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Drittes Kapitel.

Desiré verweilte, nachdem er seine Rose in Sicherheit gebracht hatte, nicht lange am Kaffeetisch, sondern schlich sich alsbald davon, ging in seine Stube hinauf, hüllte die Neuschöpfung sorglich in Seidenpapier und verließ damit das Haus.

Durch die Waldstraße, die längs des Baches mit nagelneuen kleinen Landhäusern besetzt, aber noch wenig bewohnt war, ging er, um dann linker Hand zum Mittelpunkt des Dorfes, dem Platz der Quinconces, zu gelangen, wo Rathaus und Schule bei einander standen. An den andern drei Seiten des schmalen Platzes befanden sich alte Häuser, die dem Verkehr und Handel von Saint-Saviol dienten: die Apotheke, zwei Wirtshäuser, Fleischer, Bäcker und Spezereiläden. Ein Eckhaus, das mit einer Seite gegen die Kirchstraße ging, war das Toucheboeufsche.

Das durch eine breite Einfahrt in zwei Teile geschnittene, mit starken eisernen Gittern vor den Fenstern des Erdgeschosses versehene steinerne Haus, war ansehnlich und trug das Gepräge behäbigen Bürgertums. Ueber dem ersten Stock, dessen Fenster durch graue Rollvorhänge verhüllt waren, zogen sich Speicher mit runden Luken hin und aus dem Giebel ragte senkrecht über dem Einfahrtsthor ein Kran, der bei der Ernte die Vorräte hinaushob. Eloi Toucheboeuf hatte dieses stattliche Heim zur Zeit seiner Verheiratung selbst erbaut, bewohnte es jetzt mit seiner Nichte Sabine und hatte den überflüssig gewordenen Teil der Wohnung an den Professor Marius Lavaur vermietet.

Toucheboeuf war neben Charmois der einflußreichste Mann in Saint-Saviol. Sein Vater, von normännischem Ursprung, hatte einen bescheidenen Wohlstand erworben, den der Sohn durch Getreidehandel zu einem großen Vermögen gesteigert hatte. Er besaß sehr viele Grundstücke auch außer der Markung Saint-Saviol und galt für den reichsten Mann der Gegend. Jeder Acker, der unter den Hammer kam, reizte seine Gier, umgekehrt konnte er sich zu keinem Verkauf entschließen, und eine Wiese oder ein Stück Gartenland wieder herzugeben, wäre ihm ans Leben gegangen. Seine Mitbürger hatten ihn längst den Marquis von Carabas getauft und behaupteten, daß er seine Frau, die verstorbene Katharine Nivard, nur genommen habe, weil ihre zwei Morgen Baumgut an seine Besitzung gegrenzt hätten. Das Grundstück habe er haben müssen und die Frau mit in Kauf genommen. Sie war die älteste von drei Schwestern gewesen; Adeline, die zweite, hatte der Familie Schande gemacht, Zelie, die jüngste, war als Frau Panvert früh gestorben. Frau Toucheboeuf hatte ihrem Mann keine Erben geschenkt, und nach ihrem Tod hatte er sich entschlossen, ihre Nichte, Sabine Panvert, bei sich aufzunehmen.

Sein Gemüt war indes an dieser schönen That wenig beteiligt. Er rechnete vielmehr darauf, daß sie ihm den Ruf der Großmut und Güte eintragen werde, der ihm bisher in bedenklichem Maß abgegangen war, und zweitens hoffte er, sich in dem dankbaren Mündel eine billige Haushälterin und Gesellschafterin heranzuziehen. Er hatte sie denn auch richtig mit sechzehn Jahren aus der Schule genommen und ihr die Leitung des Haushalts übergeben. Sie führte ihm Buch und teilte sich mit dem Dienstmädchen in die häusliche Arbeit. Toucheboeuf sorgte dafür, daß sie nie unbeschäftigt war; im Winter gab es Wäsche auszubessern und zu erneuern, im Sommer hatte sie den Garten zu beschicken oder die Taglöhner im Baumgut und den Erdbeerpflanzungen zu beaufsichtigen, abends dem Onkel die Zeitung vorzulesen. Hatte sie ihre mannigfaltigen Pflichten erfüllt, so spielte er den guten Papa und ließ sie gewahren; Sabine durfte allein ausgehen, der Sonntag gehörte ihr und am Jahrmarkt führte Toucheboeuf selbst sie auf den Tanzplatz, wo sie nach Herzenslust tanzen durfte, vorausgesetzt, daß sie am Tag darauf doch mit der Sonne aus den Federn war und nicht das Geringste versäumte.

