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16. Graberg contra Halm.

Das Geld will uns ganz haben.

Die Stadt war über das Unglück, welches die Nachbarstadt betroffen hatte, sehr erregt. Pferde, Wagen, Rettungsapparate und Lebensmittel wurden mit großem Eifer abgesandt; die Straßen und Höhen vor der Stadt waren voller Menschen, welche sich anstrengten, die fernen Rauchsäulen zu entdecken. Viele weinten, andere waren gleichgültig oder neugierig. Der am meisten hervortretende menschliche Zug war jedoch ungeheuchelte Teilnahme.

Kaum zwanzig Minuten nach der oben berichteten Unterhaltung war der Kapitän Edvardson wieder im Comptoir des Konsuls Graberg. Seine klugen grauen Augen blitzten vor Freude, während er den Hut ablegte und die Papierscheere in die Hand nahm.

»Na, Edvardson?«

»Nach Noten. Er geht auf den Vorschlag ein. Entweder glückt's, was jedoch weniger wahrscheinlich ist, und in diesem Falle sichert Bruder Graberg sich noch heutigen Tags die besten Stapelplätze; oder es glückt nicht, was das wahrscheinlichere ist, und dann weiß alle Welt, daß der Vorschlag, die beiden Städte zu verschmelzen, von Halm, der das Schreiben verfaßt hat, ausgegangen ist. Im ersten Fall direkter, im andern indirekter Vorteil. Die Einwohner von X…by werden diesen Übergriff, der mehr als einen großen Brand, der ihren Ruin bedeutet, niemals vergeben, und wir werden in ihnen eben so treue und ergebene Freunde haben, wie sie Halms unversöhnliche Feinde bleiben werden. Wie die Geschichte sich also auch abspielt, wir werden den Vorteil haben. Ich hätte wahrhaftig nicht gedacht, daß der schlaue Vogel so leicht auf den Leim gehen würde. Aber er ist ehrgeizig, und das darf ein Geschäftsmann niemals sein. Ich malte ihm die Perspektive, daß wir Abo und Wiborg überflügeln würden, in den hellsten Farben … und das zog.«

»Edvardson! … Bruder ist ein Schlauberger!«

»Ich bitte … nur ein Pfuscher in der Geschäftsschule des Hauses Graberg. Aber nun muß ich nach X…by, um die Stimmung zu sondieren und unsern Plan vorzubereiten.«

»Warte noch einen Augenblick. Margareta Halm ist zurückgekommen.«

»Ja, das verdanken wir Pellavoinen. Der Kerl ist unter Freunden eine Schiffsladung Hanf wert; er weiß eine Konjunktur zu benutzen. Wer konnte vorhersehen, daß er gerade Lars Roderik treffen würde, der dem dicken Weibe eine Geschichte vom Kommissär aufschneiden mußte?«

»Bruder weiß es also? Aber weiß Bruder auch, daß der Kommissär verrückt geworden ist?«

»Um so schlimmer für den Kommerzienrat. Tollheit scheint im Blut zu liegen. Aus dem allen kann man Kapital schlagen, besonders wenn man so glücklich gewesen ist, hinter die wirkliche Ursache zu kommen. Ich will alles in Bewegung setzen. Margareta Halm ist ein Sieb.«

»Lars Roderik scheint, nachdem er zurückgekehrt ist, sehr schweigsam und zurückhaltend zu sein. Ich kenne den Burschen nicht wieder; es ist was im Werke. Vermutlich Liebesgrillen. Bald will er ins Ausland reisen wie John Halm, bald auf meinem Comptoir bleiben. Bruder erinnert sich ja wohl unsres Vertrages? Was ist da zu machen?«

»Muß im Comptoir bleiben. John Halm wird zum Frühling zu Hause erwartet. Die Affaire mit Lisu muß vorher ganz im reinen sein. Also jetzt keine Reise; wir müssen alles aufbieten, um Margareta und das Mädchen zu gewinnen. Ich hab's mir nun einmal in den Kopf gesetzt, daß des verrückten Kommissärs Sündengeld im Dienst des Hauses Graberg etwas Hübsches ausrichten soll.«

