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Sechzehntes Kapitel.

Der D-Zug hatte nur in Wittenberge einen kurzen Aufenthalt, dann jagte er raffelnd auf dem eisernen Strange nach der Reichshauptstadt weiter.

Graf Luckner saß in einem Abteil erster Klasse. Er hatte einen Rücksitz gewählt und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen den am Fenster vorüberfliegenden Landschaften und einigen Zeitungen, die er von Hamburg aus mitgenommen hatte.

Den Artikel des Kieler Abendblattes fand er auch in einem ersten Hamburger Organ abgedruckt und durch eigene, zustimmende Randbemerkungen erweitert. Natürlich, der Fall mußte ja Aussehen erregen und zu schwerwiegenden Bedenken Veranlassung geben, sagte er sich. Er hatte keine Uebersicht über die Tagespresse; aber er vermutete, daß eine Reihe gehaltvoller Blätter in allen großen Städten die Ausführungen der Kielerin weiteren Erwägungen zugrunde gelegt und so die Frage dankenswert in Fluß gebracht habe.

Wenn die Gutachter des Kieler Blattes einige Hoffnung geben würden, so überlegte er, würde er sich selbst mit an die Spitze der Männer stellen, die einen gerechten Wandel anstrebten. Und die Provinz Schleswig-Holstein, die den eklatanten Fall erlebt hatte, hatte einen stichhaltigen Grund, mit ihren besten Kräften in der Bewegung voranzugehen.

Der Lehrter Bahnhof war dunkel und verqualmt, und Luckner strebte eilig dem Ausgange zu. Ein Dienstmann holte sein Gepäck, dann holperte der Marterkasten, Droschke genannt, dem Hotel zu.

Luckner kleidete sich um und machte sich sogleich auf den Weg nach der Kochstraße.

»Schumann & Co., Speditionsgeschäft,« las er auf weithin sichtbarem Schilde an dem Hause Nr. 18.

Im Bureau arbeitete ein Dutzend Personen.

»Ich wünsche den Herrn Chef selbst zu sprechen,« antwortete Luckner einem sommersprossigen, flachsblonden Jüngling.

»Ihr werter Name –?« fragte der Blonde mit einem Kratzfuß.

»Tut nichts zur Sache.«

Der junge Mann eilte durch eine Tür, an der eine splendide Papptafel mit der Aufschrift ›Privatkontor‹ angebracht war, kehrte zurück und nötigte den Grafen zum Eintritt.

Ein kleiner, korpulenter Herr mit Glatze und etwas geröteter Nase empfing ihn. Der Mann drehte sich auf seinem Schreibsessel halb um, schaute über seinen Kneifer hinweg auf den Besucher und erhob sich höflich.

»Luckner,« stellte der Graf sich vor und nahm einen angebotenen Stuhl an.

»Womit kann ich dienen, Herr Luckner?«

»Ich bitte um Auskunft. Mein langjähriger Freund Hans von Herbrinck hat mich beauftragt, ein Frachtstück an Ihre Firma zu senden. Liegt Ihnen die Bestätigung vor?«

»Herbrinck? Mir im Augenblick nicht gegenwärtig.«

Der Spediteur klingelte.

»Ist ein Schreiben von einem Herrn von Herbrinck eingegangen?« fragte er den Blonden. »Einen Augenblick, Herr Luckner.«

»Kennen Sie Herbrinck persönlich?« fragte der Graf.

»Hm – der Name ist mir nicht geläufig, obgleich ich ein gutes Gedächtnis habe.«

Der Bureaugehilfe brachte eine Postkarte, die der Chef überflog.

»Pardon, Herr Graf – –. Wenn Sie zu lesen belieben wollen!«

»Vom Herrn Grafen von Luckner auf Timmhusen in Holstein wird Ihnen ein Kollo für mich zugehen,« schrieb Herbrinck, »über das ich nach meiner Ankunft in Berlin Verfügung treffen werde. Bis dahin wollen Sie es gefälligst in Verwahrung nehmen.«

Luckner gab die Karte zurück.

»Danke. – So wissen Sie über den Tag seines Eintreffens so wenig als ich? – Darf ich ein Wort im Vertrauen sprechen?«

»Es ehrt mich, Herr Graf.« Der Mann schielte aber doch etwas mißtrauisch. »Haben Sie – eine Forderung an den Herrn?« forschte er.

Luckner lächelte.

