem Keller als junge Menschen: es ist Leben und Feuer in ihnen, und man vergiebt es ihnen, selbst wenn sie einmal über den Strich gehen.«

Lars Roderik fühlte sich geschlagen. »Das ist eine Komödie,« dachte er und spielte mit einer goldenen Münze, die er in der Westentasche hatte. Goldmünzen waren damals selten, aber es kamen doch dann und wann russische Imperialen in Kurs, und zufälligerweise hatte er einen solchen, den er in Helsingfors eingewechselt, bei sich.

Sollte er dem Heuchler die Maske abreißen? Die Versuchung war zu stark, als daß ein junger Mensch, der sich obendrein verletzt fühlte, ihr hätten widerstehen können.

»Da wir von echten Weinen sprechen,« sagte er, »denke ich auch an echte und falsche Münzen. In Lappo hat man lange schwedische Scheine nachgemacht, aber wer sollte glauben, daß man nun auch angefangen hat, russische Imperialen nachzumachen?«

»Was? Das sollst Du mir nicht einreden!« sagte Frau Margareta.

»Ich versichere Dich, es ist wahr … Ich wechselte heute mittag einen Fünfzigrubelschein, und sieh her, was ich erhalten habe! Es ist kaum möglich, den Klang von dem der echten zu unterscheiden.«

Mit diesen Worten ließ er den halben Imperial gerade vor dem Kommissär auf den Schreibtisch fallen.

Die Wirkung kam augenblicklich und war fürchterlich. Der alte Mann machte einen Schritt zurück, sein Gesicht verzog sich, seine Lippen preßten sich zusammen, seine Hände ballten sich krampfhaft, seine Augen starrten mit unbeschreiblichem Grauen auf die goldene Münze, und mit einem Schmerzensschrei stürzte er in das nächste Zimmer.


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