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Vierzehntes Kapitel.

Leontines böswilliger Besuch hinterließ bei jedem Familienglied eine peinliche Stimmung. Firmin Charmois war, innerlich noch sehr erregt, gleich nach dem Frühstück aufgebrochen. Amtsgeschäfte riefen ihn nach Sceaux, wo er auch mit seinen Gemeinderäten bei dem dortigen Bürgermeister speisen sollte. Frau Regine wirtschaftete im Haus herum und bejammerte die verwünschten Geschichten, die den häuslichen Frieden störten; Desiré, der am schwersten Betroffene, suchte seine Nerven trotz der lastenden Schwüle durch angestrengte Arbeit im Garten zu beruhigen. Aber er mochte sich noch so sehr abmühen und ermüden, der Gedanke an das Aufsehen, das Sabines Flucht machen mußte, ließ sich nicht verdrängen. Auch konnte er sich über ihren Aufenthalt bei Adeline Nivard nicht hinwegsetzen; in diesem Fall teilte er alle Vorurteile seiner Mitbürger, denn er gestand niemand, auch ihr nicht, das Recht zu, der öffentlichen Meinung derart ins Gesicht zu schlagen, und erblickte in der zweideutigen Lage, worein sich das junge Mädchen gebracht hatte, ein ernstlicheres Hindernis für seine Heirat, als selbst der Widerstand des Vaters es war. Zur Dämmerstunde kamen Mutter und Sohn bei Tisch zusammen, aber die Mahlzeit gereichte weder ihr noch ihm zur Erleichterung. Frau Regine enthielt sich dem Sohn gegenüber aller Vorstellungen und Einreden, aber ihr gedrücktes Aussehen, die häufigen Seufzer, landläufige Redensarten über mütterliche Kümmernisse, die sie gleichsam an einen unsichtbaren Zuhörer richtete, verrieten ihre Meinung nur allzu deutlich. Die rechtliche, ehrenfeste Frau mußte ja das Verhältnis mit einem Mädchen, das sich in aller Leute Mund gebracht hatte, unbedingt verwerfen.

Desiré schützte denn auch, sobald er den Löffel gewischt hatte, große Müdigkeit vor und ging in sein Stübchen hinauf. Die Gewitterluft, ermüdende Leibes- und Gedankenarbeit hatten ihn auch wirklich so erschöpft, daß er sich auf sein Bett warf und sofort einschlief. Charmois hatte angeordnet, daß man nicht auf seine Heimkehr warten solle, und so ging auch Frau Regine, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß alle Thüren wohl verschlossen waren, zeitig zu Bett, aber kaum hatte sie ihre Kerze ausgelöscht, als ein erster Donnerschlag ertönte. Sie richtete sich auf und lauschte – ja, es regnete schon in Strömen. Von Zeit zu Zeit erhellte ein greller Blitz ihre Stube, und jetzt fiel ihr plötzlich ein, daß am Ende in Firmins Abwesenheit und bei Desirés Liebessorgen die Gewächshäuser nicht gehörig verwahrt sein möchten. Wenn ein Hagel käme! Sofort sprang sie aus dem Bett, warf hastig die nötigsten Kleidungsstücke über, zündete eine Laterne an und eilte zu ihrem Sohn hinauf.

»Desiré! Hörst du?«

»Hm ... hören ...« murmelte er schlaftrunken.

»Ein schweres Gewitter! Liegen die Strohmatten auf dem Gewächshausdach?«

Er rieb sich die Augen und kam allmählich zum Bewußtsein.

»Nein ... ich glaube nicht ... Himmel, da prasselt's schon!«

»Vorwärts! Fahr in deine Kleider! Wenn es hagelte, wären wir schön dran!«

Ein mit Hagelkörnern untermischter Platzregen peitschte ihnen ins Gesicht, sobald sie die Hausthüre geöffnet hatten, aber Mutter Regine war nicht die Frau, vor derlei Unbilden des Wetters zurückzuschrecken.

»Schnell! Schnell!« rief sie, in den unteren Teil des Gartens stürzend.

Phosphorischer Glanz erhellte auf Augenblicke den Himmel, schwere Donnerschläge folgten. Man erkannte beim Schein der Blitze, wie die dichten Rosenbüschel im Freiland, vom Regen gepeitscht, dahingen und daß die Strohmatten wirklich nicht über die Glasdächer gerollt worden waren. Jetzt stieß Regine einen Schrei aus.

