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Achtzehntes Kapitel.

Nach geraumer Weile entschloß sich Charmois, das Eßzimmer zu verlassen. Die Stille und Oede des Hauses beängstigten ihn, sein Kopf schmerzte und er hatte das Bedürfnis, in frischer Luft die Betäubung abzuschütteln, die Leib und Seele gefangen hielt. Im hellen Junisonnenschein ging er aufs Geratewohl querfeldein.

Es war die Zeit, wo dieser fruchtbare Landstrich wie ein Stück vom Paradiesesgarten erscheint, wo die reich abgetönte Mannigfaltigkeit des Grüns, die Blüten wie die ersten Früchte des Jahres Auge und Geruchsinn entzücken. Ganze Felder von rosen- und purpurfarbigen Nelken wogten um die Kirschbäume mit ihrer reifenden Frucht, Johannisbeersträucher wechselten mit ganzen Gehölzen von Himbeeren, von langgestreckten Beeten blühenden Salbeis umsäumt. Wie eine scharlachrote Stickerei auf grünem Grund tauchten überall Büschel von wildem Mohn auf, und schon fing der Hafer an, einen Goldton in die Farbenmischung zu tragen. In der warmen, dunstigen Luft konnte sich der zarte Duft der Rebenblüte kaum neben dem Würzhauch der Nelken behaupten, und doch wollten die Himbeer- und Erdbeergerüche auch noch bemerkt werden. Die weißen Landstraßen, von dichten Nußbäumen beschattet, verloren sich zwischen diesen mannigfaltigen Anpflanzungen und schienen nach Ländern zu führen, »wo Milch und Honig fleußt«.

Wie hatte sich Firmin sonst dieser Ueppigkeit freuen können! Heute rief alle Herrlichkeit der Erde und des Himmels nur ein dumpfes Angstgefühl in seiner Brust wach, ihm war, als ob er allein ausgestoßen wäre aus diesem Paradies. Immer tönten ihm Vignerons Vorwürfe, die zänkischen Stimmen seiner Töchter im Ohr. Trug ihm der Windhauch Blütendüfte zu, so sagte er sich: »Du wirst die Früchte nicht mehr genießen.« Eine Weile blieb er vor einem Kirschbaum stehen, von dem ein junger Mensch mit der Leiter die ersten reifen Früchte pflückte, da fiel ihm Desiré ein. Er sah ihn als flinken, fröhlichen Jungen auf die Bäume klettern und der Gedanke an die Gegenwart machte sein Herz bluten.

»Auch er, auch er hat mich verlassen!«

War es denn wirklich ein Naturgesetz, daß der Vater sich in sauerem Schweiß mühen muß, um seine Kinder groß zu ziehen, und daß ihm, sobald sie auf eigenen Füßen stehen, nichts von ihnen bleibt, daß die Alten nichts Besseres thun können als verschwinden, sich begraben lassen? Dann thun die Wilden gut daran, ihre arbeitsunfähigen Eltern am nächsten besten Baum aufzuknüpfen – das geht wenigstens schnell!

»Schließlich«, sagte sich Firmin, seine jüngsten Enttäuschungen im Geist durchgehend, »ist Sterben das einfachste – wenn einem nichts mehr gelingt, man andern nur lästig ist ...«

Gesenkten Hauptes, mit gebeugtem Rücken ging er seines Wegs. Dicht neben ihm stieg eine Lerche aus dem Feld auf und schmetterte ihr Jubellied ins Blaue.

»Ja, singe du nur! Deine Jungen sind noch nicht flügge! Du bist noch stolz auf deine Brut! Ich war's auch einmal – mir ist das Jubeln vergangen ...«

Er hatte den Kopf zurückgeworfen, um dem Vögelchen nachzustarren. Jetzt schreckte er zusammen; dicht vor ihm bog Toucheboeuf aus einem Seitenweg, die beiden standen sich plötzlich gegenüber und es gab kein Ausweichen mehr. Schweigend maßen sich die einstigen Freunde mit trüben Blicken und jeder mußte am andern traurige Wahrnehmungen machen.

