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4. Ein Begegnis.

Wacht auf, Herr! Der Wald ist voll von Räubern!

Was bei den Insassen des gestrandeten Schlittens auf der nördlichen Seite der Schneemauer so unerwartet die Hoffnung wieder belebte, war ein neues Schellenklingeln, das man von Süden her hörte. Nichts Geringeres als ein Wunder schien die Reisenden erretten zu können, und es war auch fast ein Wunder, zu dieser Zeit, an diesem Ort und in diesem Wetter einem andern Reisenden zu begegnen. Aber trotz seiner mannhaften Stimme wurde der dicke Kopf von neuer Unruhe ergriffen, die sich in einer erneuten Aufforderung an Isak, er möchte doch ja auf seine Peitsche achten, einen Ausdruck gab. »Und höre, Isak, brich mir einen passenden Zweig vom Baume da ab, den will ich aus dem Schlitten heraus halten, als wär's eine Pistole.«

Isak brummte zwar vor sich her, Räuber pflegten wohl selten in einem mit Glocken versehenen Schlitten zu fahren, aber er war dem Befehl gehorsam. Während er einen Zweig zurecht schnitt, damit er einigermaßen der Waffe, die er vorstellen sollte, ähnlich sehen möchte, brummte er vor sich hin, die gnädige Frau müsse nun ihre beste Trompete hören lassen, denn dann würde selbst der schlimmste Bandit sie im Finstern nicht von einem Lehnsmann auf Amtsreisen unterscheiden können.

Die Besitzerin des vermummten Kopfes – denn derselbe hatte wirklich eine Besitzerin – schien sich durch die Möglichkeit, so verkannt zu werden, durchaus nicht verletzt zu fühlen, sondern bemerkte gutmütig, daß ihr Geschlecht zu allen Zeiten auf weiblicher Seite am mannhaftesten gewesen sei, und wäre sie nur nicht durch ihren Pelz und die sechs Röcke, die sie angezogen habe, so unbeholfen geworden, so würde sie schon ihren Mann am Kragen fassen, so gut wie ein andrer; das würde nicht das erste Mal sein.

»Ja, das können alle ihre Ladenburschen und Savolaksbauern bezeugen,« murmelte Isak von neuem, während er, so gut er konnte, auf einen Schneeberg kletterte, um den Feind zu rekognoscieren. »Er schont seine Mähre nicht,« sagte der Kutscher zu sich selber, als er's zu seinem Erstaunen hörte, wie die Schellen in raschem Galopp durch die hohen Schneeschanzen fuhren.

Es währte auch nicht lange, bis ein kleiner, leichter, von zwei Pferden gezogener Schlitten sich dem Wall näherte und nicht eher stehen blieb, als bis die Pferde in die vom Schnee bedeckten Zweige des gestürzten Baumes gerieten und sich vergebens loszuarbeiten suchten. Der Fuhrmann, der den zuletzt angekommenen Schlitten fuhr und den verrufenen Ort wohl kannte, aber nicht wußte, woher das plötzliche Hindernis kam, erhob sich plötzlich in seinem Schlitten und betete laut; als er aber den Isak erblickte, der oben auf dem Wall im Schnee zusammengekauert lag, so war es sehr verzeihlich, wenn er aus allen Kräften zu schreien anfing: »Die Räuber! Wacht auf, Herr! der Wald ist voll von Räubern!«

Bei diesem Ruf erhob sich vom Sitz des kleinen Schlittens eine hohe, verschneite und schlaftrunkene Gestalt, suchte einige Sekunden mit der Hand in seinem Pelz und hielt dann einen kleinen schwarzen Gegenstand in die Höhe, der offenbar bessere Dienste thun konnte als der eben abgeschnittene Föhrenzweig, denn einen Augenblick später knallte ein Schuß und eine Kugel sauste so dicht an der Hundefellmütze des braven Isak vorüber, daß er in seinem Schrecken kopfüber vom Schneewall herabpurzelte.