»Herr des Himmels! Wir sind verloren!«

Haselnußgroße Hagelkörner klirrten auf Kies und Glas, zerschlitzten das Laub, schälten ganze Fetzen Rinde von den Baumstämmen ab und durchlöcherten wie Kugelregen die Glasscheiben, daß die Scherben klirrend umherflogen. Eines von diesen scharfen spitzigen Wurfgeschossen streifte Desirés Wange und sofort strömte das Blut. Jetzt erst erkannte er die Gefahr im vollen Umfang.

»Mutter!« schrie er, sie am Arm zurückreißend. »Das Unglück ist geschehen, wir können's nicht mehr ändern ... ganz vergebens setzen wir unser Leben aufs Spiel.«

Aber Regine gab nicht nach; sie wollte sich nicht halten lassen, wollte um jeden Preis zu ihren Gewächshäusern. Mit Gewalt mußte sie Desiré ins Haus zurückziehen, beinah tragen, und als sie wieder unter Dach war, weigerte sie sich eigensinnig, in ihr Schlafzimmer zu gehen und die Kleider zu wechseln. Durch das vergitterte Fenster in der Hausthür starrte sie auf die Verwüstung hinaus, und so oft das bläuliche Sicht ihr den Zustand des zerstörten Gartens verriet, rang sie die Hände und schluchzte leise. Erschöpft, fast irrsinnig vor Jammer schien sie das Naturereignis als persönliche Schuld zu empfinden.

»O mein Gott, mein Gott, jetzt ist's aus mit den Rosen,« stöhnte sie. »Was wird dein Vater sagen, wenn er heimkommt?«

Nach einer Viertelstunde verminderten sich die Hagelkörner und auch der Regen ließ nach. Das Gewitter zog weiter ins Seinethal, der Himmel wurde heller, bald trat die wachsende Mondscheibe aus dem Gewölk und beleuchtete den Besitzern der Chataigneraie den ganzen Umfang ihres Schadens. In den Gartenwegen waren Kies und Sand vollständig weggeschwemmt, unter einer Schicht von Hagelkörnern lag der Unterbau bloß, die Rosen lagen zerfetzt am Boden, die Obstbäume waren vollständig entlaubt und das eiserne Gitterwerk der Glasdächer starrte nackt und kahl in die Luft.

Beunruhigt durch der Mutter krankhafte Erregung suchte Desiré vor allem sie zu beschwichtigen und sie zu überreden, daß sie trockene Wäsche anlege, aber sie war nicht von der Hausthür wegzubringen. In den triefenden Kleidern klammerte sie sich zitternd an den Thürpfosten und schluchzte und stöhnte in tiefster Verzweiflung. In dieser Verfassung traf der heimkehrende Charmois Garten und Frau.

Der Hagel war auf ein kleines Gebiet beschränkt geblieben, in Sceaux war nur harmloser Regen gefallen. Trotzdem hatten die starken elektrischen Entladungen in der Richtung von Saint-Saviol Charmois beunruhigt und er war früher aufgebrochen, als er vorgehabt. Auf der gegenüberliegenden Anhöhe hatte er noch nichts Verdächtiges bemerken können, denn der Orkan war auf eine halbe Meile im Umkreis beschränkt geblieben, erst als er die Straße nach Versailles mit Blättern, Zweigen und Aesten beschüttet fand, hatte der Rosenzüchter Angst bekommen. Im Straßengraben hatte er's weiß schimmern sehen, und, als er hineingriff, eine Handvoll Hagelkörner zu fassen bekommen.

Als dann der Mond zwischen den Wolken vorgetreten war, wurde ihm vollends klar, wie schlimm das Wetter gehaust hatte. Die Frucht war in den Boden hineingeschlagen, Reben und Johannisbeersträucher wie von einem Kugelregen zerfetzt, ein herzbrechender Anblick. In den Weinbergen sah man da und dort Gestalten auftauchen, hörte Jammerrufe. Charmois eilte, so schnell ihn die Füße tragen wollten, nach Hause und langte atemlos in der Chataigneraie an. Sein erster Blick auf Desiré und seine verzweifelte Frau ließ ihm keinen Zweifel mehr übrig.

»Hat's uns betroffen?« rief er.

»Ein schweres Unglück!« murmelte Desiré mit gesenktem Kopf.

