Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel.

Während Desiré und Sabine in der erdbeerduftigen Hütte Zeit und Welt vergaßen, waltete Firmin Charmois in der Gemeinderatssitzung seines Amtes. Der Abend war so warm, daß man alle Fenster geöffnet hatte, und jeder machte sich's so bequem als möglich, manche von den Männern, die um die lange, mit grünem Tuch bezogene Tafel saßen, hätten sogar die Röcke abgelegt. Ein paar Gasflammen beschienen die kahlen, goldbraun tapezierten Wände, die in sehr fraglichem Geschmack mit dreifarbigen Fähnchen ›geschmückt‹ waren, den schwarzen Marmorkamin mit der Gipsfigur der Republik darauf und die schläfrigen oder erhitzten Köpfe der Herren Gemeinderäte.

Den Ellbogen auf den Kaminsims gestützt, stand seitwärts der Ratschreiber und machte seine Aufzeichnungen. Der Bürgermeister saß zwischen seinem Adjunkten Loyer und dem Baumeister Despaquis, der das Protokoll führte, an der Langseite des Tisches. Desiré hatte nicht zu viel gesagt, sein Vater war in der That merkwürdig verändert. An Stelle der gesunden Röte, die sonst sein Gesicht bedeckt hatte, wechselten jetzt ziegelrote Flecken mit fahlem Weiß, seine bläulichen Lippen zuckten häufig und seine Bewegungen waren unstet und hastig. Beim geringsten Widerspruch fuhr er heftig und zitternd von seinem Stuhl auf, und Widerspruch sollte ihm heute nicht erspart bleiben. Die Hügelstraße stand einmal wieder auf der Tagesordnung, und Charmois' Geduld wurde auf eine Probe gestellt, der sie nicht mehr gewachsen war. Der Ausführung dieser Straße, die der jetzige Gemeinderat seinen Wählern so fest versprochen hatte, stellten sich unvorhergesehene Schwierigkeiten entgegen, die natürlich von den Gegnern, Toucheboeuf an der Spitze, gehörig ausgebeutet wurden. Die rechtliche Begründung des Enteignungsverfahrens gegen den Getreidehändler schuf Verzögerungen, die den ungeduldig darauf wartenden Hausbesitzern unverständlich waren und die man kurzweg dem Gemeinderat in die Schuhe schob. Jetzt eben stellte der Gemeinderat Jacquin, ein Mann von bäuerischer Ungeschlachtheit, den Ortsvorstand über die ›Unthätigkeit‹ der Behörde zur Rede.

»Ich möchte wirklich fragen, was dahinter steckt?« brummte er. »Wir haben die Ausführung der Straße einstimmig beschlossen und die Mittel dazu bewilligt, und noch immer ist kein Spatenstich gemacht. Der Winter wird kommen und wir werden nach wie vor im Schmutz waten dürfen. Darf ich den Herrn Bürgermeister um Auskunft bitten, warum die Geschichte nicht vorwärts geht, wer die Schuld trägt, daß sie immer wieder auf die lange Bank geschoben wird?«

»Die Gemeindeverwaltung jedenfalls nicht,« versetzte Charmois merkbar erregt. »Die Herren wissen so gut als ich, daß die Verzögerung nur von einem Grundeigentümer herrührt, gegen den wir Zwangsenteignung anwenden müssen.«

»Ja, warum geschieht denn das nicht, warum ist es nicht längst geschehen?«

Sich mühsam zur Ruhe zwingend, zählte der Bürgermeister den Herren alle Einzelheiten des umständlichen Verfahrens auf, erklärte ihnen, daß Gemeinden als Minderjährige betrachtet werden, die ohne Vollmacht der Präfektur nicht handeln können, versuchte ihnen den verwickelten Mechanismus des Gesetzes vom 3. Mai 1841 zu erläutern, daß die ›Notwendigkeit im öffentlichen Interesse‹ vorn Staatsrat ausgesprochen, eine Kommission ausgestellt, nach mancherlei Warnungen ein Urteil gefällt werden müsse. Den wackeren Bürgern von Saint-Saviol waren aber juristische Feinheiten böhmische Dörfer: sie hörten mit vorgestrecktem Hals und runden Augen zu und wußten nicht recht, ob der Bürgermeister sich nicht etwa über sie lustig mache.

