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Dreizehntes Kapitel.

Sobald Sabine sicher war, daß Toucheboeuf das Haus verlassen hatte, eilte sie in ihr Stübchen hinauf und riegelte sich ein. Sie hatte Selbstbeherrschung genug aufbringen können, um während des peinlichen Auftritts Ruhe und Haltung zu bewahren, jetzt aber trat ein Rückschlag ein, das Blut stieg ihr zu Kopf und sie zitterte am ganzen Körper. Ein furchtbares Gefühl der Vereinsamung und Hilflosigkeit überkam sie. Desiré konnte ihr für den Augenblick nichts sein, sie war ganz auf sich allein angewiesen. Trotzdem sie vor dieser Erkenntnis erschrak, sagte sie sich, daß sie um jeden Preis fort müsse. Bedenkzeit brauchte sie nicht, vielmehr mußte die Entscheidung vor Abend getroffen sein, denn sich neuem Drängen, neuer Belästigung, vielleicht Gewaltthätigkeiten des Mannes auszusetzen, der ihr jetzt nur Ekel und Abscheu einflößte, war ja rein undenkbar.

Aber wohin gehen? Wo Zuflucht finden? Angenommen, sie würde zunächst, so sehr ihr vor dem Gedanken graute, in ein Gasthaus gehen, wovon sollte sie leben? Sie kannte Toucheboeuf viel zu gut, um nicht zu wissen, daß es lang anstehen werde, bis sie ihr mütterliches Vermögen ausbezahlt erhielt; aus Bosheit wie aus Geiz würde er die Pflegschaftsabrechnung möglichst in die Länge ziehen, ja, am Ende gar nicht ablegen, eh' ihn die Behörden dazu zwängen. Das konnte eine lange, kostspielige Geschichte werden, da mußte man Gerichtsdiener, Notar und Advokat in Bewegung setzen, und all diese Herren bemühen sich nicht gern umsonst, verlangen wohl Vorschüsse, und Sabine hatte zur Zeit keinen Heller! Der Einzige, der ihr wirklich hätte raten und helfen können, war Desiré. Aber abgesehen davon, daß es ihr widerstrebte, mit dem Geliebten auch nur von Geld zu sprechen, wußte sie ja nicht, wo und wann sie jetzt eine Begegnung herbeiführen könnte. Nachdem sein Vater ihr Stelldichein entdeckt und ihm jedenfalls die Hölle heiß gemacht hatte, gebot ihm ja die Vorsicht äußerste Zurückhaltung, und Sabine konnte nicht Abend für Abend an Molés Grab sein höchst fragliches Erscheinen erwarten! Der Entschluß mußte ja überdies noch diesen Morgen, zu dieser Stunde gefaßt werden. Während sie sich noch den Kopf darüber zerbrach, stand plötzlich eine Möglichkeit vor ihr. Sie hatte an die abendlichen Stunden unter den Bäumen von Molés Grab gedacht und an deren Gefahren, und dabei war ihr das plötzliche Erscheinen ihrer Tante Adeline Nivard in den Sinn gekommen, ihr eigener Schreck und deren beschwichtigende wohlwollende Worte. Sie sah sich selbst wieder an der Seite der Tante gehen und vor dem weißen Haus an der Ecke der Waldstraße Halt machen, in ihrem Ohr klangen Adelines Abschiedsworte: »Erinnere dich, daß hier deine Tante wohnt, daß du hier eine Heimat hast, wenn man dir da unten das Leben gar zu sauer machen sollte ...«

Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Diese Gastfreundschaft war ihr so herzlich geboten worden und hier konnte sie in ihrer Not wenigstens für den Augenblick Zuflucht und Schutz finden! Adeline war ganz die Frau, sie vor Toucheboeufs Ränken zu beschützen und ihm das Heft aus der Hand zu winden! Allerdings schreckte ihr Mädchenstolz vor der Hausgenossenschaft mit einer Person von verdächtigem Ruf zurück, aber schließlich war die Wohnung einer Tante immer noch dem Wirtshaus vorzuziehen, und wählerisch durfte sie jetzt nicht sein!

