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Siebzehntes Kapitel.

»Mich soll nur wundern,« sagte Luckner unterwegs im Coupé, »wie lange es noch dauern wird, bis. die Elektrizität auch auf den Fernbahnen den Dampf verdrängen wird. Stiller wird es dann auch nicht zugehen, aber das qualmende Ungetüm an der Spitze des Zuges wird man doch nicht ungern missen. Sieh doch nur, wie die Schwaden sich stickig über das Feldgrün lagern. Brrr – und wie der Ruß durchs Fenster einfliegt. Ich werde zumachen und auf der anderen Seite öffnen.«

Herbrinck ließ, während der Graf mit dem Schließen des einen Fensters beschäftigt war, das andere herunter und zog zugleich die Gardine vor.

»Die wird etwas schützen,« meinte er, »auch vor dem Staub. Und der ist wohl lästiger als der Qualm.« »Und wird auch bei der Elektrischen nicht abnehmen. Vollkommen ist eben nichts. Nicht mal'n Mensch. Nicht mal du.«

Herbrinck lächelte.

»Davon bin ich überzeugt, Graf –«

»Natürlich, hast dich ja schon für dreiviertel lädiert gehalten. Das ist aber gerade so falsch wie das andere, daß du – immer ein ruhiger, besonnener Mensch – plötzlich den Kopf verlieren konntest. Freut mich nur, Herbrinck, daß ich auch mal den meinen für dich einsetzen durfte, nachdem es so lange umgekehrt gewesen ist. Ich habe übrigens noch vom Hotel aus eine Drahtnachricht geschickt, um welche Zeit wir ankommen. Wegen des Wagens. Und abholen werden sie uns auch wollen. Wetter, wenn man einen lieben Menschen wiedergefunden hat, merkt man erst, wie gut man ihm war. Nun mag kommen, was da will – auf Timmhusen soll uns niemand mehr die Eintracht stören. Bisher hast du allein gewirtschaftet. Laß mich von nun an ein bißchen mittun, dir ein bißchen mehr Kamerad sein, statt dir bloß zuzuschauen. Dann bleibt für dich auch mal Zeit zum Aufatmen, und über dem ewigen Plagen verlernst du das Lachen nicht ... Hin nach Berlin hatte ich eine andere Gesellschaft, wenigstens die Hälfte des Weges. Eine Grünkram- oder Schlächter- oder Bäckermadam mit so'n fünfzig Mille Brillanten; 'n Kasten für gute drei Normale ... Hast du Majestät in Berlin gesehen? Nein? Ich auch bloß die Standarte auf dem Schloß. Die Schloßfreiheit futsch, das Denkmal des ersten Wilhelm da, der neue Dom – 's hat sich manches um das Schloß zum Vorteil verändert. Wart' einmal, ich glaube, wir sind nicht mehr fern von Friedrichsruh. Oder schon vorbei? Wahrhaftig. Das ist schon Reinbeck. Schade. Auf der Hinfahrt habe ich's in Gedanken auch verpaßt. Und hätte doch gern mal einen Blick auf die Schlummerstätte des alten Riesen geworfen ... Jetzt noch anderthalb Stunden – na, kleine zwei, dann sehen wir heimische Gesichter. Die Bahnfahrt ist mir greulich. Aber so ist man: ginge es noch mal so schnell, würde es immer noch nicht reichen.«

In Hamburg mußten sie den Zug wechseln, und der neue kroch in einem Schneckentempo. Erst nach Verlassen des Altonaer Bahnhofes wurde die Fahrt wieder beschleunigter.

»Herrjeh!« stieß Luckner aus und pochte sich lachend gegen die Stirn. »Die schönsten Gedanken kommen einem doch immer erst, wenn's zu spät ist! Denkst du noch an den Kuhn-Tönndorpschen Segen? Die netteste Ehrenpforte hätten sie damit bauen können – nun wird natürlich niemand darauf verfallen sein!«

»Wenn ihn die Besitzerin hätte hergeben mögen, Luckner –«

»Ja, ja, ich hätt's einfach anordnen sollen. So 'ne Gelegenheit gibt's nicht wieder. Ewig schade ...«

Pinneberg – Elmshorn – Wrist – Neumünster.