»Von dem Krimskrams versteh' ich nichts,« rief jetzt Mansuy, der dicke Wirt vom »Blumenkorb«. »Ich weiß nur, daß wir den Wählern die Straße versprochen haben und Wort halten müssen!«

»Der Kollege hat recht,« fiel der Bauunternehmer Saintot in schneidendem Ton ein. »Der Gemeinderat muß den Herrn Bürgermeister auffordern, Maßregeln zu treffen, wonach die Arbeit in Angriff zu nehmen ist.«

»Mein' ich auch,« stimmte Jacquin bei. »Das Getrödel und Ausflüchtesuchen muß ein Ende nehmen.«

Jetzt war's um Charmois' Mäßigung geschehen.

»Herr Jacquin,« rief er, mit der flachen Hand auf den Tisch schlagend, »ich bin nicht in der Laune, Ungezogenheiten hinzunehmen ... wenn Sie Mittel und Wege zur Beschleunigung wissen, so trete ich Ihnen meinen Platz ab ...«

Erschrocken suchte Loyer den Aufgeregten zu beschwichtigen.

»Nein, Loyer, lassen Sie mich nur reden! Ich habe die Geschichte satt! Wenn es so weitergeht, mag die Schärpe nehmen, wer Lust hat ... Die Sitzung ist aufgehoben.«

Bestürzt sahen die Gemeinderäte einander an, während Charmois hastig den Saal verließ. Draußen war's still, die meisten Häuser schon dunkel. Nur aus dem »Blumenkorb« strahlte noch Licht und ertönte Blechmusik; die Harmonie hielt im ersten Stock Probe.

»Diese Tröpfe,« knurrte Charmois, den heißen Kopf entblößend, um in der Nachtluft Kühlung zu finden. »Nur noch ein Augenblick und sie hätten sich alle auf Jacquins Seite geschlagen! Opfere man sich nur für die Menschen! Ich widme ihnen meine Zeit und mein Geld, verwahrlose meine eigenen Geschäfte um ihretwillen, und das ist der Dank!«

Er blieb plötzlich stehen und mußte sich an einem Baumstamm anklammern. Etwas Seltsames ging mit ihm vor; die Beine wurden ihm weich wie Watte, sein Herz that tiefe heftige Schläge, setzte dann plötzlich aus und er fühlte eine Ohnmacht nahen. Schon ein- oder zweimal hatte er sich in einem solchen Zustand befunden, diesmal aber war's schlimmer als früher. Indessen kam der Blutumlauf doch allmählich wieder ins Geleise, der Herzschlag wurde regelmäßiger und ruhiger. Firmin wischte sich den kalten Schweiß von der Stirne und konnte langsam seinen Weg fortsetzen.

Tiefe Stille lag über der Chataigneraie; zu Charmois' Verwunderung war Desiré noch nicht zu Hause. Nach der eben überstandenen Beklemmung und Beängstigung berührte ihn diese öde Einsamkeit doppelt schmerzlich. Wie anders war's gewesen, als seine Regine ihn noch nach den Sitzungen erwartet und ihm eine Limonade zurechtgemacht hatte, damit er besser schlafen könne! Jetzt war er ein einsamer Mann. Wohl hatte er einen guten Sohn, einen tüchtigen Gehilfen, aber seit jener Auseinandersetzung über Sabine im vorigen Jahr war die herzliche Vertraulichkeit zwischen ihnen dahin. Desiré hüllte sich über seine persönlichen Angelegenheiten und Zukunftspläne in Schweigen und der Vater mochte ihm gegenüber nicht eingestehen, wie viel Widerwärtigkeiten und Kränkungen ihm auf dem Rathaus blühten, so war allmählich eine Entfremdung zwischen ihnen entstanden und keiner entschloß sich, das Eis zu brechen. Lange dachte Firmin in dieser Nacht in seiner einsamen Witwerstube an die glücklichen Zeiten, wo Regine alles mitempfunden hatte, was ihn bewegte; ihr hätte er auch jetzt sein Herz ausschütten, die Zänkereien in der Sitzung erzählen können, und sie würde ihn erst beruhigt und dann verständig beraten haben, denn wer hatte je richtiger geurteilt in seinem Sinn als diese Frau? Jetzt lag sie draußen unterm Rasen, nie mehr würde ihre beherzte warme Stimme durch dieses öde Haus tönen.