»Herr von Herbrinck wäre mir gut für jeden Betrag. Aber das ist es nicht.« Das Lächeln verschwand. »Herr – ich bin meinem Freunde zu tiefer Dankbarkeit verpflichtet, und ein Mißverständnis hat uns getrennt, das ich beseitigen muß. Ich bitte Sie um Ihre Beihilfe. Teilen Sie mir, wenn Herr von Herbrinck angekommen ist, seine Adresse mit. Eine mündliche Aussprache wird alles ausgleichen, und Sie werden sich mir wie ihm zu Dank verpflichten.«

»Selbstverständlich darf ich den Herrn von Ihrem Wunsch unterrichten?«

Luckner verneinte.

»Ich bitte, nicht. Auge in Auge kann er mir die Hand nicht verweigern. Würde er in Kenntnis gesetzt, so könnte er eine Begegnung abschneiden wollen.«

Der Spediteur schien bedenklich.

»Ja, es ist doch etwas indiskret – –«

»Sorgen Sie sich nicht. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß nichts als redliche Freundschaft mich das Zusammentreffen suchen läßt.«

»Ich glaube Ihnen schon, Herr Graf. Etwas ungewöhnlich freilich – –«

Luckner ließ ihn nicht ausreden.

»Herbrinck ist ein Jahrzehnt mein treuster Kamerad gewesen. Sie versöhnen zwei Freunde, die sich gleich wert sind –«

»Hm, ja –«

»Wenn Sie nicht wohlhabend wären, wenn ein klingender Dank mitsprechen könnte – –«

»Na – das Geschäft geht immerhin faul. Aber deshalb würde ich die Indiskretion doch nicht auf mich nehmen. Man setzt sich nicht gern der Gefahr aus, einen Kunden vor den Kopf zu stoßen.«

Luckner wußte nicht recht, ob das Geld den Mann gefügiger machen würde.

Er wollte es nicht darauf ankommen lassen.

»Wenn das Geschäft still liegt,« sagte er, »haben Sie vielleicht eine Stunde für mich übrig. Stechen Sie eine Flasche Wein mit mir aus. Beim Glase spricht es sich vertraulicher.«

Der Graf hatte eine schwache Seite des Zugeknöpften herausgefunden.

»Gegenwärtig ist ja zu tun,« lautete die Erwiderung. »Und auch ganz gut. Wer nach dem Aprilumzug, so bis um die Mitte Juli, da geht's flau ... Na, wenn es Ihnen angenehm ist, Herr Graf – –«

»Sie dürften Bescheid wissen, wo ein guter Tropfen zu haben ist. Bestimmen Sie!«

Der Spediteur nannte eine den Residenzlern wohlbekannte Weinstube.

»Gut, bei mäßigen Preisen,« fügte er hinzu.

»Abgemacht, Herr – –«

»Schumann.«

Der Blonde brachte auf ein Klingelzeichen noch eine Mappe mit Briefen zum Unterzeichnen. Die Schriftstücke waren praktisch zwischen Löschblätter gelegt und die Zeichnung ging ziemlich rasch von statten.

»Noch Eiliges da –?«

Der Blonde fragte von der Tür aus ins Bureau.

»Nein, Herr Schumann.«

»Ich bin in der – –«

Er gab gewissenhaft die Weinstube an, in der er zu finden sein würde.

Von dem Kieler Prozesse schien er nichts gelesen zu haben, und der Graf hütete sich, ihm davon zu erzählen.

Sie gingen nach der Leipzigerstraße, und Schumann suchte in dem ihm vertrauten Lokal ein kleines Zimmer aus, in dem sie ungestört waren.

Nach den ersten Gläsern taute er auf.

»Sie dürfen mir nicht verübeln,« sagte er, »daß ich zurückhaltend war. Man erlebt die sonderbarsten Verwickelungen und geht, wenn man nicht vorsichtig ist, nur zu leicht in eine Falle, die den Kunden schädigt.«

»Ich begreife Ihr Verhalten vollkommen,« entgegnete Luckner freundlich.

Der Spediteur führte ein Beispiel an.