»Was starrst du mich denn so an?« fragte der Getreidehändler mürrisch. »Findest mich wohl sehr verändert?«

Das war Toucheboeuf in der That. Er war so mager geworden, daß ihm die Kleider um den Leib schlotterten. Die Wangen waren eingesunken und fahl, graue Hautsäckchen hingen unter den Augen, tiefe Falten liefen von der Nase um die Mundwinkel; rauhe weiße Bartstoppeln zeigten, daß er sich seit Tagen nicht mehr rasiert hatte.

»Du übrigens bist auch weder schöner noch jünger geworden,« setzte er höhnisch hinzu. »Der Bürgermeister bekommt dir nicht.«

»Habe auch Sorgen und Kummer genug,« brummte Firmin.

»Sorgen und Kummer! Als ob nicht ein jeder sein Teil hätte! Der eine früher, der andre später! War der Sommer schön, so regnet's im Herbst ...«

Sie gingen nebeneinander her; unwillkürlich fühlten sie sich durch gemeinsames Leid verbunden, die alte Kameradschaftlichkeit lebte wieder auf.

»Du darfst dich übrigens nicht beklagen,« philosophierte Toucheboeuf weiter. »Dir ist's lang genug gut gegangen!«

»Seit dem letzten Jahr gewiß nicht mehr.«

»Ja, ja, hast deine Frau verloren ... aber dir bleiben die Kinder ... dein Haus ist nicht leer ... du bist nicht allein.« Die Verweisung auf diesen Trost war mehr, als Charmois heute hören konnte: die Thränen traten ihm in die Augen. Toucheboeuf sah, wie seine Wimpern zuckten, wie er das Gesicht verzerrte, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Dieser Seelenzustand des heiß bekämpften Gegners goß Balsam in Toucheboeufs Wunden und die Genugthuung, ihn leiden zu sehen, milderte seinen Rachedurst. Sich schwerfällig auf die Böschung an der Straße niederlassend, fragte er mit einem gewissen Wohlwollen: »Was ist denn los? Spukt's mit der Chataigneraie?«

»Ja,« versetzte Charmois, sich neben ihn setzend. »Wenn ich auch zwei Töchter und einen Sohn habe, das Haus ist doch leer! Ach, wie oft hat's meine arme Regine nicht gesagt – kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen! Meine Töchter bringen mich um Hab und Gut, mein Sohn läßt mich im Stich.«

Toucheboeuf leckte die Lippen, wie wenn ihm die Klagen des Todfeindes köstlich gemundet hätten, dann erwiderte er spöttisch: »Da lägen wir ja im selben Spital, Alter! Aber du hast wenigstens schöne Zeiten gehabt, bist in deiner Familie verhätschelt und verwöhnt worden und – es ist doch dein Fleisch und Blut! Ich aber nehme ein Kind auf, das mich von Haut und Haar nichts angeht, sorge für sie wie ein Vater, erziehe sie wie eine Prinzessin, gebe Geld aus für ihr Vergnügen, ihre Kleider, und als sie einundzwanzig Jahre alt ist, mir als Wirtschafterin, als Pflegerin für meine alten Tage nützlich werden könnte, lohnt sie mir mit dem schnödesten Undank – hintergeht mich, zieht zu meinen Feinden, schickt mir Gerichtsvollzieher ins Haus und läßt mich allein wie einen räudigen Hund.«

Die Aufzählung von Sabines Missethaten hatte ihn in eine Wut versetzt, daß er am ganzen Leib zitterte.