Mitten in diesen wehmütigen Betrachtungen hörte er vorsichtig gedämpfte Schritte auf der Treppe des ersten Stocks, leise wurde eine Thür aufgeklinkt. Das mußte Desiré sein.

»Bist du's, Junge?« rief der Vater von seiner Schwelle aus.

»Ja, Papa ... schläfst du denn noch nicht?«

Charmois hoffte, Desiré werde hereinkommen und ein wenig mit ihm plaudern, aber der junge Mann hatte heute zu viel mit sich selbst zu thun, um an andre zu denken, und rief einfach: »Gute Nacht! Schlaf wohl, Papa!«

Enttäuscht und doch befriedigt, den Sohn wenigstens unter dem väterlichen Dach zu wissen, legte sich Charmois endlich nieder. Er schlief denn auch sofort ein und wachte am andern Tag ziemlich spät auf. Als er herunterkam, hatte Desiré schon gefrühstückt und war ins Baumgut gegangen, um die Taglöhner zu beaufsichtigen; so mußte Charmois seinen Kaffee allein trinken.

Eben war er daran, einige Geschäftsbriefe zu öffnen, die man ihm neben seine Tasse gelegt hatte, als er Leontine Lavaurs schrille Stimme auf dem Vorplatz hörte.

»Ist mein Vater im Eßzimmer?«

»O weh, was wird da wieder kommen!« dachte Charmois mit Bangen, rief aber selbst hinaus: »Jawohl, komm nur herein!«

Leontines Gesicht sah so sauer aus wie eine unreife Traube. Sie trug noch tiefe Trauer, ein prall sitzendes Wollkleid, den Krepp vom Hut um den mageren Hals geschlungen. Mit raschem Blick überzeugte sie sich, daß der Vater allein war, dann begann sie: »Ich störe dich doch nicht, lieber Vater?«

»Nein, ich habe meinen Kaffee schon getrunken.«

»Du hast Florence heute noch nicht gesehen?« fragte sie beiläufig.

»Nein, wie käme ich dazu?«

»Sie wählt ja gewöhnlich die frühen Morgenstunden, wenn sie ein Anliegen an dich hat,« warf sie höhnisch hin, »diesmal aber wollte ich ihr zuvorkommen!«

»Womit?«

»Mit der alten Geschichte – dem Erbteil von unsrer guten Mutter. Es thut mir ja sehr leid, dieses peinliche Thema wieder zu berühren, aber ich bin dazu gezwungen. Trotz der größten Sparsamkeit reicht Lavaurs Gehalt nicht zum Leben aus, und da meint mein Mann, es wäre nur recht und billig, wenn mein mütterliches Vermögen uns dazu beitrüge, den wachsenden Anforderungen ...«

»Ich habe dir bereits gesagt und Desiré hat dir's bestätigt, daß eine sofortige Teilung ganz gegen unsern gemeinsamen Vorteil wäre. Unser bescheidener Besitzstand besteht wesentlich aus Grundstücken. Sollte die Teilung jetzt vorgenommen werden, so müßten die Chataigneraie und die Baumschulen unter den Hammer kommen, und das hieße die ganze Familie zu Grunde richten. Begreifst du denn das nicht? Uebrigens hast du so gut als ich gehört, daß deine arme Mutter auf ihrem Sterbebett mir allein die Verfügung über unsern gemeinsamen Besitz zugesprochen.«