»Ich habe erst kürzlich wieder eine warnende Erfahrung gemacht. Eine auswärtige Firma hatte einem hiesigen Warenhaus unter der Hand einen bedeutenden Posten ihrer Fabrikate verkauft und mich mit der Ablieferung beauftragt. Als die Ware eben eingetroffen war, wurde ich telephonisch angerufen und nach der Sendung befragt. Ich gab Auskunft, aber leider nicht dem Empfänger, der am Fernsprecher vorgeschützt worden war, sondern einem Spion. Vom nächsten Tage an hatte ein anderes Kaufhaus mehrere seiner Fenster gerade mit dem in Frage stehenden Artikel dekoriert und den Preis wesentlich herabgesetzt.«

»Wir drei: Herbrinck, Sie und ich, werden noch an dieser gleichen Stelle wieder zusammensitzen,« versicherte der Graf. »Der Wein ist verlockend, ein Wiedersehen damit zu begießen.«

»Sind Sie zufrieden?«

»Sie sind ein Kenner.«

»Na ja, mit der Zeit stellt man so seine Quellen fest, Herr Graf.«

Sie sprachen vom Theater, und Schumann war leidlich unterrichtet.

Als sie sich trennten, war Luckner zufrieden.

»Also es bleibt dabei,« sagte Schumann auf der Straße, »sobald Ihr Herr Freund sich gemeldet hat, gebe ich Ihnen mit Rohrpost vertraulich Nachricht ... Bristol. Uebrigens ein vornehmes Hotel.«

Luckner drückte ihm die Hand.

»Meinen Dank im voraus. Und auf Wiedersehen.«

Das Wiedersehen kam früher als der Rohrpostbrief.

Am zweiten Tage stellte sich Luckner in der Kochstraße wieder ein.

»Noch nichts – –?«

»Nein, leider.«

Das ›Leider‹ wiederholte sich am dritten Tage.

Am vierten wechselte es mit einem: »Nein. Zu meinem Bedauern, Herr Graf.«

Am fünften saßen sie abermals bei dem erprobten Wein, und Schumann suchte den vornehmen Begleiter, der seine Sympathie erworben hatte, zu trösten.

»Das Kollo ist auch noch nicht eingegangen,« bemerkte er harmlos nebenbei.

Luckner mußte selbst in seiner Niedergeschlagenheit lächeln.

»Das glaube ich,« erklärte er. »Weil es gar nicht abgesandt ist. Der Schreibtisch, den es enthalten soll, wartet auf seinen Herrn da, wo er hingehört. Auf Timmhusen. Mein verehrter Herr Schumann, trinken Sie aus. Die erste Flasche hat Herbrinck gegolten, die zweite leeren wir auf Ihr Wohl ...«

Am Vormittag des nächsten Tages kam dann die Nachricht des Spediteurs dem Grafen überraschend.

Er starrte lange auf das Blatt, das in seinen Fingern zitterte.

Es enthielt nur wenige Zeilen.

»Hochgeehrter Herr Graf! Herr von Herbrinck hat soeben persönlich nachgefragt. Die hinterlassene Adresse lautet: Königin-Augusta-Straße 22, I (Nähe Potsdamerstraße!) Kollo soll nach Ankunft ›lagern bleiben‹. Viel Glück, Herr Graf!

Hochachtungsvoll und ergebenst C. Schumann.«

 

Luckner stürzte aufgeregt an den Kleiderschrank.

Vor dem Hotelpersonal war er reserviert.

»Droschke!« befahl er einsilbig.

Auf dem Potsdamerplatz herrschte ein gefahrvolles Gedränge von Lastfuhrwerken, Omnibussen, leichteren Gefährten und den schweren Kolossen der sich kreuzenden elektrischen Bahnen. Der Kutscher lenkte seinen etwas krummbeinigen Gaul kaltblütig und gelassen durch das lärmende Gewirr.

An der Potsdamer Brücke ließ der Graf halten, entlohnte den ›Weißlackierten‹ und ging die wenigen Schritte bis zum Ziele zu Fuß.

Ein moderner Bau in Sandsteinimitation.

»Pension de Neville, erste Etage,« las Luckner auf einem eleganten Messingschild.

Der Flur mit glänzend polierten Marmorwänden, dicke Läufer von Purpurfarbe auf den Fliesen und den Treppenstufen.

Luckner war, als er die halbe Treppe erstiegen hatte, so kurzatmig, daß er stehen bleiben mußte. Nach der zweiten Hälfte verweilte er nochmals. Dann zog er die elektrische Klingel.

Eine bejahrte Frau in sauberem Hauskleide öffnete.

»Pardon – Herr von Herbrinck zu Hause?«

»Wen darf ich melden?«

»Luckner.«

»Ich bitte.« Sie führte ihn in einen kleinen Salon. »Einen Augenblick.«

Sie kam bald zurück.

»Der Herr läßt bitten.«

Luckner befand sich in einer mächtigen Bewegung.