Sobald der Entschluß gefaßt war, schritt sie rasch zur Ausführung. Sie vertauschte ihr Haus- mit einem Straßenkleid, zog Stiefel an und setzte den Hut auf. Dann fiel ihr erst ein, ein paar Kleinigkeiten, die ihr Stübchen schmückten, zusammenzupacken. Sie legte den Pack recht sichtlich auf den Tisch, daß er gleich auffallen mußte, steckte das Nötigste in eine kleine Handtasche und ging hinunter. Das Haus war vollkommen ruhig, nur in der Küche hörte man die Magd hantieren. Auf den Zehenspitzen schlich Sabine daran vorüber und klinkte leise die Vorthüre auf; das Herz klopfte ihr zum Zerspringen bei dem Gedanken, daß sie Toucheboeuf gerade in die Arme laufen konnte, aber die Einfahrt war leer. Eilends huschte sie über den Platz in ein enges Gäßchen und nach fünf Minuten stand sie ganz atemlos vor Adeline Nivards Haus.

Auf ihr Klingeln öffnete die Köchin nur einen Thürspalt, nachdem sie aber die Besucherin besichtigt hatte, ließ sie Sabine herein.

»Wer ist da?« fragte eine freundliche Stimme aus einem der Zimmer.

»Ich bin's, Tante!«

»Du, mein Herzchen ...« und auf der Schwelle erschien Adeline im Frisiermantel, mit aufgelösten Haaren, aber schon fest gepanzert. Ihr verwunderter Blick umfaßte das junge Mädchen und seine Reisetasche, dann küßte sie Sabine herzlich und zog sie ins Zimmer.

»Endlich bist du da!« begann sie. »Daß du mich mit Besuchen nicht verwöhnt hast, sei dir verziehen – das Wasser muß dir an den Hals gegangen sein, daß du endlich den Weg findest?«

»Ja, Tante,« gab Sabine freimütig zu, »ich bin sehr schutzbedürftig, und da erinnerte ich mich deines Worts, auf das ich nun meine ganze Hoffnung setze.«

»Ganz mit Recht, Kleine! Es ist also nicht mehr auszuhallen in der Kirchstraße? Dachte mir's ja, daß mein sauberer Schwager dir das Leben verleiden werde. Du mußt mir alles erzählen, aber erst mach dir's bequem. Magst du etwas essen?«

Ihre Haare hastig aufsteckend, daß sie wie ein Spatzennest aussahen, nahm Adeline dem jungen Mädchen den Hut ab, drückte sie in einen Lehnstuhl, schob ihr ein Kissen in den Rücken und setzte sich erwartungsvoll ihr gegenüber. Und nun erzählte Sabine, häufig von drastischen Ausrufen der Tante unterbrochen, was zu erzählen war.

»Ach, der alte eklige Kerl!« rief die Tante am Schluß des Berichts. »Dieser greuliche Geselle! Das sieht ihm ähnlich! Dem ist nichts heilig, nicht einmal die nächsten Verwandten! Denke dir, als ich noch ein junges Ding war, hat er mir zu Lebzeiten seiner Frau, meiner Schwester, nachgestellt, mir Zumutungen gemacht, daß ... daß er meine Krallen zu spüren bekam! Das ist's, was er mir nachträgt, und du hast gar nichts Besseres thun können, Liebchen, als ausreißen und ihn mit seinen Johannistrieben stehen lassen!«

»Nicht wahr, Tante? Nach seinem Antrag konnte ich ja keinen Tag mehr mit Ehren im Haus bleiben, und so bin ich fortgelaufen auf die Gefahr hin, betteln gehen zu müssen. Du bist meine einzige Verwandte. Willst du mich aufnehmen, bis ich Toucheboeuf gezwungen haben werde, mir mein mütterliches Vermögen herauszubezahlen? O, bitte, bitte, Tante, schick mich nicht fort, ich bin so unglücklich, so verlassen!«

Sabine hatte an diesem Tag viel Selbstbeherrschung üben müssen, jetzt strömten die Thronen um so leidenschaftlicher und erregten das tiefste Mitgefühl der gutherzigen Adeline, die sie wie ein Kind in die Arme nahm und hätschelte.