»Das weiß ich wohl, und käme es nur auf mich an, so wäre mir Mamas Wunsch heilig, wenn er auch ein gewisses Mißtrauen gegen mich enthält ... allein mein Mann sieht die Sache ganz anders an. Er behauptet, Mama sei schon nicht mehr bei Besinnung gewesen, als sie diesen Wunsch ausgesprochen habe, und mein Schwager Vigneron stimmt ihm bei. Sie sagen, dem Gesetz nach hätte die Mutter dir überhaupt nur den vierten Teil ihres Vermögens als Eigentum und von einem andern Vierteil die Nutznießung bestimmen können, und jetzt haben sie im Sinn, Anspruch auf ihren Teil zu erheben ...«

»Und du hast es übernommen, diesen Anspruch zu übermitteln!« rief Firmin mit Bitterkeit. »Echt kindlich!«

»Ich habe es übernommen, weil ich dich lieber in Güte darauf vorbereiten wollte, als dich einem Austritt mit Vigneron aussetzen. Du weißt ja, wie grob und rücksichtslos er ist.«

»Während du mir mit zarter Hand das Messer an den Hals setzest!«

»Fass' doch nicht alles so schlimm auf, Papa! Wir wollen dich ja nicht zwingen, die Chataigneraie zu verkaufen, gewiß nicht, wir, mein Mann und ich, wissen, daß wir dir Rücksichten schuldig sind, wir fordern gar kein Kapital ... wir, wir dachten nur, du könntest uns den ungefähren Zins meines mütterlichen Vermögens geben ... wenn du uns die Summe urkundlich als Jahresrente aussetzen wolltest?«

»Rührend von euch! Reizende Kinder! Und nur eine Urkunde wollt ihr haben, mein Wort genügt euch nicht! Das geht mir denn doch über die Hutschnur! Dabei vergeßt ihr ganz, dein Herr Gemahl und du, daß ich euch in drei Jahren vier- bis fünftausend Franken vorgestreckt habe. Wenn ich die nun mit Zinsen zurückfordere?«

Da entstand auf dem Vorplatz ein Geräusch, die Zimmerthüre wurde weit aufgerissen und Prosper Vigneron erschien, feierlich, ein Bild sittlicher Entrüstung, die Gattin vor sich her schiebend.

»Ja, was soll denn das bedeuten?« stammelte Charmois.

»Das bedeutet, mein Herr, daß ich Ihnen Ihre Tochter zurückbringe,« lautete Vignerons Antwort.

Leontine hatte sich beim Eintritt des Ehepaars in eine Fensternische zurückgezogen. Vigneron kochte sichtlich vor Wut, der Kneifer zitterte auf seiner Nase, seine gelbe Haut war heute grünlich, alles zuckte an ihm. Florence hatte verweinte Augen, war sehr unordentlich angezogen und sank jetzt, als ihr Mann ihr einen Stoß gab, willenlos auf einen Stuhl, ganz und gar büßende Magdalena.

»Behalten Sie Ihre Tochter! Ich habe genug an ihr!«

»Ja, was hat sie nur gemacht?« fragte der unglückliche Vater, hilflos um sich blickend.

»Was sie gemacht hat?« erwiderte Vigneron höhnisch. »Schulden! Ich mußte erfahren, daß sie aller Welt Geld schuldig ist –« er zog ein Bündel Rechnungen aus der Tasche und blätterte mit zuckenden Fingern darin. »Ihrer Putzmacherin achtzehnhundert Franken, der Schneiderin dreitausend, dem Wäschegeschäft zwölfhundert ... dem Bäcker, dem Fleischer ... das Haushaltungsgeld hat sie verplempert und für wen? Für ihre Liebhaber, mein Herr, denn ich weiß, daß sie mich schamlos betrügt.«

»O! Wie kannst du das sagen?« stöhnte Florence.