Nur mechanisch folgte er der Führerin.

Der Blick flog dem Fuße voraus, und er sah den Wiedergefundenen mitten im Zimmer stehen, die Rechte wie zum Halt auf einen Tisch aufgestützt.

Luckner fand ein hinreißendes Lächeln.

»Mein Alter, Lieber, da habe ich dich wieder!«

Beide Hände streckten sich aus, und ehe Herbrinck noch ein Wort hervorzubringen vermocht hatte, fühlte er sich von dem Grafen in die Arme gezogen.

»Hans Herbrinck, ich bin gekommen, um dich zu holen – ich gehe nicht ohne dich!«

Herbrinck war blaß vor Erregung.

»Woher wissen Sie – –« sagte er stockend.

»Ja, woher! Durch einen gütigen Zufall, Herbrinck.« Er wollte doch den Helfer nicht gleich verraten. »Seit sechs Tagen bin ich in Berlin, suche ich dich. Ich habe Freundesrecht an dich, und ich mache es geltend. Mein Alter, Lieber! Wie konntest du mich verkennen! Ich dir einen Vorwurf machen – oder überhaupt jemand? – Ich will es dir heraus sagen: dein Ehrenschild ist für uns unbefleckt! Hundsfott, wer es anders sagt oder denkt! Du bist blaß. Bist du krank?«

Die Frage drückte eine ernste Sorge aus.

»Nein,« entgegnete Herbrinck langsam. »Ich glaube aber, ich war's – oder wär's geworden. Der Schlag –«

Luckner unterbrach lebhaft.

»War gar keiner! War einer ins Wasser! Die alte Geschichte! Ich habe nur bereut, daß ich nicht hei dir war. Gleich hätte ich dich in den Arm genommen, gleich wären wir nach Timmhusen zurückkutschiert. Der, den du getroffen hattest, war ein Lump, der dich gereizt hatte, der es nicht besser verdiente – dem mit der Versorgung viel zu viel Gutes erwiesen wurde. Komm, setz' dich zu mir. Dir ist nicht wohl, ich sehe es dir an.«

Er schob einen Sessel herbei und drückte den halb Willenlosen nieder.

»Herbrinck, Grüße von zu Hause! Alle grüßen, und alle harren deiner in alter Treue. Nein, kein Kopfschütteln, kein Verneinen: die Sonne ist einen Augenblick hinter einer Wolke verschwunden gewesen, nun lacht sie wieder, und der Himmel strahlt in köstlicher Reine. Du bist der Alte, ich bin's – wir sind's! – Herrgott, die verdammte Bosheit hat dich schwer verwundet! Wie magst du gelitten haben!«

Die kraftvolle Gestalt Herbrincks war im Augenblick kaum wieder zu erkennen. Er zeigte eine krankhafte Müdigkeit und starrte trübe vor sich hin.

»Es wäre besser gewesen,« sagte er mühsam, »Sie hätten meinen Weg nicht wieder durchkreuzt. Ich wollte still gehen. In der Arbeit gesundet man. Die wollte ich mir – fern – wieder suchen –«

»O, die gibt es auf Timmhusen! Und Freunde, Herbrinck!«

»Ja, ich weiß. Nach–sichtige Freunde.«

Er starrte ins Leere und reihte die Gedanken schwerfällig aneinander.

»Graf, ich – werde Ihr Schuldner bleiben. Aller. Die Timmhusener Jahre waren mir lieb. Ich habe so viel Güte kennen gelernt, so viel innere Befriedigung und Freude. Und – das Glück hat mir gelacht, wenn – auch bloß in Träumen –«

Er hielt inne und überlegte, und der Graf beobachtete, wie die Gesichtsmuskeln zuckten. Ein Schrecken durchfuhr Luckner.

»War das Glück – deine Braut?« fragte er beängstigt.

»Nein,« kam die klare Antwort. »Die Arbeit – und –«

»Und –« drängte Luckner.

»Ein Kind,« dachte Herbrinck. Aber er bewahrte sein Geheimnis und sann auf eine ausweichende Wendung.

Der Graf ließ nicht nach.

»Und –?« wiederholte er.

»– Ihr Vertrauen, Ihre Großmut –«

»Meine Dankbarkeit, meine Freundschaft, Herbrinck!«

»Ja, Ihre zu große Liebenswürdigkeit –«

»Willst du mein Du erwidern?« fragte Luckner mit zwingender Herzlichkeit.

Herbrinck nickte resigniert.