»Zu Grunde gerichtet sind wir!« stöhnte Regine. »Jetzt ist alles aus!«

Der Jammer seiner Frau erbarmte Charmois. Er schloß sie in seine Arme, und als er fühlte, daß sie in ihren durchnäßten Kleidern vor Frost schlotterte, führte er sie sorglich ins Schlafzimmer und brachte sie zu Bett. Dann kam er wieder herunter und machte mit Desiré eine Runde durch den Garten. Da war keine Illusion mehr möglich, die Rosen waren größtenteils tödlich verletzt, in den Gewächshäusern lagen die Pfirsichspaliere und Reben jämmerlich zerrissen unter einer Schicht von Glassplittern. Nichts, rein gar nichts war verschont geblieben, der Schaden mußte sich allermindestens auf zehntausend Franken belaufen. Charmois fand keine Worte; die Kehle war ihm wie zugeschnürt.

Ach, er wußte noch nicht einmal, was ihm bevorstand! Ins Schlafzimmer zurückgekehrt, traf er seine Frau mit fieberglühendem Gesicht, schwer atmend, vom Frost geschüttelt. Als die Atemnot auch am Morgen nicht nachgelassen hatte, schickte er nach dem Doktor Jourd'heuil. Schweigend untersuchte der junge Arzt die Kranke und schrieb sein Rezept, aber auf der Treppe sagte er: »Mein lieber Bürgermeister, ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich wenig Hoffnung habe. Beide Lungenflügel sind ergriffen und die Entzündung breitet sich rasch aus. Bei einem jungen Körper ließe sich dagegen ankämpfen, aber Frau Charmois ist nicht mehr die Jüngste und hat sich gewiß immer viel zugemutet ... Sie müssen sich aufs Schlimmste gefaßt machen.«

Dieser Ausspruch vernichtete Charmois, wie der Hagel eine Rosen vernichtet hatte, und doch fand er die Kraft, mit gelassener Miene zu seiner Kranken zurückzukehren.

»Nun, was hat er gesagt?« fragte sie mit pfeifendem, fliegendem Atem.

»Nichts Bedenkliches,« versetzte Firmin, ihrem Blick ausweichend. »Eine leichte Lungenentzündung, die in acht Tagen geheilt sein wird, wenn du dich gut hältst!«

»Dein Doktor ist ein Esel! Ich weiß, woran ich bin ... seine Tränkchen sind überflüssig ... der Hagel hat mir den Rest gegeben ...«

In der That stieg das Fieber und die Atemnot nahm zu. Nach zwei Tagen trat eine verhältnismäßige Ruhe ein und Regine verlangte nach ihren Töchtern ... Als die jungen Frauen einander auf dem Vorplatz trafen, tauschten sie feindselige Blicke aus; die Schwestern hatten sich seit der Wahl nicht einmal mehr gegrüßt. Mit roten Augen und zuckenden Lippen führte sie der Vater ins Krankenzimmer, wo Desiré in Schmerz versunken am Bett der Mutter saß.

»Meine Kinder,« stammelte Regine, »ich verlasse euch ... wenn ich nicht mehr da bin, o so gebt euch Mühe, mit dem Vater in Frieden zu leben! Ihm hinterlasse ich alles, was ich habe. Macht ihm keinen Kummer, hört ihr? Wenn ihr ihm was zuleide thut, werde ich in meinem Grab keine Ruhe haben, und das sollt ihr merken ...«

»Regine, Regine! Rege dich nur nicht auf,« bat Firmin.

Florence schluchzte überlaut, glucksend wie eine Henne, und Leontine wischte sich die Augen, die doch nicht feucht werden wollten. Jetzt zog die Mutter den Sohn, der ihre Hand in der seinen hielt, ganz nah an sich.

»Sei auch du mir nicht ungehorsam!« flüsterte sie mit Anstrengung. »Du weißt, was ich meine ... ›Heirat in Eil' bereut man mit Weil‹ ... sei ein guter Sohn, handle nie gegen den Willen deines Vaters, niemals ...«

Da erschien der Priester mit den Sterbesakramenten. Nachdem sie die letzte Oelung empfangen hatte, ließ Regine den Kopf in die Kissen sinken. Sie war bewußtlos und erkannte ihre Umgebung nicht mehr. Die ganze Nacht über murmelte sie unzusammenhängende Worte. »Die Wahl! ... Der Hagel! Alles ist aus! ... Jetzt ist's aus mit den Rosen ...« kehrten am häufigsten wieder. Nach Mitternacht begann der Todeskampf und beim Morgengrauen verschied Regine Charmois in den Armen ihres Mannes.


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