»Ich habe Beweise,« erklärte Vigneron im Ton des Untersuchungsrichters, indem er einen Brief auf dem Tisch ausbreitete. »Man hat mich über den Lebenswandel der Gnädigen aufgeklärt!«

»Ein anonymer Brief!« rief Florence etwas kühner. »Eine Gemeinheit irgend eines häßlichen Frauenzimmers, das neidisch ist, weil ich hübsch bin!«

Leontine machte unwillkürlich eine Bewegung, als ob sie sprechen wollte, begnügte sich aber mit einem haßerfüllten Blick auf die Schwester. Obwohl Florence ihr Gesicht mit den Händen verhüllte, entging ihr dieses Mienenspiel nicht.

»Aber ich werde den Namen dieser niederträchtigen Verleumderin schon herausbringen,« erklang es hinter den vorgehaltenen Händen, »und dann wehe ihr!«

»Anonym oder nicht, der Inhalt des Briefes hat sich ja bestätigt,« fuhr Vigneron fort. »Ich gab infolge dieser Warnungen gestern abend vor, ich müßte mit einem früheren Zug nach Paris, ging auch wirklich fort, kehrte aber bald zurück. – Unter dem Schutzdach vor der Hausthür muß ich lange warten, bis man mir aufmacht, dann steige ich rasch die Treppe hinauf, gehe in mein Schlafzimmer und will von dort in das ihrige. Die Zwischenthür ist verriegelt, ich rufe, schreie, bis endlich der Riegel zurückgeschoben wird und ich meine vortreffliche Gattin in einer Verwirrung finde – sowohl des Anzugs als der Seele, daß ich nicht mehr an meiner Schande zweifeln kann.«

»Das ist eine Lüge!« rief die gekränkte Unschuld. »War etwa jemand bei mir?«

»Nein, der ›jemand‹ ist durchgebrannt! Wahrscheinlich mit Hilfe der gefälligen Hauswirtin, die Nivard versteht sich ja auf dergleichen. Ich habe genug gesehen, um meiner Sache sicher zu sein, und bin nicht gesonnen, den gehörnten Ehemann weiter zu spielen! Ich werde auf Scheidung klagen und vor allen Dingen in den Lokalblättern erklären, daß ich keine Schulden der Frau Florence bezahle!«

»Das werden Sie hübsch bleiben lassen, Vigneron!« rief jetzt Charmois, der bisher nur in stummer Qual die Hände gerungen hatte. »Wollen Sie, daß ein solcher Makel des Namens Ihren Sohn durchs Leben verfolge?«

» Meinen Sohn ... als ob ich dessen so sicher wäre!«

»O der Unselige!« stöhnte die thränenreiche Angeklagte. »Er verleugnet sein eigenes Fleisch und Blut!«

Der beleidigte Gatte schüttelte die Faust gegen sie.

»Als ob dir etwas an deinem Kind läge! Weniger als an einer Katze! Um von ihrer Aufsicht frei zu sein, hast du heute früh die Amme kreuz und quer im Ort herumgeschickt und der Kleine konnte sich halbtot schreien vor Hunger! Eine gewissenlose Gattin und eine gewissenlose Mutter!«

Jetzt hielt Florence den Zeitpunkt gekommen, Rührung zu erwecken. Mit ihren aufgelösten Haaren und thränennassen Wangen warf sie sich vor dem Vater nieder.

»Papa, erbarme dich mein, steh mir bei ... ich bin zu unglücklich! Ja, ich war eitel, verschwenderisch, aber ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist, den Fehltritt, dessen er mich anklagt, habe ich nicht begangen!«

Die aufgeschwollenen Lippen, die nassen Augen, die schwer atmende Brust, der wirr an ihr herumhängende Anzug, alles diente zur Erhöhung der sinnlichen Reize dieser Kokette. Selbst Leontine mußte sich gestehen, daß sie die Schwester nie schöner gesehen habe, und fürchtete schon, Vigneron werde sich kirren lassen.