Auf dem endlosen letzterwähnten Bahnhof ein nochmaliges Umsteigen.

Bokhorst – die Station vor dem Endziel.

Herbrinck stand am Fenster und spähte in die vertraute Landschaft.

Weite Buchenwälder in prangendem Frühlingsschmuck, gewellte lichtgrüne Saatfelder, Gehöfte mit blinkenden Fenstern und braunen Strohdächern, umgeben oder überschattet von blühenden Obstbäumen. Ein einziger Garten das verjungte Land, so weit das Auge zu schauen vermochte.

An einer Kurve schleuderten die Wagen, daß Herbrinck sich einen Augenblick am Fensterriemen festhalten mußte. Dann ein schrilles, langgezogenes Signalpfeifen von der Lokomotive, ein ruckendes, rasselndes Bremsen – die heimatliche Station war nahe.

Herbrinck bog sich aus dem Fenster, sah das hellgestrichene Stationsgebäude aus einem festlichen Baumgrün auftauchen und den Bahnsteig von den Wartezimmern aus sich beleben. Auf den ersten Blick erkannte er die befreundeten Gutsnachbarn und in einer Gruppe von Damen die schlanke Gestalt der Komteß Helene.

Er zog sich zurück, und das Herz krampfte sich ihm in heftigem Schlagen. Die Neugierigen, die sich ansammeln mochten, fürchtete er nicht; aber der erste Schritt zu den Vertrauten, der erste Gruß und Blick marterten ihn. Seine Flucht erschien ihm plötzlich als eine Schwäche, der ausgesuchte Empfang als eine liebenswürdige, aber bewußte und demütigende Nachsicht.

»Reickendorf!« rief der Schaffner, und Luckner winkte der Tochter und den Freunden freudig grüßend zu.

»Da haben wir ihn wieder!«

Die Bewegung stand auch ihm auf dem erhitzten Gesichte geschrieben.

Er schob Herbrinck vor, und die Hände von Tönndorp und Menge streckten sich dem Aussteigenden zuerst entgegen.

»Die acht Tage waren eine Ewigkeit,« prustete Tönndorp und schüttelte die Hand des Angekommenen. »Das Timmhusener Treibhaus haben wir noch nicht plündern wollen, Herbrinck, zumal nicht viel zum Plündern da war; aber das ›Willkommen daheim!‹, alter Freund, klingt uns von der Stelle, an der das Herz sitzen soll.«

Menges Erbprinz zappelte ungeduldig neben der Mama und schoß, als er losgelassen wurde, wie ein Pfeil vor.

»Ontel Herbrint, Ontel Herbrint!« stammelte er und klammerte sich selig an den Arm des Heimgekehrten.

Herbrinck hob ihn empor, nickte ihm lachend zu und ließ ihn wieder auf den Boden gleiten, um für die Begrüßung der Damen frei zu werden.

Helene trat ihm mit bezauberndem Lächeln entgegen, und die große Freude malte eine blühende Glut auf ihre Wangen.

»Timmhusener Jüngste, du bist der leibhaftige Frühling,« verglich Tönndorp. »Lach' zu, das macht die anderen mit froh.«

Herbrinck konnte den Blick nicht von ihr wenden.

Nichts von Vorwurf, nichts von Zurückhaltung. Ein verklärender Freudenschimmer, ein berückendes Liebreiz in den edlen Zügen. Herbrinck riß sich gewaltsam los, begrüßte die beiden ältesten Damen und folgte der Gesellschaft in den kleinen Wartesaal erster und zweiter Klasse, in dem durch Menges Fürsorge einige Erfrischungen bereitgestellt waren.

Tönndorp trank Herbrinck zu.