»Aber hat er kein Testament gemacht, dann fällt die Hälfte seines Vermögens an Hans Hermann Halm.«

»Und Bruder glaubt, daß das Mädchen … Bruder glaubt, daß Margareta für nichts und wieder nichts in Storkyro gewesen ist? … Adieu … Nein, noch eins! Ich traf Halms Buchhalter, Tervola, zur Reise gerüstet, in der Thür. Es gilt ein größeres Geschäft … vermutlich Konkurrenz. Die Fracht steigt. Es würde nicht schaden, Nilson in fliegender Eile nach Süden zu senden, damit er alle Pferde in Beschlag nimmt, ehe …«

Kapitän Edvardson hatte seinen Beruf verfehlt, da er die diplomatische Carriere nicht einschlug. Aber in jedem Geschäft, und nicht am wenigsten im Handel ist Raum genug für jene Schleichwege kleinlicher Interessen, heimlicher Ränke, stiller Feindschaft, List und Falschheit, die in der Welt eine so große Rolle spielen. Ohne allen Zweifel gab es damals eben so gut wie jetzt ehrliche Kaufleute, welche solche Schleichwege verabscheuten und durch solide Spekulationen sowohl Ansehen wie Reichtum erwarben. Aber wenn nicht einmal so geachtete Firmen, wie Halm und Graberg, denen niemand Betrug oder Schwindel vorwerfen durfte, der Versuchung widerstanden, sich von der Konkurrenz zu Handlungen verleiten zu lassen, die vor einer strengeren Moral nicht bestehen konnten, so müssen wir sie nach der Zeit beurteilen, in der sie lebten. Die Rechtsbegriffe waren noch sehr unentwickelt, und das Gewissen des Kaufmanns weniger zart wie in unsern Tagen. Der Schleier, mit welchem er seine Spekulationen vor den Rivalen verbergen mußte, raubte ihm selber den klareren Blick in die Natur seiner Beweggründe, und wie konnte er sich ein unverletztes Gewissen bewahren, wenn die Gesetze ihm nur die Wahl ließen zwischen Ungerechtigkeit und Vorteil auf der einen und Ehrlichkeit und Verlust auf der andern Seite? Jene Verordnungen, die einerseits mit ihren unerhörten Zöllen zur Schmuggelei reizten und andrerseits durch geheime Cirkuläre vom Chef zu den unteren Zollbeamten den Kaufleuten gestatteten, zehn Liespfund Kaffee für hundert zu verzollen – waren sie nicht eine direkte und indirekte Aufforderung zum Betrug? Weshalb sollte jemand, der schon einmal falsche Fakturas auf dem Zoll abgeliefert hatte, nicht ein andermal ein Faß Essig statt eines Fasses westindischen Rum anmelden? Man mußte es nur nicht zu grob machen, wenn die Zollbeamten durch die Finger sahen. War man glücklich, so galt man als kühner Geschäftsmann; war man unglücklich, so ward man nicht nur ruiniert, sondern mußte mit dem Schaden sich auch noch den Spott gefallen lassen.