»Oho, darüber werden uns die Richter Klarheit geben,« brummte dieser indes in finsterem Groll.

»Nein,« erklärte Charmois, von Angst und Verzweiflung getrieben, »Nein, Sie werden Ihre häuslichen Sorgen nicht vors Gericht bringen, schon aus Rücksicht auf Ihre Beamtenlaufbahn werden Sie eine Klage unterlassen, die sich nur auf Vermutungen stützt. Bedenken Sie, welcher Lächerlichkeit Sie preisgegeben wären, wenn diese Klage abgewiesen würde, opfern Sie Ihrem Rachedurst nicht Ihre Zukunft! Sie drohen mit einer Zeitungserklärung, daß Sie die Schulden Ihrer Frau nicht bezahlen? Nehmen Sie mir's nicht übel, das ist einfach kindisch! Sie wissen sehr wohl, daß der Mann für alle Verpflichtungen einzustehen hat, die seine Frau während der Ehe eingeht, und daß Ihre Gläubiger über diese verspätete Einsprache einfach lachen müßten! Da möchte ich Ihnen denn doch ein zweckmäßigeres Verfahren vorschlagen,« setzte er zögernd hinzu. »Lassen Sie mir die Rechnungen da, ich will versuchen, mit den Gläubigern ein gütliches Abkommen zu treffen.«

Dieser Vorschlag übte eine äußerst beruhigende Wirkung auf den beleidigten Ehemann. Er sah den Schwiegervater prüfend an, dann die verführerische Frau, die immer noch auf den Knieen lag, und überreichte schließlich dem Rosenzüchter die Rechnungen.

»Es sei denn! Einzig und allein aus Rücksicht auf Sie, verehrter Vater, will ich die – Unbesonnenheiten Ihrer Tochter noch einmal hingehen lassen, werde sie aber von nun an unter strenger Aufsicht halten.«

»Florence! Bitte deinen Mann um Verzeihung!«

Die knieende Büßerin schluchzte noch heftiger als zuvor und stammelte kaum vernehmlich: »Verzeihung ... ich gebe mein Wort, daß ich nicht bin, wofür man mich ausgibt!«

»Genug,« sagte der Gestrenge trocken. »Dein Vater möge dich des weiteren über deine Pflichten belehren ... ich vergeude hier schon zu lange Zeit und Kraft, die dem Staat gehören. Auf Wiedersehen, lieber Vater! Ich verlasse mich darauf, daß Sie die Geldgeschichten ordnen werden, von denen ich nichts mehr hören will.«

Damit nahm er seinen Hut, glitt wie eine Schlange durch den Thürspalt hinaus und verschwand. Kaum daß er durch den Garten gegangen war, stand Florence auf, trocknete ihre Augen, strich ihr Haar zurück und fuhr auf die Schwester los.

»Eigens hergekommen bist du, um meine Hinrichtung mitanzusehen? Hat dir's gefallen, hm? Wahrscheinlich bist du nicht ganz auf deine Kosten gekommen ...«

»Ich weiß nicht, was du meinst,« versetzte Leontine hochmütig.

»Das weißt du sehr genau, aber ich wußte nicht, daß du neben deinen andern netten Beschäftigungen auch noch anonyme Briefe schreibst!«

»Florence!« rief der verzweifelte Vater. »Der Zorn reißt dich hin. Deine Schwester ist einer solchen Schlechtigkeit nicht fähig!«

»Oho, die ist jeder Gemeinheit fähig! Weißt du etwa nicht mehr, daß sie dich an Toucheboeuf verkauft hat? Dir mußte man freilich erst die Augen öffnen, ich aber sehe klar – sie und niemand sonst hat mich bei Vigneron verleumdet.«

»Lüge!« murmelte Leontine.