Bei einer solchen Tanzgelegenheit hatten sich Desiré und Sabine wieder zusammengefunden, nachdem sie als Kinder wohl miteinander gespielt, sich aber in den Schul- und Klosterjahren aus den Augen verloren hatten. Gegenseitig fühlten sie sich angezogen, und da der Vater Charmois und Onkel Toucheboeuf auf Du standen und kameradschaftlich zusammenhielten, war es nicht schwierig gewesen, einen Familienverkehr einzuleiten. Auf dem Rückweg von ihrem Baumgut sprach Sabine manchmal in der Chataigneraie vor und Desiré nützte jeden Vorwand, zu Toucheboeuf zu gehen – besonders zu den Stunden, wo er gewiß war, nicht ihn, sondern die Nichte anzutreffen! Der Getreidehändler paßte viel zu gut auf, um diese Vorgänge zu übersehen: da aber eine Heirat mit dem Sohne des reichen Rosenzüchters kein Unglück für ihn bedeutet hätte, spielte er einstweilen den Ahnungslosen.

Als Desiré an diesem schönen Junitag mit seiner Rose vor Toucheboeufs Haus angelangt war, blieb er ein Weilchen davor stehen und betrachtete den stattlichen Bau, durch dessen dunklen Thorbogen man das frische Grün des dahinterliegenden Gartens schimmern sah. Die Straße war einsam, sonntägliche Stille lag darüber; vom Kirchturm ertönte das Vespergeläute; die Frauen waren jetzt ihrem Seelenheil nachgegangen, die Männer dem Bier. Desiré trat unter den Thorbogen und klingelte sachte an der Thür zum Erdgeschoß. Sabine in Person that ihm auf.

Sie schien nicht überrascht zu sein von seinem Anblick, blieb aber, eine Hand auf der Thürklinke, die andre am Thürrahmen, stehen, als ob sie ihm den Eingang versperren wolle.

»Guten Tag, Fräulein Sabine! Ist Herr Toucheboeuf zu Hause?« fragte Desiré sittsam.

»Nein, Herr Desiré ... es wundert mich, daß Sie sich gar nicht merken können, daß er um diese Zeit im Café sein Spielchen macht! Er wird sehr bedauern ...«

Sie sagte es ganz ernsthaft, aber ihre Augen lachten mutwillig dazu und mit spöttischer Miene schickte sie sich an, die Thüre wieder zu schließen.

»Aber lassen Sie mich trotzdem eintreten!« bat Desiré in komischer Bestürzung.

»Da Sie nur nach dem Onkel fragen, sollte ich Sie eigentlich wieder fortschicken,« sagte sie schelmisch, »schon zur Strafe für Ihre Heimtückerei ... aber ich will Gnade vor Recht ergehen lassen.«

Und sie ging ihm voran nach einer kleinen Schreibstube, deren Fenster auf den Garten gingen. Es war dämmerig darin, denn der Laden war halb geschlossen, aber zwischen seinen Stäben sah man in der hellen Sonne draußen scharlachrote Geranien leuchten, blühendes Geißblatt duftete und die viereckigen Gemüseländer prangten in jungem Grün. Das Zimmer war einfach und altväterisch eingerichtet: eine Mahagonischreibkommode mit Schriftstücken beladen, darüber ein Bücherbrett mit Geschäftsbüchern, ein Lehnstuhl mit sehr abgenutztem Bezug, auf dem Kamin Gläser mit Getreideproben, fettig glänzende schwarze Lederstühle und ein runder Tisch mit Marmorplatte, worauf Sabine die illustrierte Zeitschrift gelegt hatte, die sie eben las.

Sabine war zwanzig Jahre alt, weder groß noch klein zu nennen, von runden und doch zarten Formen, die ein dunkelblaues schlichtes Sommerkleid günstig hervorhob. Sie hatte sich nicht gesetzt, sondern war vor dem Kamin stehen geblieben, wo ein neugieriger Sonnenstrahl durch den Laden hereinschlich, offenbar um sich ihres frischen lachenden Gesichts zu erfreuen. Der weiße, schlanke Hals trug ein hübsch geformtes Köpfchen mit kastanienbraunem Haar, das kunstlos und doch sehr gefällig in einem lockeren Knoten aufgesteckt war. Ihre Haut schimmerte hell und leuchtend, die frei gezeichneten Brauen waren sehr dunkel und die braunen Augen voll Güte und Heiterkeit. Die Züge waren regelmäßig, höchstens konnte man das Kinn als zu vorspringend tadeln, es hatte aber ein so liebenswürdiges Grübchen und der ein wenig große Mund zeigte so entzückende Zähne, daß diese Regelwidrigkeiten auch als besondere Reize aufgefaßt werden konnten. Die ganze Erscheinung atmete Jugendkraft, frische Gesundheit, so daß ihr Anblick auf jeden wohlthuend wirken mußte.