»Das heillose Geschöpf! Und ihr nichts anhaben, sie nicht zermalmen können! Zum Glück rächt mich dein Sohn an ihr ... er hat sie ins Gerede gebracht und sitzen lassen.«

»Desiré? Da bist du auf dem Holzweg!« sagte Charmois kläglich. »Desiré liebt sie noch und wird sie heiraten – allerdings gegen meinen Wunsch!«

»Heiraten?« schrie Toucheboeuf, aufspringend und sich mit geballten Fäusten vor Charmois aufpflanzend: »Und das gibst du zu? Du gestattest deinem Sohn, sich die Braut aus dem Haus einer Adeline Nivard zu holen? Ich habe dich für einen Mann gehalten, aber du bist nichts als ein Waschlappen!«

Damit ging er mit langen Schritten davon.

»Eloi, alter Freund,« rief ihm Firmin bittend nach. »Gehen wir nicht so auseinander! Was wir gegenseitig verfehlt haben, dafür sind wir beide hart gestraft! Gib mir die Hand ...«

»Mach, daß du zum Teufel kommst!« zischte der Getreidehändler, dessen alter Haß wieder in hellen Flammen stand, indem er dem einstigen Kameraden erbarmungslos den Rücken kehrte.

Als Charmois schleppenden Schritts nach Hause kam, fand er Wohnung und Garten so leer, als er sie verlassen hatte. Er fragte die Magd nach Desiré und hörte, der junge Herr sei wohl heimgekommen, aber nur um zu sagen, daß man mit dem Abendbrot nicht auf ihn warten solle, er sei eingeladen.

»Ja, ja,« sagte Charmois wehmütig vor sich hin. »Ihm wird's gut schmecken bei der Geliebten – ob der alte Vater allein daheim sitzt, was liegt daran?«

Er zog seine Arbeitsjoppe an, setzte einen Strohhut auf und ging in den Garten.

Die Sonne stand schon tief und übergoß seine Rosen mit um so glühenderem Licht. Die Beete erschienen als große rote oder gelbe Farbflecke, die Rosen kletterten an den Bäumen, an den Gartenmauern empor und schlangen ihre duftigen Gewinde von Baum zu Baum. Rosen wie Knospen schienen von der Hitze des Tages erschöpft, ohne daß ihre Farbenpracht minder leuchtend gewesen wäre. Die gleich Morgenrot leuchtenden ›Eduard Norren‹ hatten sich voll erschlossen, schon streuten sie da und dort ihre scharfroten Blätter umher, die ›Niel‹ ließ wie müde den allzuschweren Kopf hängen, die ›Sulfutara‹ leuchteten wie Goldknöpfe im satten Grün. In den tiefen Kelchen der rosigen ›France‹, im milchweißen Herz der ›Malmaison‹ wie in den scharlachroten Tiefen der ›Jacqueminot‹ krochen goldschimmernde Käfer in wollüstigem Taumel umher. Schmetterlinge umbuhlten die lilienhafte, geheimnisvolle ›Nephetos‹ und machten der leuchtend roten ›Margottin‹ den Hof. Die ganze Luft war ein Würzhauch; die ›Centifolien‹ besiegten wieder, trotzdem sie bei Frau Mode in Ungunst stehen, im Duft all ihre glänzenderen Schwestern, und die ›Pimpinellen‹ mischten ihre Muskatdüfte dem zarteren Rosenhauch bei.

Langsam ging Firmin durch diese sommerliche Blumenwelt. In weicher, gerührter Stimmung sah er seine Rosen an, auch seine Schöpfung, seine Kinder, und zwar Kinder, die seinen Namen ruhmvoll durch die Welt getragen hatten! Vor der ›Regine Charmois‹ blieb er lange stehen – diese besonders kräftige und anmutige Rose war sein erster ›Triumph‹ gewesen. Wie sauer hatten sie sich's damals werden lassen, mit zwei Gärtnerjungen die ganze Arbeit gethan! Im Morgengrauen war Regine aufgebrochen, um ihre Rosen selbst auf dem Markt in Paris zu verkaufen, und müde war sie am späten Abend heimgekommen, um ihm bei einem sehr bescheidenen Nachtmahl ihre Erlebnisse zu schildern. Wie jung und frisch und wie zuversichtlich, pflichtgetreu und ausdauernd sie gewesen war! Als Zeichen der Liebe hatte er denn auch die erste Neuschöpfung nach ihr getauft und seine ›Regine Charmois‹ hatte ihm die erste Medaille, den Aufschwung des Geschäfts eingetragen. Die Thränen waren seiner Frau über die Wangen gelaufen, als sie in der Ausstellung alle Kenner bewundernd vor dieser ›Regine‹ hatte stehen sehen! Arme Regine – es waren Jahre ohne Freudenthränen gefolgt!