»Wozu denn weinen, Liebling? Der Kerl ist's nicht wert, daß du dir die hübschen Augen verdirbst! Natürlich nehme ich dich mit tausend Freuden auf, so lang du willst, mein Haus soll deine Heimat sein. Bei mir holt er dich nicht, da kannst du ganz ruhig sein! Und dein Muttergut soll er bei Heller und Pfennig herausbezahlen, Kapital und Zinsen, ich werde ihm schon die Daumschrauben ansetzen! Ruh dich nur aus, ich mache inzwischen dein Zimmer bereit ...«

Sabines Handtasche ergreifend, rief sie schmetternd: »Philippine! Koch uns nur etwas Gutes! Meine Nichte bleibt da!«

Adeline war im siebenten Himmel. Teilhaben an einer wirklichen Liebesgeschichte und sich zugleich an ihrem Schwager rächen können, das paßte ihr! Die Nichte, die er vertrieben hatte, beherbergen, verhätscheln, beraten, vertreten, das mußte ja Toucheboeuf zu Tod ärgern! Rasch riß sie die Fenster in dem Sabine zugedachten Zimmer auf. Es ging auf den Garten hinaus und war ein freundlicher Raum, mit den Rokokomöbeln des seligen Notars eingerichtet. Eigenhändig bereitete sie das Lager in der weiß lackierten Bettlade, füllte Wasserflasche und Krug, legte Handtücher bereit und stürzte dann in den Garten, um für die Vasen auf dem Kaminsims Rosen zu schneiden. Als sie einen letzten Blick auf ihr Werk warf, kam ihr sogar ein höchst ehrenwertes Bedenken. Die Stiche, die an den Wänden hingen, taugten wirklich nicht für ein jungfräuliches Gemach! Rasch mußte Philippine sie abnehmen und auf den Speicher tragen.

»So, Herzchen,« sagte sie, jetzt Sabine hereinführend, »das ist dein Zimmer. Jetzt wasch dir nur die Augen aus und mach dir's bequem, dann wollen wir essen ... ja so, du hast ja gar nichts mitgebracht an Kleidern und Weißzeug. Das thut nichts, du kannst vorläufig alles von mir haben und heute abend noch lasse ich deine Sachen holen. Wenn Toucheboeuf sich weigert, sie herzugeben, bekommt er's mit mir zu thun!«

Schlag zwölf Uhr setzten sich Tante und Nichte zu Tisch, aber trotzdem die Mahlzeit Philippines Kunst alle Ehre machte, konnte Sabine kaum einen Bissen hinunterbringen, sie war noch zu aufgeregt.

»Jetzt lasse ich dich ein halbes Stündchen allein,« erklärte ihr die Tante beim Kaffee, »denn ich muß einen Gang machen. In deinem Zimmer findest du alles, was du zum Schreiben brauchst, nütze meine Abwesenheit und setze einen klugen Brief an deinen erbärmlichen Onkel auf. Teile ihm mit, daß du bei mir seiest und bleiben wollest, und fordere ihn auf, deine Habseligkeiten in gutem herauszugeben und zur Pflegschaftsabrechnung zu schreiten. Bis du damit fertig bist, werde ich auch zurück sein.«

Sabine that, wie ihr geheißen wurde, und als sie eine halbe Stunde darauf mit ihrem Brief ins Wohnzimmer zurückkehrte, erschien auch alsbald die Tante, aber nicht allein.