»Auf dein Wohl! Oder meinst du, weil aus der Hochzeit nichts wird, soll die Brüderschaft auch futsch gehen? I, warum nicht gar.«

Der zwanglose, familiäre Empfang hatte Herbrinck die Überzeugung eingegeben, daß ihm nach wie vor die Herzen dieser Menschen gehörten, und die von Tönndorp wohlbedachte Auszeichnung ließ ihn dankbar erkennen, daß nichts von seiner Wertschätzung verloren gegangen war.

»Meine Herrschaften, gottlob, Sie sind mir treu geblieben. Meinen innigen, tiefgefühlten Dank! Und da Sie mich als den Alten hinnehmen wollen – ich war heimisch unter Ihnen geworden, ich werde mich noch freudiger mit Ihnen verbunden wissen ... Tönndorp, Dank für deine Güte!«

»So,« sagte Luckner in die gehobene Stimmung, »eine weitere Aussprache brauchen wir nicht. Schlußzeichen unter das Geschehene, und weiter im alten, vertrauten Gleise!«

Der junge Menge brachte sich in Erinnerung.

»Hast du mir was mittebracht?« fragte er den Paten treuherzig.

Ja, Herbrinck hatte den kleinen Bengel nicht vergessen.

»Natürlich,« sagte er, »mußt aber noch warten. Nachher, wenn wir zu Hause sind ... Zu Hause! Wie es doch so traut und wohlig klingt! Ich bin so herzensfroh ...«

Luckner drängte fort.

»Der Reisestaub ist mir ungemütlich. Und Sehnsucht nach Timmhusen habe ich auch ... Ist alles in Ordnung, Kleine?« fragte er.

Sie bejahte.

»Eveline ist auf ein paar Tage nach Kiel gefahren,« fügte sie hinzu. »Du hattest ihr ja die Erlaubnis gegeben, Papa.«

»Soll sich nicht stören lassen,« knurrte Luckner. »Die Gräfin Soden hat nun mal einen Narren an ihr gefressen. Schon lange eingeladen, Herbrinck. Nun aber vorwärts!«

Die Wagen hielten hinter dem Stationsgebäude, und die Damen nahmen im ersten, die Herren im zweiten Platz. Einige Angestellte der Bahn grüßten, und Luckner dankte jovial.

Herbrinck lehnte sich bequem zurück und sog mit Hellem Frohmut die heimatlichen Eindrücke in sich.

In den Bauerngärten Reickendorfs ein maifrisches Sprossen und Duften. Rotdorn, Syringen und Kirschbäume in wetteifernder Pracht. Weiß und lila der Flieder, rotgesprenkelt das Blütenmeer der Apfelbäume. Narzissen, Krokus und Tulpen auf gepflegten Beeten. Rasenflächen im unentweihten Junggrün ...

Die Dörfler lüfteten die Mützen vor den hellgekleideten Damen und wiederholten den Gruß, wenn der zweite Wagen mit den bekannten Herren herankam. Mancher Blick traf auf Herbrinck, und manche Mütze wurde mit schnellerem Ruck abgenommen und tiefer gezogen, wenn ihr Eigentümer den Verwalter von Timmhusen erkannt hatte.

Wie der Frühling in der Natur, so hatten die Menschen ein großes Reinemachen und Auffrischen ihrer Heimstätten vorgenommen. Die Gärten und Hofräume waren gesäubert, die Fenster der Häuser blitzten spiegelblank, und an manchen Stellen war auch der Weiße oder grüne Farbenanstrich der Zaune und Pforten und des Holzwerks der Behausungen von einem wohltuenden Ordnungssinn erneuert worden.