»Auf deine Freundschaft bin ich so stolz gewesen –«

»Ich bin's auf die deine unverändert, Herbrinck! Bist du wankelmütig geworden?«

»Nein – wenn ich dürfte –«

Luckner eilte an einen Tisch, schob ein Blatt Papier zurecht und ergriff eine Feder.

»Höre zu!« forderte er, schrieb und las laut: »›Komteß Helene Luckner, Timmhusen, Post Reickendorf, Holstein.‹ Verstanden? ›Herbrinck und ich kommen morgen zurück. Unterrichte Freunde. Alles gut.‹ So, Name: ›Luckner.‹«

Herbrink erhob sich und stand mit keuchender Brust.

»Graf, es darf nicht sein. Luckner, laß mich ziehen!«

»Niemals!« sagte Luckner energisch. »Und das Telegramm geht ab.«

»Luckner, könntest du – vergeben?«

»Was denn – was denn? Nichts ist zu vergeben!«

»Und – vergessen?«

»O, ist ganz überflüssig! Herbrinck, ich bin ein Mann und weiß zu wägen. Nicht der geringste Vorwurf soll dich je treffen!«

»Und – und – die andern –?

»Sind einig mit mir, ganz einig. Die Herren, die Damen –«

Er unterbrach sich flüchtig. Aber gleich darauf fuhr er entschlossen fort:

»Mein liebster, bester Freund – ja, ein Stein ist doch auf dich geworfen worden, und der muß an dir abprallen. Ein Weib hat ihn geschleudert – das – das – – Laß sie! Herbrinck, deine Braut war es –«

»Ich – fürchtete es,« sagte Herbrinck leise.

»Ich habe den Ring zu Hause. Und deinen Brief an sie. Sie hat ihn nicht verstanden. Sie ist keine Träne wert. Herbrinck, ich bin glücklich, daß sie dir deine Freiheit zurückgegeben hat. Du wirst eine andere. eine hundertfach bessere finden. Der Schmerz, der dich aufwühlt, geht vorüber. Und dann bist du der Alte! In der Arbeit, in deiner starken, überwindenden Kraft. Hand drauf, Herbrinck –, gib mir deine Hand darauf!«

Herbrinck reckte sich auf.

»Habe ich einen bösen Traum gehabt –?« fragte er zögernd und doch mit aufklingender Freude.

»Nichts weiter,« bekräftigte Luckner. »Oder doch. Ja, Hans, doch! Der Traum hat dir die Befreiung gebracht – von dem Schatten, der dir im Dunkel verschwiegener Erinnerung nachschleichen konnte, der aber verflogen ist im hellen Lichte der Aufklärung! Mein alter Lieber, ein ›Glück zu!‹ aus vollem Herzen!«

Herbrinck faßte die Hand des Grafen mit festem Drucke.

»Ich bleibe dein!«

»Hurra, Herbrinck! Und nun fort mit der Drahtbotschaft!«

Luckner schwang die Depesche in freudiger Genugtuung.

»Geschrieben habe ich zweimal,« berichtete er fliegend. »Vertröstend. Leider, weil's nicht anders ging, weil auch der Mister Schumann – – ah, der! Das weißt du noch nicht.« Er lachte frohmütig. »Du, den suchen wir auf. Gleich. Hab' ihm versprochen, daß er das Wiedersehen mitfeiern solle. Dein Schreibtisch steht auf dem alten Platze – ih, nicht angerührt. Die Adresse von diesem prächtigen Schumann hat ihren Zweck aber doch erfüllt. Da!« Er hielt Herbrinck den Rohrpostbrief hin. »Ja, der Mann hat's hinter den Ohren! War aber nicht leicht; war zuerst höllisch zugeknöpft. Den Wein, den ich vergeudet habe, um seine Zunge zu lösen, mußt du mir ersetzen. Wahrhastig. Herbrinck. Na, gelegentlich. Ich werde dich dafür auf Timmhusen mal ordentlich plündern ... Ist denn ein Bote da?«

Herbrinck schellte.

»Hast du ein Kuvert?«

Luckner suchte schon selbst.

»Danke, bin bereits versorgt.«

Er klebte den Umschlag zu.