»Sie hat wohl daran gethan, zu sterben,« dachte Firmin.

Jetzt machte er vor dem ›Ruhm von Saint-Saviol‹ Halt, einer großen, üppigen hochroten Rose von tadellosem Bau, die ihm die höchste Auszeichnung gebracht hatte. Das war ein Leben, ein Gedeihen gewesen damals in der Chataigneraie. Desiré war zwei Jahre alt gewesen, die Schwestern schon große Mädchen und wie niedlich, besonders Florence! Am Abend hatte der Vater sie auf seinen Knieen geschaukelt, bis beide Köpfchen schlaftrunken an seiner Brust ruhten. Und was für Luftschlösser hatte er nicht dabei gebaut! Er hatte sie erwachsen, als blühende Frauen tüchtiger Männer gesehen, die sein eigenes Handwerk betreiben, sein Geschäft ausdehnen würden, hatte schon fröhliche Kinderstimmen spielender Enkel im Garten gehört! Ach, wie hatte er sich verrechnet! Wie war's möglich, daß aus den zwei freundlichen hübschen Mädchen die Furien von heute früh geworden waren? Ja, er hatte sie zu sehr verwöhnt, zu sehr geliebt, hatte sie nur Liebe fordern, nicht Liebe geben gelehrt. Wer ihm vorausgesagt hätte, was sein Lohn sein würde? Ach, er hätte es ja doch nicht geglaubt!

Die Sonne war hinter dem bewaldeten Hügel verschwunden, aber der wolkenlose Himmel schien noch hell, die Farben der Rosen waren noch ebenso leuchtend als zuvor. Firmin zuckte schmerzlich zusammen – er stand vor der ›Schönen Sabine‹, Desirés Schöpfung. Stolz reckte sie ihre Zweige in die Höhe, in der linden Abendluft den vollen Reiz ihrer fremdartigen Schönheit entfaltend. Ach, ihre erste Blüte hatte des alten Rosenzüchters letzte frohe Stunde zu bedeuten gehabt! Von dem Tag an war es düster und düsterer um ihn geworden! Ein brennender Schmerz rührte sich in ihm beim Anblick dieser Rose und doch konnte sich der Kenner, der Künstler ihrer Schönheit nicht verschließen. Mit dem tiefen, im Grunde grünlich schimmernden Kelch, den aprikosenfarbigen, karminrot geränderten Blättern hatte diese Rose einen geheimnisvollen, sinnberückenden Reiz – gerade wie das Mädchen, das ihm den Sohn verzaubert hatte! Unwillkürlich griff er nach dem Zweig, um eine voll erschlossene Blume zu sich herabzuziehen, als ihn wieder das furchtbare Unbehagen erfaßte – drei oder vier dumpfe schwere Herzschläge, dann verging ihm der Atem, sein ganzer Garten drehte sich vor seinen Augen, leblos brach er zusammen ...

Von dem Rosenzweig, der plötzlich losgelassen, zurückschnellte, fiel ein Regen duftiger Blätter auf das bläuliche Gesicht des zusammengesunkenen Mannes. Als ein Gärtnerjunge früh am andern Morgen an die Arbeit gehen wollte, fand er Firmin Charmois steif und kalt unter den Rosen der Chataigneraie ausgestreckt.

 

Ende.


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