Als das Dorf passiert war, zogen sich Knicke zu beiden Seiten des Weges hin. Das Erlen- und Haselgebüsch auf den Wällen war dicht belaubt, Ahorngruppen trugen knospende, noch grünfarbene Dolden, und zwischen den Erdbeerblättern an den Wällen lugten schüchtern ein paar weiße Frühblüten hervor. Selbst das Brombeergerank über den Gräben, das mit Himbeerstauden abwechselte, entging der liebevollen Beobachtung Herbrinck nicht, und fast zärtlich streifte sein Blick auch den bescheidenen Wegerich und die weißen Mariensternchen am Wegrande. Die verstreut auf den Wällen vorkommenden Jasminsträucher hatten ihr duftendes Kleid noch nicht angelegt, aber eine Gruppe von Roßkastanien vor einem vereinzelten Bauerngehöfte war mit jung entfalteten roten Blütentrauben dicht übersät.

Wintersaat und Raps deckten die Felder mit weichem, grünem Teppich, und der Himmelsdom spannte sich lachend blau über die lenzfrohe Ebene mit Aeckern und Wäldern. Ein Sonnenflimmern in der Luft, ein vielstimmiges Jubilieren der gefiederten Sänger, das Pfeifen des Pirols und der Ruf des Kuckucks aus den Buchenrevieren ...

Auf dem Schlosse wehten bewillkommnend die Fahnen in schwarz-weiß und blau-weiß-rot. Der Eingang zum Verwalterhause war mit Tannengrün geschmückt, und vor dem Hause bildeten die Arbeiter im Sonntagsstaate Spalier.

»Nanu!« rief Luckner überrascht aus. »Feiern die schon eigenmächtig?«

Tönndorp klärte auf.

»Der Suhr und der Tabbeck, die neulich schon bei dir waren, haben Ihre Gnaden Komteß Lene gebeten, ihnen den Empfang zu gestatten. Und die Kleine hat nicht nein gesagt. Im Gegenteil, war ganz gerührt.«

»Das sieht ihr ähnlich. Na,« knurrte Luckner, »war ja auch recht ... Die trifft's immer ... Halten Sie vor den Leuten!« befahl er dem Kutscher.

Mit einem Ruck hielt der Wagen an, und Luckner stieg zuerst aus. Stramm blieb er stehen.

»Guten Tag, Leute!« grüßte er laut, und in den Falkenaugen unter den buschigen Brauen blitzte es.

Herbrinck trat erfreut an seine Seite.

»Doch 'n Schlag von Menschen!« sagte Luckner halblaut. »Leute, ich danke! Der gute Geist von Timmhusen ist zurückgekehrt. Haltet zu ihm.«

Er schüttelte Herbrinck die Hand.

»Mach's kurz und komm' ins Schloß. Die Leute sollen einen Wochenlohn extra erhalten – dein Einverständnis vorausgesetzt, 'n Tag!«

Er nickte den Arbeitern zu und zog die Gutsnachbarn mit sich fort.

Suhr trat auf Herbrinck zu.

»Herr von Herbrinck, ich soll nich viel Worte machen un Ihnen man bloß sagen, daß keiner bei is, der sich nich aus seinem Herzen freuen tut. Lüd, unse Herr von Herbrinck soll leben – hoch – un noch eenmal hoch – un tau'n drüttenmal hoch!«

Die ungeübten Kehlen fielen kräftig ein.

Herbrinck dankte ergriffen und beauftragte den Wortführer, auch den Abwesenden seine Freude darüber auszudrücken, daß auf dem Gute alles unverändert geblieben sei und weiter so bleiben solle.

Neben dem Tannenschmuck an der Tür erkannte er den jungen Löhr und ging auf ihn zu.

»Lieber Fritz, last auf meine Kosten eine Tonne Wer auflegen,« sagte er freundlich. »Und dann zahle allen einen Wochenlohn auf Befehl des Grafen extra aus ... Leute, wartet!«

Er zog den Förster mit sich in die Wohnung.

»En Wäkenlohn von 'n Grafen?« sagte Suhr bedächtig wägend ... »Arm wart he dar ni von, awer gaud deiht dat doch.« ... Er schwieg eine Weile. Dann kam langsam eine wortkarge Genugtuung. »He kiek sah. uns fünft ümmer von babn oben. an; ick glöw. he füht ock noch mal de richdigen Minschen in uns. Un wenn't oock man en beeten Fründlikeit is – se warmt.«

Die anderen sagten nichts dazu, aber sie drängten sich durcheinander und zeigten wenigstens ein belebtes Mienenspiel.