»Sabine,« sagte Fräulein Nivard mit ungewohnter Hoheit, »ich stelle dir hier meine Nachbarn vor, den Herrn Doktor Jourd'heuil und den Herrn Graveur Loyer, jetzigen Adjunkten des Bürgermeisters. Meine Herren, Fräulein Sabine Panvert, meine Nichte, die von nun an bei mir wohnen wird. Nicht wahr, Herzchen?«

Sabine bejahte das und äußerte ihre Dankbarkeit für die gütige Aufnahme, die sie bei der Tante gefunden habe.

»So, meine Herren,« fuhr Fräulein Nivard fort, »Sie haben sich überzeugt, daß es meiner Nichte freier Entschluß ist, fortan bei mir zu leben. Es ist Ihnen ferner bekannt, daß sie volljährig ist und das Recht hat, ihren Wohnort nach Gefallen zu wählen. Ich ersuche Sie also, sich jetzt zu Meister Toucheboeuf, meinem werten Schwager, zu begeben, ihm zu berichten, was Sie hier gesehen und gehört haben, und ihm diesen Liebesbrief zu überreichen ...«

Damit nahm sie Sabine den Brief aus der Hand und gab ihn dem Doktor, worauf sich die beiden Herren unter höflichen Redensarten zurückzogen.

»So, mein Schatz!« rief Adeline wieder in ihrem Alltagston. »Jetzt können wir uns ruhig aufs Ohr legen! Gib mir einen Kuß!«

Schon am selben Tag verbreitete sich die Nachricht von Sabines Flucht in Saint-Saviol. Der Graveur Loyer versicherte abends beim Bier, daß es ›ganz gewiß‹ sei, und die verschiedenen Ehemänner erfreuten beim Nachhausekommen ihre Frauen mit der unerhörten Kunde, die bis zum nächsten Morgen durch höchst romanhafte Einzelheiten bereichert war. Sie erregte ›berechtigtes Aufsehen‹ und wurde in verschiedener Lesart weiter gegeben. Die einen sagten, Sabine sei entflohen, um sich vor den Mißhandlungen ihres Onkels zu retten, die andern, er habe sie vor die Thüre gesetzt, weil sie nicht von Desiré Charmois lasse. Im allgemeinen gönnte man Toucheboeuf den Verdruß und freute sich, daß der Tyrann im eigenen Hause auf Widerstand gestoßen war, billigte dagegen den von Sabine gewählten Zufluchtsort keineswegs. Ein junges Mädchen durfte nicht bei einer Person von mehr als fraglichem Ruf wohnen! Das war ja für sie fast noch schlimmer, als die schlechte Behandlung bei ihrem Onkel, darüber waren alle ehrbaren Familien, und Saint-Saviol bestand nur aus solchen, im Nu einig.

Toucheboeuf selbst ließ sich nirgends blicken. Nach den Erfahrungen bei der Wahl hatte ihn dieser neue Mißerfolg ganz danieder geworfen, er gehörte aber zu den Leuten, die ihr häusliches Mißgeschick nicht auf dem Markt ausschellen, verkroch sich vielmehr in seine Stuben, wo er wie eine arme Seele im Fegfeuer hin und her rannte. Die Gewißheit, daß ihm Sabine für immer verloren war, und die Vorstellung, daß sie gerade bei der verhaßten Schwägerin Schutz und Beistand gesucht und gefunden hatte, erregte ihm immer aufs neue die Galle. Verletzter Hochmut, eingebüßte Geldvorteile, mißachtete Herrschermacht – alles quälte ihn, daß er hätte laut aufschreien mögen, aber er schwieg, versteckte sich wie ein weidwundes Tier in seine vier Wände und nährte und schürte seinen Groll.

Natürlich hatte das Dienstmädchen wohl gemerkt, was vorging, und mußte ihrem Herzen Luft machen. Die erste, bei der sie ihrer Zunge freien Lauf ließ, war die Hausgenossin Leontine Lavaur, die sich denn auch am nächsten Morgen eilig aufmachte, um die große Neuigkeit brühwarm in die Chataigneraie zu tragen. Sie gehörte ja zu den schönen Seelen, die nie glücklicher sind, als wenn sie ihrem lieben Nebenmenschen etwas Unangenehmes sagen können. Selbst die schwüle Gewitterluft, die an diesem Tag herrschte, konnte sie von diesem Werk der Barmherzigkeit nicht abschrecken.