»Warum sehen Sie denn so geheimnisvoll aus,« fragte sie mit einem belustigten Blick, »und was steckt denn in dem Seidenpapier?«

»Eine neue Rose, die ich in unsern Gewächshäusern gezüchtet habe. Heute früh hat sich die erste Blüte geöffnet und ich bringe sie Ihnen, weil ich um die Erlaubnis bitten möchte, der Rose Ihren Namen zu geben.«

Vorsichtig schlug Sabine die Papierhülle auseinander, und als sie die Rose sah, stieß sie einen Freudenschrei aus.

»Ach, wie entzückend! Wie schön sie ist und wie herrlich sie riecht!« rief sie, den Duft einsaugend.

»Die einzige ihrer Art in ganz Frankreich und, wenn Sie nichts dagegen haben, die ›Schöne Sabine‹.«

»Wie sollte ich etwas dagegen haben? Ich bin im Gegenteil ungeheuer stolz darauf und danke Ihnen herzlich!«

Sie hatte die Rose in ein Wasserglas gestellt und bot ihm jetzt beide Hände. Desiré ergriff sie, als ob er sie nicht mehr lassen wollte, und die beiden standen Aug' in Auge, wobei sich die Wangen des jungen Mädchens immer höher färbten, gleich dem Karmin ihrer Rose.

»Jetzt setzen Sie sich aber,« sagte sie, sich endlich von ihm lösend, »und erzählen Sie mir, wie die Rose entstand.«

Er gehorchte, fand aber nicht gleich Worte; beide fühlten sich von diesem wonnigen Händedruck seltsam beklommen. Dann begann Desiré mit verschleierter Stimme vom chinesischen Ursprung der Rose und seinen Versuchen zu berichten.

»Das ist ja aber eine große Ehre für mich!« rief Sabine. »Da wird mein Name in Ihren Katalogen durch die ganze Welt wandern? Wenn nur Ihre Schwestern nicht eifersüchtig werden!«

»Das sind sie schon, aber was kümmere ich mich darum!«

»Ich doch ... mir ist so wie so, als ob sie mich nicht leiden möchten, und nun vollends ... Frau Vigneron macht mir keine Sorgen, die ist mit sich beschäftigt, aber Frau Lavaur ... Wenn wir uns auf der Treppe begegnen, grüßt sie mich kaum und macht ein Gesicht, als ob sie am liebsten über mich wegschreiten möchte ... die könnte mir bei Ihrem Vater schaden ...«

»Nur keine Angst! Wenn sie sich so etwas einfallen ließe, würde ich ihr den Standpunkt schon klar machen! Sie hat niemand um Rat gefragt, als sie ihren Professor haben wollte, und ich werde auch auf ihre Zustimmung verzichten, wenn ich heirate ...«

Sein Blick ergänzte die Worte.

»Sie sind immer derselben Meinung, Herr Desiré?« fragte Sabine halb lächelnd, halb zurückweisend.

»Mehr als je, Sabine,« erklärte er mit Entschiedenheit, »und zwar soll sich's bald entscheiden.«

»Warum so hastig?« entgegnete sie errötend. »Sind wir nicht jetzt auch glücklich? Warum uns nicht des jetzigen Verkehrs erfreuen, ohne die Dinge zu überstürzen?«

»Weil wir aus der Ungewißheit herauskommen müssen, weil es an der Zeit ist, offen zu sprechen, Sie mit Ihrem Onkel, ich mit meinen Eltern.«

»Und gerade davor habe ich solche Angst!«

»Weshalb?«

»Ich weiß es selbst nicht ... mir bangt vor etwas Unvorhergesehenem, vor einem Mißgeschick, das uns trennen könnte.«

»Um so mehr müssen wir handeln! Was auch kommen mag, Sabine, mich trennt nichts von Ihnen und wir haben kein Mißgeschick zu fürchten, wenn ... wenn Sie mir auch ein wenig gut sind!«

»Sollten Sie darüber nicht längst im klaren sein?« fragte sie lächelnd, indem sie ihm wieder beide Hände reichte.