Löhr suchte eine dienstliche Haltung. Er war blaß und befangen.

»Herr von Herbrinck.« brachte er mühsam und stockend hervor, »ich war da nicht Schuld an –«

Herbrinck unterbrach ihn lebhaft.

»Was macht – Sophie?«

»Sie ist – sie ist gestern – weggezogen –« stotterte Löhr.

»Wohin?«

»Nach – nach Neumünster. In 'n Dienst. Den will sie sich suchen.«

»Fritz, der Graf hat mir schon mitgeteilt, daß sie ihm meinen Ring zurückgegeben hat. Ich habe sie geachtet – ihr Andenken soll mir wert bleiben. Sie hat nicht überlegt gehandelt. Vielleicht zum Guten, Fritz. Ich trage ihr nicht nach, noch weniger dir. Wir wollen vergessen. Hilf mir dazu.«

»Ja, Sie wissen aber noch nicht alles –«

Eine Schamröte brannte ihm auf der Stirn.

»Was denn noch?« fragte Herbrinck freundlich.

»Die Schmucksachen – von Ihnen – vom Herrn Grafen –«

Er schluckte, als wollten die Worte nicht heraus.

»Was ist damit?«

»Die – die – hat sie – hat sie – mitgenommen.«

Einen Augenblick schwieg auch Herbrinck peinlich berührt.

»Ich wollte sie – ihr abnehmen,« fuhr Löhr fort. »Sie wollte nicht –«

Herbrinck schüttelte seine quälende Empfindung ab.

»Sie soll sie behalten, Fritz; komme nicht darauf zurück,« sagte er leise, aber fest. »Und nun gehe zu den Leuten. Es ist ein Feiertag für mich und sie. Ich muß ins Schloß; aber ich komme noch auf den Hof und trinke ein Glas mit. Adieu, Fritz!«

Er kleidete sich um, verweilte einen Augenblick froh bei den Arbeitern, die sich an dem Bier labten, und eilte ins Schloß.

Siebenlist geleitete ihn ins Kabinett des Grafen, in dem er den Hausherrn seiner wartend fand.

»Herbrinck,« sprach Lurkner ihn an, »du hast mir gegenüber mal den Mentor gespielt, als ich die Dummheit begehen wollte, der Dame – Sophie – nachzustellen. Ich habe auf dich gehört. Nun folge du gefälligst mir und laß die Braut heimführen, wer da Lust hat ... Sie ist, wie ich hörte, nach auswärts gezogen, statt ins Verwalterhaus. Ich trauere ihr nicht nach. Tu' du's auch nicht. Im Gegenteil: sei froh. Ein Wildstrauch paßt in keinen Garten ... Die Leute – sind verrückt. Echt ist das nicht.«

»Ja, Luckner, doch –«

»Nein, sage ich. Und ich war leichtsinnig. Ich habe mich überrumpeln lassen in so 'ner wunderlichen Anwandlung. Himmelmillionen – ich winde mich rum und flüchte vor mir selbst und sage mir trotzdem – was dran ist wohl doch. Nicht viel. Viel nicht. Mir kommt da so ein trivialer Vergleich: wenn der Berliner Frikassee von Huhn auf die Speisekarte schreibt, gibt's vom Huhn höchstens einen Knochen. Und das lasse ich mir nicht ausreden: so ein Knochen ist auch bloß die Dankbarkeit von denen da. Gut, du widersprichst nicht, du gibst selbst zu – –«

»Ich widerspreche allerdings nicht, Graf,« entgegnete Herbrinck heiter.

»Nicht! –«

»Nein, weil es nicht nötig ist, weil du selbst an deine Hypothese nicht glaubst, weil –«

»Oho! Komm mal mit nach vorn.«

Er ließ sich im Speisesaal von dem bereitstehenden Bier einschenken, öffnete ein Fenster und trank den Leuten mit kurzem Anruf zu.