»Na, der hat, was er verdiente!« rief der Schütze rasch. »Nun peitsch die Pferde, peitsch, alter Knabe, daß wir aus diesen verdammten Wurzeln herauskommen. Laß die Halunken noch einmal kommen, so will ich ihnen zeigen, was es heißt, den Weg versperren.« Mit diesen Worten nahm er seine zweite Pistole, während er in seiner Reisetasche nach Pulver und Kugeln suchte, um die erste wieder zu laden.

»Sie haben Isak erschossen!« hörte man nun eine jüngere weibliche Stimme aus dem verdeckten Schlitten am nördlichen Schneewall rufen, die zugleich von dem lauten Schluchzen des kleinen Burschen treuherzig accompagniert ward. Aber der wohlbekannte verhüllte Kopf schien es für klüger zu halten, einen Mut an den Tag zu legen, den die trompetenähnliche Stimme, welche ihren tiefsten Baß angenommen hatte, nicht Lügen strafte. »Was heißt das, Ihr Schurken!« rief die tapfere Frau durch den Schneesturm hindurch. »Hütet Euch vor meinen Pistolen, und … und … schweig stille, Lisu!« … hier hob sich die Stimme … »unsre Männer kommen gleich hinter uns her. Simon! Pekka! Jakob! Rasch her, und schießt die Schurken nieder, die anständige Menschen auf der Landstraße überfallen!«

»Was schreien die da vorne? Mir schien, ich hörte jemanden um Hilfe rufen,« sagte der Schütze auf der südlichen Seite des Walles zu seinem Reisegefährten, dem Fuhrmann.

»Das ist eins von den armen Opfern, das in ihre Hände gefallen ist,« antwortete dieser. »Hört, nun rufen sie alle ihre Kameraden zusammen, damit die auch uns plündern und morden. Laßt uns umkehren, Herr! Sie gehören zu derselben Räuberbande, die im Herbst vom Lehnsmann und den Bauern auf der Kaivando-Brücke in Kangosala gefangen genommen wurde.«

»Umkehren!« sagte der Schütze verächtlich. »Hab' ich Zeit, umzukehren? Aber laß uns einen Augenblick warten, dann werden wir schon sehen, was sie wollen.«

Unterdessen hatte Isak sich aus dem Schnee herausgearbeitet und schleppte sich nun, zwar unbeschädigt, aber etwas verblüfft, zu seinem Schlitten zurück, zu großer Freude der erschrockenen Insassen desselben. Ohne auf ihre Fragen zu antworten, versuchte er, den Schlitten umzuwenden, aber das ging nicht.

»Isak, was hast Du vor?« rief die tapfere Frau mit bedeutend erhöhtem Mut, denn man gewöhnt sich sogar an den Krieg, und die gute Frau mußte Isaks glückliche Heimkehr schon als einen halb gewonnenen Sieg betrachtet haben. »Haben wir Zeit, umzukehren, wenn Pellavoinen schon gestern zum Markt abgereist ist?«

»Wenn ich nur wüßte, daß ihrer nicht mehr als zwei wären,« antwortete Isak zögernd. »Aber gehören sie zu den Ausreißern von Sveaborg, dann haben sie Pferde gestohlen und es kommen noch mehrere hinter ihnen her.« – Die Geschichte am Kaivando-Paß, wo eine zahlreiche Bande von Gefangenen, die aus dem Gefängnis von Sveaborg ausgebrochen waren, zwischen ein doppeltes Feuer kam, wo Schüsse abgefeuert wurden und auf beiden Seiten Blut floß, war zu der Zeit im ganzen Lande ruchbar geworden und mag dem Leser den Schlüssel zur Erklärung des gegenseitigen Mißverständnisses an der Räuberhöhle geben.

»Laßt uns etwas warten und thun, als wären unsrer mehrere,« fuhr der vermummte Kopf fort.