Stumm, die Blicke ineinander versenkt, saßen sie Hand in Hand und eine heiße Glut schwellte beiden die Brust; nur wie im Traum hörten sie das Vogelgezwitscher im Garten draußen, bis ein Geräusch sie erschreckte. Ein Schlüssel wurde in die Hausthür gesteckt, schwere Schritte erschollen auf den Fliesen im Flur, und rasch ließen sie einander los.

Im nächsten Augenblick stand Toucheboeuf unter der Thür.

»Haha!« rief er lachend. »Man unterhält sich ja hier recht gut! Wenn die Katze fort ist, tanzen die Mäuse!«

»Ich wollte Sie besuchen, Herr Toucheboeuf ...«

»Und es war dir wohl recht unangenehm, nur Sabine anzutreffen, nicht, mein Junge?« rief Toucheboeuf mit einem behäbigen Lachen, das den großen Körper erschütterte.

Trotz seiner fünfundsechzig Jahre stand der Getreidehändler noch auf der Höhe seiner Kraft. Es war ein Mann wie ein Eichbaum mit einem harten, viereckigen, echt normännischen Bauernkopf. Das glattrasierte Gesicht mit der frischen Farbe zeigte ein eigentümliches Gemisch von Bäuerlichkeit und schlauem Humor. Die Lippen waren schmal, vorsichtig, ironisch; unter buschigen Brauen hervor zwinkerten die Augen meist mit einer Gutmütigkeit, die harmlose Menschen irre führte, denn beim geringsten Widerspruch wetterleuchtete es in den grauen Pupillen und ein herrischer, rachsüchtiger Geist blinkte daraus hervor.

Toucheboeuf kleidete sich mit einer Einfachheit, die an Nachlässigkeit grenzte. Am Sonntag zur Messe zog er allerdings einen schwarzen Rock an, dazu trug er aber ein Strohhütchen wie ein Sommerfrischler, und die Woche über ging er in einem weiten blauen Fuhrmannskittel. Sein Machtbewußtsein war so groß, daß er auf Wahrung irgend eines Scheins verzichten zu können glaubte. Mehr als einmal hatte man ihm die Bürgermeisterstellung angeboten, aber er zog es vor, als einfacher Gemeinderat, ohne Verantwortlichkeit und ohne den durch diese Würde bedingten Aufwand die Gemeindeverwaltung am Drähtchen zu lenken. Dazu war ihm der jetzige Ortsvorstand Delory, ein willenloser alter Mann ohne jegliche Thatkraft, gerade recht.

Während er Desiré in dieser Weise neckte, überflog sein Blick die ganze Stube und seinem Scharfsinn entging es nicht, wie nah die Sessel der jungen Leutchen bei einander gestanden hatten. Jetzt griff er mit seiner plumpen fleischigen Hand nach der Rose und sah sie neugierig an.

»Hm ... ein nettes Ding ... nicht aus unserm Garten?«

»Nein,« erklärte Sabine. »Die Rose ist ein Geschenk von Herrn Desiré, eine ganz neue Art, die er selbst gezüchtet hat und die er so liebenswürdig sein will, nach mir zu benennen.«

»Das ist wirklich nett von dir, mein Junge, gerade an meine Nichte zu denken ... aber, zum Kuckuck, was stellst du sie denn in ein Glas, statt sie der Patin an die Brust zu heften? Ja, diese Versäumnis muß nachgeholt werden und einen Kuß darfst du der Rosengevatterin auch geben,« sagte Toucheboeuf lachend.

Desiré ließ sich das nicht zweimal sagen und küßte Sabine auf beide Wangen. Dann machte er sich daran, die Rose an ihrem Kleid zu befestigen, benahm sich aber so ungeschickt dabei, daß Sabine ihm zu Hilfe kommen mußte.

»Man sieht, daß du keine Uebung darin hast,« bemerkte Toucheboeuf mit verschmitztem Lächeln. »Jetzt geh, Sabine, und hole den Nußlikör, daß wir auf deine Gesundheit trinken!«