Die Arbeiter dankten mit rauhen Gegenrufen, und Luckner zog sich schnell zurück, als hätte er sich schon zu viel vergeben.

»Schlaue Bande,« knurrte er eigenwillig in den Schnurrbart und konnte doch nicht verbergen, daß er im Innern gegen die eigene Ueberzeugung kämpfte. Ablenkend steuerte er auf Menge los. »Sie sind auch ein Infamer,« sagte er knurrend; »habe ich je behauptet, daß wir paar Obern alle Vortrefflichkeit in Generalpacht hätten? Und allen anderen der Schädel mit Brettern vernagelt sei? Nicht eingefallen ist es mir. Und Ihre Bande ist nicht besser als meine, wenn sie Ihnen auch mit Pastorenkanaster aufwartet und meine noch 'n Wochenlohn extra rausgaunert. Lassen Sie mich in Ruhe in Zukunft!«

Menge lachte behaglich.

»Ist's hell geworden in Ihnen?« fragte er freundlich.

»Tönndorp, du hast auch bloß die Herde gesehen!« sagte Luckner, zu seiner Verteidigung auch den zweiten angreifend.

»Aber nicht nur Böcke,« replizierte der Gereizte.

»Ob Böcke oder Schafe, das ist gleich,« behauptete Luckner. »Bekehrt bin ich aber noch lange nicht!« widersprach er sich selbst.

»So'n alter Soldatenschädel kann einen Puff vertragen,« gestand Tönndorp freundlich zu.

Den Gutsleuten, die unter der Linde vor dem Verwalterhause ein paar Tische und Bänke aufgestellt hatten, wurde auf Anordnung der Komteß ein Mahl aufgetragen, und Herbrinck bat die Freunde, ihm eine kurze Abwesenheit nicht zu verübeln. Während er sich auf den Hof begab, sagte Tönndorp lebhaft:

»Herbrinck soll nicht immer dabei sein, wenn er und sein ›Fall‹ uns beschäftigen. Aber aus dem Kopfe will mir die Geschichte nicht, und es freut mich deshalb, daß unser Kieler Leiborgan sein Versprechen eingelöst und eine Reihe Gutachten von Rechtslehrern gebracht hat, die wohl ziemlich abweichender Meinung waren, von denen aber eines, das letzte und gewissermaßen abschließende, doch recht der Beobachtung wert scheint. Der Gutachter – er trägt auch einen hervorragenden Namen – stellt sich energisch auf unsere Seite. Er will Kautelen gegen die endlose Nachwirkung der Strafen geschaffen und die gesetzliche Dauer der Angabepflicht nach der Höhe der Strafe bemessen wissen. Ich referiere aus dem Gedächtnis und kann die aufgestellten Vorschläge nicht im einzelnen wiederholen. Der Gutachter steht aber in dem vom Gericht festgesetzten Strafmaß, bei dem alle mildernden oder verschärfenden Umstände abgewogen find, den annehmbarsten Maßstab für eine gesetzmäßige und möglichst gerechte Begrenzung der Strafnachwirkung. Die Worte kommen mir so vor, als ob es so ziemlich seine eigenen wären. Er vermeidet also eine schwierige und fast undurchführbare Katalogisierung der Vergehen und Verbrechen und hält sich an die Strafe selbst. Ein paar Beispiele! Bei Geldstrafen will er die Angabepflicht in fünf Jahren erloschen wissen, bei Gefängnisstrafen bis zu einem halben Jahre in zehn Jahren, bis zu einem Jahre in längstens fünfzehn Jahren, bei schwereren Gefängnisbußen in zwanzig Jahren vom Ende der Strafe ab. Zuchthausstrafe will er von der Wohltat der Verjährung ausschließen, und ich stimme ihm auch darin bei. Ich meine, daß seine Anregung diskutierbar ist –«

Luckner nickte befriedigt.