Die Familie Charmois saß beim zweiten Frühstück: noch wußte sie nichts von dem Ereignis, das Saint-Saviol bewegte, aber die gestrige Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn lastete aus den Gemütern und schweigsam und mürrisch verzehrte man seine Mahlzeit. Schon wollte Desiré vom Tisch aufstehen, als Leontine unter der Thür erschien. Der vergnügliche Ausdruck ihrer runden Augen brachte ihn gleich auf die Vermutung, daß sie eine Bosheit im Schild führe, und mit einem Gefühl des Unbehagens behielt er seinen Platz bei.

»Guten Morgen, Papa ... wie geht's euch allen?« rief sie, geschäftsmäßig ihre Angehörigen der Reihe nach mit einem trockenen Kuß bedenkend. »Was sagt ihr denn zu der großen Neuigkeit? Ja, das ist eine Geschichte!«

»Was ist denn los?« fragte Charmois geistesabwesend, indem er sein Biskuit in den Wein tauchte.

»Was? Ihr wißt noch gar nichts?«

»Wir stehen nicht immer auf der Straße, um vor andrer Leute Thüren zu kehren,« bemerkte die Mutter verächtlich, »und haben Wichtigeres zu thun, als zu klatschen.«

»Ich brauche auch nicht auf der Straße zu stehen und vor andrer Leute Thüren zu kehren, die Geschichte ist nämlich in meinem eigenen Haus passiert ...«

»Bei Toucheboeuf?« rief Desiré, in tiefster Seele erschreckend.

»Bei Toucheboeuf?« fragte auch der Vater etwas befangen, denn ihm schwante, daß die ›Geschichte‹ eine Folge seiner Unterredung mit dem Getreidehändler sein möchte, und die Splitter der platzenden Bombe konnten am Ende seinen eigenen Sohn treffen.

»Jawohl, bei Toucheboeuf! Gestern gab's einen gräßlichen Auftritt zwischen ihm und seiner Nichte. Das Mädchen sagt, sie habe ihren Herrn schimpfen und Toben hören wie noch nie! Worüber sie sich gezankt haben, weiß niemand so recht, aber kaum war der Onkel fort, als das Fräulein mit Sack und Pack Reißaus nahm.«

»Sie war von jeher ein Trotzkopf,« bemerkte der Rosenzüchter gelassen.

Desiré sagte nichts, aber sein Blick ruhte mit unheilverkündender Spannung auf dem Vater.

»Das kommt Bei der heutigen Erziehung heraus!« brummte Frau Regine, die Brotkrumen vom Tischtuch kehrend. »Man darf seinen eigenen Kindern nichts mehr sagen, ohne daß sie sich gegen einen stellen wie die Schlangen. Ich habe ja nicht viel übrig für diesen Toucheboeuf, aber das Mädchen hat er aus freien Stücken aufgenommen und groß gezogen, und wenn sie sich etwas zu schulden kommen läßt, ist's doch sein gutes Recht, ihr die Meinung zu sagen.«

Ein peinliches Schweigen trat ein. Charmois fühlte sich sehr unbehaglich unter dem forschenden Blick des Sohnes, weil sein Gewissen ja wirklich nicht rein war, stand auf, trommelte ans Fenster, sah nach dem Wetterglas und bemerkte: »Wir werden heute abend wohl ein Gewitter bekommen.«

Die Prophezeiung war sehr richtig, nur daß sich zuvörderst ein solches in seinem eigenen Haus entladen würde, sah er nicht voraus.