»Nein, Wahrheit,« sagte Florence, den Brief ergreifend, den ihr Mann hatte liegen lassen. »Du hättest dir wenigstens die Mühe geben sollen, deine Handschrift besser zu verstellen ... sie ist's und dein Stil auch, nebst deinen Schreibfehlern! Ha,« kreischte sie, das Papier wütend zusammenballend, »damit sollte ich dir deine häßliche Fratze zerkratzen!«

»Florence!« flehte der arme Vater. »Beruhige dich! Du thust mir so weh!«

»Laß sie sich austoben,« sagte Leontine mit ihrer scharfen Stimme, »das wird sie am ehesten beruhigen. Meine Liebe, wenn ich auch jeder Gemeinheit fähig bin, wie du mir so schwesterlich vorwirfst, meinen Mann habe ich wenigstens nie betrogen.«

»Das glaub' ich dir aufs Wort! Den Liebhaber möchte ich sehen, der etwas von dir wollte, deshalb bist du ja so wütend! Jawohl, du bist eine ehrbare Frau, die ihrem Vater das Geld aus der Tasche stiehlt, um die Spielschulden ihres sauberen Mannes ...«

»Ich rate dir, von Schulden zu schweigen, während der Vater deine Rechnungen in der Hand hält, die er bezahlen muß. Tausende und Tausende! Und du wagst es, mir vorzuwerfen, daß ich Geld von ihm fordere! Du richtest ihn zu Grund, du bist der Schandfleck der Familie!«

»Leontine, Florence! Wollt ihr mich töten?«

»Gewiß nicht, Papa,« sagte Leontine, »aber ich lasse mich von einer Schwester, die sich zu Tod schämen sollte, nicht beschimpfen! Eine Person, die Schulden macht, um sich für ihre Liebhaber zu putzen! Wenn meine arme Mutter noch lebte, die würde ihr die Thür weisen!«

»Meine Mutter, deren Tod du durch deine Bosheiten beschleunigt hast. Und wie ehrst du ihren letzten Willen – bist du etwa nicht hier, um von Papa die Herausgabe der Erbschaft zu fordern? Du und dein habgieriger Mann!«

»Wer ist denn auf den Gedanken gekommen? Wer hat meinen Mann zu einem Advokaten geschleppt, ihn über seine Rechte belehren zu lassen? Niemand anders als Vigneron!«

»Das kann man Vigneron nicht übel nehmen, er ist Familienvater, handelt im Interesse seines Sohnes ...«

» Seines Sohnes! Für den könnten sechsunddreißig Väter handeln!«

»Ich verbiete dir, mein Kind auch nur zu nennen ...«

Kampfbereit wollten sie aufeinander losstürzen, aber Charmois packte Leontine am Arm.

»Ich befehle dir, zu schweigen.«

»Gut,« knirschte Frau Lavaur, die Hand des Vaters abschüttelnd, »wenn du mich ungestraft beschimpfen läßt, so ist mein Platz nicht mehr in diesem Haus. Ich werde es nur noch einmal betreten, und zwar in Begleitung eines Sachwalters, der meine Rechte vertritt. Diese ehrlose Person mag hier walten!«

Wutschnaubend stürzte sie davon. Charmois sank erschöpft auf einen Stuhl und preßte die Hände vors Gesicht.

»Väterchen,« flüsterte Florences bestrickende Stimme, »nicht wahr, du glaubst kein Wort von dem, was sie über mich sagen?«

Langsam hob er den Kopf und sah sie mit einem Ausdruck unaussprechlichen Ekels an.

»Geh ... geh ... ich habe keine Töchter mehr! Laßt mich in Frieden! Ich will nichts mehr von euch sehen, nichts hören ...«

Florence zuckte die Achseln, steckte ihre Haare auf, betupfte ihr Gesicht mit dem Taschentuch und ging wiegenden Schritts hinaus.


 << zurück weiter >>