»Natürlich. Mit der Angabepflicht muß aber auch das Fragerecht des Richters fallen –«

»Eins bedingt von selbst das andere –«

»Der Mann soll nicht bei der Zeitungserörterung stehen bleiben!« sagte Luckner lebhaft.

»Will er auch nicht,« erklärte Tönndorp. »Auch die Redaktion des Blattes nicht. Sie schließt ihre Veröffentlichungen mit der Aufforderung, durch eine Petition an den Reichstag den Stein weiter ins Rollen zu bringen. Listen zum Zeichnen sollen in Kürze überall in der Provinz herumgehen. Sie werden auch zu uns kommen.«

Luckner wollte dabei nicht stehen bleiben.

»Unsere Namen wiegen auch etwas,« sagte er. »Wir wollen die Bewegung durch eine öffentliche Erklärung unterstützen. Das schafft mit. Wir haben unsere Freunde. Jeder von uns soll sie für die Unterschriften heranziehen. Die Stände vereinsamen in ihren einseitigen Interessen; aber hier handelt es sich um eine Frage des Gemeinwohls, die in ihrem Ernste geeignet ist, eine das Persönliche zurückstellende, ideale Einigung herbeizuführen. Tönndorp, du übernimmst die Grafen Breitenfelde. Noer und Ohlhoffen, die stehen dir näher als uns anderen; Menge –«

Er stellte ein förmliches Arbeits- und Werbeprogramm auf und sagte zu, die Erklärung selbst noch in den Abendstunden entwerfen zu wollen.

»Was auf die bekannte lange Bank geschoben wird, ist immer schlecht aufgehoben,« schloß er.

Er lachte.

»Das steht man auch im Birkhause,« exemplifizierte er. »Nach der Verlobung war dem Fräulein die Uebersiedelung nach dem Forsthause nicht bequem; nun kommt sie gar nicht hinein. So 'ne Bank findet mitunter überhaupt kein Ende.«

»Warum wollte sie denn nicht?« warf Tönndorp neugierig hin.

»Naiv!« neckte Luckner. »Das Gesetz der Trägheit findet auch auf manche Menschen Anwendung.«

»Auf uns ebenfalls,« nahm Tönndorp den Scherz auf. »Wir hocken und hocken und bedenken nicht, daß wir wo anders auch noch nötig sind. Meine Gnädige,« wandte er sich an seine Gattin, »wie beliebst du über den Aufbruch zu denken?«

Der Hausherr und die Komteß protestierten, aber der Nachbar ließ sich nicht mehr halten, und die Neurader erhoben sich gleichfalls.

»Herbrinck treffen wir noch draußen,« sagte Menge.

Aber die Arbeiter hatten sich eben zerstreut, und Herbrinck kam ins Schloß zurück, als die Gäste sich verabschiedeten.

Er nahm den Neurader Erbprinzen, der müde geworden und während der ernsten Unterhaltung eingeschlafen war, auf den Arm und trug ihn hinunter an den Wagen.

Auch die lachenden Abschiedsgrüße, der Hufschlag und das Räderrollen auf dem Hofpflaster weckten den Schlaftrunkenen nicht auf.

Luckner gab den Freund auf drängendes Verlangen frei, und Herbrinck suchte in der Wohnung eine kurze Zeit der Ruhe.

Er öffnete ein Fenster nach dem Park zu, ließ die frische Luft einströmen und gab sich ganz dem Frohgefühl hin, daß er die Heimat wiedergefunden hatte, daß er wieder in der Nähe derjenigen weilen durfte, die ihm das Herz in Anhänglichkeit und Liebe hatten aufgehen lassen, als er noch ein Fremder gewesen war, und die ihn nun in ihrer Treue mit frischen Banden an sich gefesselt hatten.

Die Entlobung störte ihn nicht; sie hatte einen Druck von ihm genommen, den er freiwillig auf sich geladen, der ihm aber keine Genugtuung gebracht und die Stimme des Herzens nicht übertäubt hatte.


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