Als Sabine die Gläser gebracht und gefüllt hatte, erhob Toucheboeuf, nach der Rose an ihrer Brust schielend, das seinige und sagte: »Alle Achtung, Kleine, die Rose ist nach Form und Farbe wohl gelungen ... hm, hm ... sie wird dem Haus Charmois ein nettes Stück Geld eintragen! Mit dem roten Bändchen im Knopfloch kann dein Vater die Preise seiner Rosenstöcke überhaupt noch einmal so hoch ansetzen, und da thut er nur recht und es fällt mir nicht ein, was dagegen zu sagen ... Auf dein Wohl, mein Junge! Vor jedem, der durch Fleiß und Geschick vorwärts kommt im Leben, ziehe ich gewiß den Hut, aber Nichtsnutze, die auf der Straße herumstolzieren und mit dem Geld klappern, das sie in der Gosse aufgelesen haben, vor denen speie ich aus! Du wirst dir denken können, wen ich damit meine,« wandte er sich an Sabine. »Muß ich eben wieder deiner sauberen Tante begegnen, herausgeputzt wie ein Pfau und frech wie ein Fischweib!«

Dieser Gewaltige, dem alles nach Willen ging und der sich schmeichelte, all seine Mitbürger in der Hand zu haben, trug doch eine Verletzung seiner Eigenliebe mit sich herum, die ihn unausgesetzt reizte und ihm das Leben vergiftete. Die mißratene Schwester seiner Frau, jene Adeline Nivard, hatte sich seit drei Jahren wieder in Saint-Saviol angesiedelt. Nach einer stürmisch bewegten Jugend war sie »Gesellschafterin« bei einem alten Notar in der Nähe von Longjumeau geworden, und dieser hatte ihr sowohl aus Dankbarkeit für »mannigfaltige Dienste«, die sie ihm geleistet hatte, als um seine Verwandten zu ärgern, sein ganzes Vermögen hinterlassen. Sobald sie ihren auf zwei- bis dreihunderttausend Franken geschätzten Besitz angetreten hatte, war Adeline Nivard in Saint-Saviol aufgetaucht, hatte sich Haus und Garten gekauft und ihre Mitbürger, die sie einst von sich gestoßen hatten, durch ihre Wohlhabenheit in Verblüffung gesetzt. Daß sie damit ihrem Schwager Toucheboeuf einen Tort anthat, war ein Beweggrund mehr gewesen, Saint-Saviol als Wohnort zu wählen.

»Jawohl!« rief Toucheboeuf, den Rücken an seiner Stuhllehne reibend, wie ein Stier, der Stechfliegen los werden will. »Und kannst du dir etwas Unverschämteres denken? Dieses Frauenzimmer kommt nach der Vesper – so etwas geht ja in die Kirche! – ins Café Munerel, wo ich meine Partie spiele, und fegt mit ihrem Rock hart an mir vorbei! Natürlich ein Hauptjux für die lieben Nächsten ... fast hätte ich ihr eine Ohrfeige versetzt!«

»Rege dich doch nicht so auf, Onkel, sie ist es gar nicht wert, und du ärgerst sie viel mehr, wenn du sie nicht bemerkst. Uebrigens scheint sie jetzt wenig von sich reden zu machen und ganz anständig zu leben.«

»Zum Henker, mit Fünfzig werden sie alle anständig! Und nicht ärgern soll ich mich, wenn jeder mit Fingern aus die aufgetakelte alte Puppe weist und dabei dem andern zutuschelt: ›Toucheboeufs Schwägerin!‹«

Desiré hatte sich eines leisen Lächelns nicht enthalten können, was ihm einen bitterbösen Blick des Getreidehändlers eintrug.

»Nun,« setzte er hinzu, »schwarze Schafe gibt's ja freilich in jeder Familie ...«

Der junge Mann hatte Grund, sich bei solchen Anspielungen befangen zu fühlen, und stand auf, um sich zu verabschieden.

»Was, schon fort?« sagte Toucheboeuf wieder eitel Wohlwollen. »Nun, dann sage deinem Vater, daß ich etwas mit ihm besprechen möchte ... Nein, nein, er braucht sich nicht herzubemühen! Ich will morgen früh so wie so nach meinen Himbeerkulturen sehen, und die sind ja nur ein paar Schritte von euch weg ... Wenn dein Vater so gut sein wollte, mich gegen zehn Uhr dort aufzusuchen, könnten wir die Sache in Ruhe besprechen.«

Desiré war ganz rot geworden, denn daß die Unterredung seinen Beziehungen zu Sabine gelten würde, stand für ihn fest und der fast krampfhafte Händedruck, womit ihn das junge Mädchen entließ, zeigte, daß sie derselben Meinung war.

»Also morgen um zehn Uhr!« rief ihm Toucheboeuf noch unter der Hausthür nach. »Nicht vergessen.«

»Das vergesse ich gewiß nicht, Herr Toucheboeuf!«


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