Während die beiden Meister tüchtiger Geschäftsführung, Graberg und Edvardson – die Mühle und das Mühlenrad – ihre besonderen Interessen wahrnahmen, hatten viele Bewohner der Stadt sich von besseren Beweggründen leiten lassen und sich beeilt, ihren Nachbarn zur Hilfe zu kommen. Der größte Teil der Stadt X…by lag bei ihrer Ankunft in Asche, aber es glückte Lars Roderik Graberg, der eine Spritze anführte, doch noch, das Seinige zur Rettung des übrigen Teiles beizutragen. Lisu Halm, die von ihrer mildthätigen Mutter mit Kleidern und Lebensmitteln zu den Bedürftigsten geschickt war, erschien als ein tröstender Engel gerade in dem Augenblick, da die Bestürzung und Niedergeschlagenheit am größten war. Sie wurde von einem Gefühle hingebender Sympathie ergriffen, als sie es sah, wie unerschrocken der mutige Jüngling sich gerade da, wo es am gefährlichsten war, den Flammen entgegenstellte; und mit nicht weniger warmen Gefühlen sah er es an, wie seine jugendliche Cousine die Armen aufsuchte, welche sich auf den schneebedeckten Feldern und in noch nicht niedergebrannten Häusern gelagert hatten, um ihre Gaben unter sie auszuteilen, Gaben, deren Wert noch durch die Größe der Not erhöht wurde. Einmal hörte er ihren ermunternden Beifall, als er das Haus einer armen Witwe gerettet hatte; ein andermal rief er ihr sein Bravo zu, als er es sah, wie sie einem vor Kälte und Erschöpfung halb toten alten Mann warme Kleider und ein Glas Wein reichte. Hier stand Halm contra Graberg und Graberg contra Halm in ganz anderer Weise; hier war auch ein Wettstreit, aber ein Wettstreit mutiger, selbstverleugnender Liebe, einer Liebe, die nicht das Ihre suchte.

Das entging auch dem Kapitän Edvardson nicht, der an der Spitze einiger Seeleute überall zu retten suchte und für seine Entschlossenheit verdiente Anerkennung fand. »Es geht alles nach Noten,« sagte der schlaue Kapitän bei sich selber.

Vetter und Cousine fanden spät am Abend, jeder für sich, ein Bivouac, wie sie es sich nur wünschen konnten, die eine im Pfarrhause, der andere in einem Bauernhof draußen vor der Stadt. Am folgenden Tage zur Mittagszeit traten sie miteinander die Reise nach Hause an. Lars Roderik Graberg fuhr Lisu Halms offnen Schlitten, das Pferd war von der Anstrengung des gestrigen Tages erschöpft, die Reise ging langsam, Schritt vor Schritt, so daß sie Zeit genug hatten, miteinander zu plaudern.

Nachdem sie sich eine Weile vom Brande unterhalten hatten, fragte Lars Roderik plötzlich seine Cousine, wie es dem Kommissär gehe.

»Besser,« antwortete Lisu.

»Und Du bist immer gleich unbarmherzig gegen den armen alten Mann, obgleich Du weißt, daß sein Wuchern nur Schein war und er heimlich viel Gutes that?«

»Ja, wer erforscht ein Menschenherz? ist's nicht Gott allein? Ich möchte gern, mein Onkel wäre, wofür er sich ansieht, ein aufrichtiger, bußfertiger Mann, wenn auch nach der Weise der Katholiken, einer, der die Schmach sucht und den Dank der Menschen verschmäht. Aber ich fürchte, er betrügt sich selber – ich fürchte, daß dieses Wuchern, dadurch er der Menschen Verachtung suchte, ihm im Innersten seines Herzens gerade so sehr eine Wonne war, wie der Luxus des Reichtums, den er sich heimlich erlaubte. In beiden Fällen, fürchte ich, war es Heuchelei vor Gott und Heuchelei vor seinem Gewissen. Die Katholiken nehmen es da nicht so genau.«

»Nein, Lisu, nun steht Graberg contra Halm in umgekehrter Ordnung. Ich verachtete Deinen Onkel, als Du ihn verteidigtest, nun verteidige ich ihn und Du verachtest ihn. Du wirst mich nie davon überzeugen, daß eine so demütigende Bußübung nicht aufrichtig sei und vor Gott keinen Wert habe.«

»Ach, wär' sie nur aufrichtig! Ich wünschte es aus tiefstem Herzen. Aber Gott will uns nun einmal ganz haben. Wollen wir auch nur den allergeringsten Teil unsres alten sündlichen Wesens für uns behalten, so ist unsre ganze Buße eitel. Du hattest recht, und dasselbe sagte ja auch der Versucher zu meinem Onkel, das Geld will uns ganz haben. Will aber das Geld unser ganzes Herz haben, wie sollte Gott sich an dem halben genügen lassen? Und wenn das Geld nichts anderes als nur wieder das Geld anerkennt, wie sollte Gott etwas anderes in uns anerkennen, als sein Bild, nämlich den neuen Menschen, der nach ihm erschaffen ist?«