So wartete man beiderseits eine halbe Stunde, da jede der beiden Parteien sich durch den Schneewall geschützt glaubte, der sie vor dem Feinde verbarg und diesem den Weg versperrte. Schließlich aber verlor der Reisende südlich vom Wall die Geduld und entschloß sich – jedoch mit gespannter Pistole – das Terrain zu rekognoscieren, indem er nun seinerseits mit größter Vorsicht den Wall erkletterte. Zu seiner Verwunderung war der verdeckte Schlitten das einzige Verdächtige, was er bemerken konnte. »Was für Landstreicher Ihr da?« rief er, weniger höflich als aufrichtig, dem Feinde an der nördlichen Seite zu.

»Was seid Ihr selber für ein Landstreicher, daß Ihr Euch untersteht, auf friedliche Reisende, die zum Markt wollen, zu schießen?« antwortete die barsche Stimme aus dem verdeckten Schlitten.

»Sind mir schöne Reisende, die in solchem Wetter zum Markt gehen und eine Schneemauer quer über die Straße bauen!« rief der Mann im Pelz.

»Schämt Euch, besseren Menschen als Ihr selber seid, die Schuld zu geben, wenn eine Föhre über den Weg gefallen ist!« antwortete wieder die Stimme aus dem Schlitten.

»Ich habs eilig!«

»Wir haben auch keine Zeit zu verlieren.«

»Ja, so siehts beiderseits aus,« sagte der Mann mit den Pistolen in munterm Ton und kletterte an der nördlichen Seite des Walls herab. Aber kaum sah die mannhafte Frau, wie er sich dem Schlitten näherte, als sie ihm auch schon den Föhrenzweig entgegenhielt und drohend rief: »Kommt Ihr einen Schritt näher, Mensch, so knall ich los.«

»Was schwatzt Ihr da?« erwiderte der andere lachend und steckte seine Waffen ein. »Ich bin Student, heiße Graberg und komme von Helsingfors. Ist das genug? oder wollt ihr noch mehr wissen?«

»Wa–a–s? Lars Roderik Graberg?«

»Eben derselbe. Und da Sie die Ehre haben, mich zu kennen, darf ich mir vielleicht auch die Ehre erbitten, Ihren Namen zu erfahren, mein Herr. Vielleicht ein Küster, der das Amt eines Vaccinateurs sucht? Oder ein Beamter der Krone, dessen vermessener Ehrgeiz nach dem Titel eines Assessors strebt? Sollte mir lieb sein, wenn ich Ihnen mit meiner Protektion dienen könnte; ich habe, ohne zu prahlen, in der Büreaukratie meine Verbindungen. Ich habe nun schon seit einiger Zeit sowohl die zarten Blüten wie die reifen Früchte derselben kennen gelernt. Hat mir auch nicht wenig gekostet!«

»Roderik … kennst Du mich nicht?«

»Ich sehe Ew. Wohlgeboren zum erstenmal. Oder besser gesagt, ich sehe vor dem infamen Schneesturm nichts. Aber ich höre um so genauer … und der Herr ist bestimmt ein Küster!«

»Küster? Schäm Dich doch! Kennst Du Deine eigene leibliche Tante nicht?«

»Ist das Tante selbst! Ach, zum Teufel! Na, willkommen bei der Räuberhöhle! Wie gehts? Was treibt man?«

»Ja, wie solls wohl gehen, wenn man Nachts im Wald und Schnee von seinem eignen Neffen mit Pulver und Blei begrüßt wird?«

»Es fiel ein Mann?« sagte der Student, offenbar beunruhigt, als er an dieses Faktum erinnert ward. »Ich habe doch niemanden verwundet?«

»Nein, glücklicherweise trafst Du nur den Schnee, aber das war nicht Dein Verdienst. Knaben dürften so gefährliche Spielsachen nicht in der Hand haben. Sieh nur zu, wie Du uns nun wieder auf den Weg helfen kannst.«