»Das ist noch nicht alles,« fuhr Leontine mit boshaftem Lächeln fort. »Ratet einmal, bei wem das durchgegangene Fräulein untergeschlüpft ist. Bei der Nivard! Bei einer Person, mit der niemand umgeht, die ihren Wohlstand ihren Liebhabern verdankt!«

Desiré senkte mit einer gewissen Beschämung die Augen.

»Das finde ich ganz natürlich,« warf Frau Charmois hin. »Wer seine Familie nicht achtet, achtet auch sich selbst nicht.«

»Das ist ein starkes Stück!« rief Charmois, der diese Entwickelung mit Vergnügen vernahm, war sie doch geeignet, Sabine in Desirés Augen herabzusetzen und seine Liebe abzukühlen. »Ein starkes Stück! Ein Mädchen, das bisher für besonnen, stolz und anständig galt, mit einer solchen Person zusammenleben!«

»Mich wundert's gar nicht,« versicherte Frau Lavaur. »Gleich und gleich gesellt sich gern, und diese Sabine mit den Ziegenaugen war von jeher ein gefallsüchtiges, verliebtes, frühreifes, sinnliches Ding! Das Haus ihrer Tante, wo nur unanständige Bilder an den Wänden hängen, jedes Möbel von Sinnlichkeit und Laster trieft, ist gerade der richtige Ort für sie! Dort kann sie vollends weiter lernen und sich Liebhaber anschaffen nach Belieben ...«

»Schweig!« herrschte Desiré sie plötzlich an. »Sei so gut und schweige, sonst kann es zu schlimmen Häusern führen! Sabines kleiner Finger ist mehr wert, als deine ganze Person, sie ist keine Heuchlerin und kein Neidkrüppel ...«

Leontine maß den erregten Bruder mit einem bösen Blick.

»Ja so, daran dachte ich gar nicht ... nun, es gehört sich auch, daß du dich zu ihrem Ritter aufwirfst, nachdem du ihre Huld genossen hast.«

»Lügnerin! Du weißt, daß daran kein wahres Wort ist! Aber du bist eine Giftschlange und gleich, als ich dich kommen sah, war ich auf deinen Biß gefaßt! Nachdem du die Deinigen um schnödes Geld an Toucheboeuf verraten hast, willst du jetzt Unfrieden säen zwischen den Eltern und mir. Mach, daß du fortkommst ... zwing mich nicht, dich aus dem Haus zu werfen!«

»Desiré! Ich bitte dich!« stöhnte der von dieser Wendung sehr betroffene Vater.

» Dumich aus dem Haus werfen?« gab Leontine entrüstet zurück. »Ich habe wohl ebensoviel Recht, im Elternhaus zu sein, als du, falls Vater und Mutter nichts dagegen haben.«

Sie sah die Eltern fragend an, da der Vater aber weislich schwieg, um Desiré nicht noch mehr zu reizen, und die Mutter mißbilligend den Kopf schüttelte, hielt sie es für geraten, zum Rückzug zu blasen.

»Nun, es gibt ja Leute, die nicht gern die Wahrheit hören, und ich scheine euch wirklich lästig zu sein ... guten Tag!«

Sobald sie hinaus war, trat der Rosenzüchter auf seinen Sohn zu.

»Du bist zu weit gegangen, Desiré,« sagte er halb vorwurfsvoll, halb beschwichtigend. »So spricht man nicht mit einer Schwester! Leontine hat ja schließlich nur die Wahrheit berichtet, und wenn sie es auch schonender hätte thun können ...«

»Papa, ich bitte dich, reden wir nicht weiter über die traurige Angelegenheit. Es könnte sein, daß ich auch dir Vorwürfe zu machen hätte, und ich will lieber schweigen.«

Desiré flüchtete sich in den entlegensten Teil des Gartens. Sein Gemüt war von Zweifeln belastet; eine tiefe Niedergeschlagenheit kam über ihn. Der Streich hatte getroffen. So ungerecht es war, auch Desiré machte dem jungen Mädchen ihre Handlungsweise zum Vorwurf und Ernüchterung, ja Mißtrauen griff in seinem Herzen Platz.


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