»Gott weiß am besten, daß wir arme und schwache Menschen sind. Er kann nichts Vollkommenes von uns verlangen.«

»Nein, aber er will uns täglich durch seinen heiligen Geist erneuern. Es ist so weise eingerichtet, daß wir unsern Schatz in gebrechlichen Gefäßen tragen, damit wir uns nicht unsrer Kraft rühmen, sondern damit Gottes Kraft in den Schwachen mächtig sei.«

»Du hast über solche Fragen mehr nachgedacht als ich. Ob das nun wirklich zur ›Wahrheit‹ gehört, wie Du sagst … was nennst Du Wahrheit

»Treibst Du nun wieder Deine Possen? Fragst ein armes Mädchen nach etwas, worüber die ganze Menschheit seit vielen tausend Jahren nachgedacht hat, ohne aus eigener Vernunft und Kraft eine Antwort zu finden?«

»Nein, ich frage Dich, weil Du sagtest, er suche die Wahrheit, ich aber thue es nicht. Ich möchte gern wissen, weshalb ein Missethäter, der nach ihr sucht, besser ist als einer, der es nicht thut,« antwortete der Jüngling mit größerem Ernst, als seine Cousine ihm zugetraut hatte.

»Nun wohl, bist Du mit dem zufrieden, was jedes Bauernmädchen Dir sagen kann, wenn sie ihren Katechismus ordentlich gelernt hat, so antworte ich Dir, daß die Wahrheit das auf das Leben angewandte Gotteswort ist.«

»Gut, wir wollen über so hohe Fragen nicht weiter streiten, aber antworte mir, ob es menschlich, ob es barmherzig von Dir war, so hart und grausam das einzige niederzureißen, was Deinem unglücklichen Onkel einigen Frieden mit seinem Gewissen gab – jene guten Werke, die Du verdammst?«

» Konnte ich anders, ohne zu lügen? Du bist ja wohl ein gelehrter Mann, Lars Roderik, und bist Du es nicht, so weißt Du von weltlichen Dingen doch mehr als ich. Aber ich sage Dir, wenn einer die Weisheit der ganzen Welt besäße und wäre mächtiger als ein Kaiser, geehrter und glücklicher als irgend ein andrer Sterblicher, und er stiege freiwillig von seiner Höhe herab und gäbe seinen letzten Heller hin für Werke der Barmherzigkeit, würde arm und unwissend, entäußerte sich aller Macht, würde unglücklich und verachtet, ja gäbe sein Leben und das Liebste, was er auf Erden hätte, hin, arbeitete und fastete und entsagte allem bis ans Ende seiner Tage, thäte und duldete mehr, als die heiligen Märtyrer vor ihm um der Wahrheit willen erlitten haben – und käme mit all seinen Leiden und all seinen Werken vor die Himmelspforte und fragte: hab ich genug gethan? habe ich genug geopfert? – es würde die ewige Stimme ihm antworten: nein, nein, es ist nicht genug, es ist gewiß nicht, gewiß nicht genug! Kein menschliches Opfer ist so groß, kein Leiden und keine Werke der Menschen so vollkommen, daß einer mit denselben auch nur einen Strahl der ewigen Seligkeit verdienen könnte. Die kann nur Christus uns geben und er schenkt sie uns frei und umsonst.«

Lisu hatte mit fast zitternder Stimme gesprochen und ihre Wangen glühten vor Begeisterung. Aber der junge Mann sah sie nicht an … er starrte hinaus in die graue Abenddämmerung, und eine Welt neuer Gedanken und Gefühle fing an, sich aus dem Nebel in seiner Seele zu lösen.


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