»Und Tante reist mit einem Pferd bei vier Personen … und Tante könnte wohl dreißig auf die Beine bringen!«

»Pferde kosten Geld.«

»Und warum fährt Tante den langen Weg nach Tammerfors? Geht nicht die gewöhnliche Reise nach Kuopio?«

»Weshalb ich nach Tammerfors reise? Solch dumme Frage! Um Flachs zu kaufen. Man muß sich etwas zu verdienen suchen, die Krone verteilt im Winter Leinen. Es war eine schöne Schlittenbahn; ich schickte einige Wagen mit Kaffee und Zucker voraus, weil ich mir sonst einen Wagen zur Heimfahrt hätte mieten müssen. Kaum hatte Pellavoinen das erfahren, als er sich auch schon gestern auf den Weg machte. Aber ich werde ihn schon wieder einholen und ihm den Markt versalzen.«

»Pellavoinen? Habe nicht die Ehre.«

»So? Kennst den größten Flachshändler in Österbotten nicht? Kannst Dich drauf verlassen, daß er von Deinem Vater geschickt ist. Aber Du hast mir noch nicht gesagt, weshalb Du bei einem solchen Wetter fährst und mit zwei Pferden! Nennst Du das vielleicht ökonomisch, mein lieber Freund?«

»Zeit ist Geld. Ich habe die Bücher ad acta gelegt und will Kaufmann werden. Ah, Tantchen, beim nächsten Markt wollen wir uns den Flachs auftreiben. Aber wie gehts Lisu? Ist sie wieder bei ihrem Onkel, dem alten Wucherer? Ich habe gehört, daß er sehr krank ist.«

»Was sagst Du? Ist Schwager Sten sehr krank? Er wird sich ja wohl nicht zuletzt verleiten lassen, sein Eigentum zum Besten irgend einer barmherzigen Stiftung zu testamentieren!«

»Barmherzigkeit soll nicht eben seine stärkste Seite sein,« sagte der Schwestersohn.

»Roderik, sprich respektvoller von dem Schwager Deiner Tante. Ich hatte die Absicht, ihn auf meiner Heimfahrt zu besuchen. Aber wenn er nun stürbe … Nein, das darf nicht verschoben werden, ich muß notwendig wieder umkehren.«

»Und Tante wollte Pellavoinen den ganzen Flachshandel machen lassen?«

»Ja, sag, ist das nicht zum Verzweifeln? Aber wie kann ich Schwager Sten in der Hand wildfremder Menschen lassen? Was soll ich thun? Ein Geschäft von wenigstens tausend Liespfunden! Und doch, wenn ichs mir überlege, daß Schwager Sten … na, was er besitzt, geht niemanden etwas an … und daß irgend eine scheinheilige Person … Ich kehre um. Isak, nimm die beiden Pferde des Herrn … spanne sie vor meinen Schlitten … und spanne unser Pferd vor den Schlitten des Herrn … fahr nach Tammerfors, verkaufe meinen Kaffee und Zucker; und kaufe für das Geld wieder Flachs ein. Du kennst meine Preise, Isak … Das höchst mögliche für den Zucker, das wenigst mögliche für den Flachs. Glückt es Dir nicht, Pellavoinen vorbeizufahren, so sei wenigstens eine halbe Stunde vor ihm auf dem Markt … Nimm bei Petterson & Comp. Vorschuß auf die Waren … biete fünf Prozent … traktiere die Bauern … kommt mir auf einige Flaschen Rum nicht an. Na, nun fix vorwärts! Roderik, mein Freund, jetzt reisen wir miteinander!«

Diese Anordnungen wurden so rasch getroffen und ausgeführt, daß der Student weder die Zeit noch auch den Mut fand, Einwendungen zu machen. Und da der Schneesturm sich nun auch allmählich legte, kehrten die drei Männer mit vereinten Kräften die Schlitten um und setzten dann den veränderten Reiseplan ins Werk.


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