»Braucht nicht jeder seinen Vers drauf zu machen,« sagte er heiter und mahnte zum Aufbruch. Unterwegs erzählte er, um den Freund auf andere Gedanken zu bringen, ununterbrochen. »Die Auktion auf Timmhusen werden wir hinausschieben müssen,« neckte er. »Schade, die Arbeiter kommen um das ihnen zugedachte Vermächtnis; wenigstens einstweilen. Du, ganz auf den Kopf gefallen scheinen die Kerle aber doch nicht. Waren wahrhaftig zwei bei mir – der Tabbeck und der Suhr – und wollten dich zurück haben. Wollten mir ihre werte Meinung mindestens vortragen. Und wenn's auch Selbstsucht ist – ich schreib's ihnen noch nachträglich gut. Selbst dem Roten ... Die Kruses fliegen von Neurade weiter. Alle Schiffe kannst du auch nicht über Wasser halten. Das Krusesche ist reichlich leck ... Den Löhr behalten wir; die Mamsell Sophie mag mit den Schwalben ziehen, aber nicht so bald wiederkommen. Das heißt, meinetwegen kann sie auch bleiben. Mich stört sie nicht. Herbrinck, ist wundervoll, daß es sich ›ausgeringt‹ hat. Der Bruder – Achtung! Ehrliche Haut. Dem ist's nah gegangen ... Die Schloßmamsell habe ich exmittiert. Intriguierte mit den dummen Zeitungen. Na, nachher wurde auch Vernünftiges geschrieben. Hast du gelesen? Der ›Fall Herbrinck!‹ Der ist noch nicht zu Ende, 'ne Strafe muß mal verjähren, das ist unbedingt erforderlich. Nicht bloß eine, die gar keine rechte war; ich meine, die gar kein rechtes Vergehen traf. Auch die andere, die wirkliche, die verdiente. Mir sind die Augen aufgegangen. Es muß eine Toleranz geben, die auch dem Gebesserten zugute kommt. Das ›Lange L‹ ist mir oft eingefallen. Das Purzeln kommt leicht; das Aufrichten muß auch erleichtert werden. Und wenn dann nach so und so viel Jahren die Bosheit was anflicken will, hat sie's Maul zu halten.«

Der Graf hatte vertraulich seinen Arm in den des Begleiters geschoben, und die beiden vornehmen Gestalten erregten in der belebten Potsdamer Straße vielfach Aufmerksamkeit. Luckner focht das nicht an. Er hatte für die auf und ab schiebenden Menschen weder Ohr noch Auge.

»Wie lange hast du dich in Hamburg aufgehalten?« fragte er den Begleiter.

»Einen Tag. Um die Briefe zu schreiben,« erklärte Herbrinck.

»Und du wähntest wirklich alle Brücken hinter dir abgebrochen?«

»Ich hatte zwei Jahrzehnte getragen – und sah alles zerstört.«

»Natürlich, die Schuld war dir förmlich suggeriert worden. Und was die Einen angefangen hatten, setztest du selber fort. Gott sei Dank, das Gewitter hat reinigend gewirkt. Das hat sich der giftige Komödiant wahrlich nicht träumen lassen. Selbst die Bosheit kann als Vorspann dienen. Ja, ja. ganz blind ist die Themis doch nicht. Sie schielt mitunter sogar tüchtig über die Binde. Wollen wir den Schumann abholen? Na, telephonieren tut's auch. In'n Stundener drei wird die Jüngste daheim Augen machen. Und dann die andern. Ich sehe ordentlich, wie die Boten auf Neurade und Tönndorp ankommen. Der Waldemar wird auch vergnügt sein, daß sein Pate ihm nicht durchgebrannt ist. So'n Bengel hätte ich vor'n anderthalb Dutzend Jahren auch gern ankommen sehen. Na, wer weiß, wozu es gut war. Schulden haben mir die Mädel wenigstens nicht gemacht. So'n Leutnant aber – brrr. Spiel, Pferde, Weiber – die Passionen kenn' ich. Jetzt müssen wir da sein. Halt, ich sehe schon. Bitte!«

Er schob den Freund voran und übernahm erst im Lokal die Führung.

»So, da wären wir. Nun den dicken Schumann her.«

Luckner telephonierte selbst.

»Wer da? Schumann? Hier Luckner. An der Quelle, verehrter Herr Schumann. Mit dem Freunde. Herbrinck. Tausend Dank. Und die Bitte: kommen Sie gleich. Der Eiskühler ist bereits in Diensten. Wann? In einer Viertelstunde? Charmant. Auf Wiedersehen.«

Der Spediteur führte sich bei Herbrinck mit einer Entschuldigung seiner Indiskretion ein.

Herbrinck stieß mit ihm an.

»Wo die Absicht so gut war, kann ich nur danken,« versicherte er schlicht.

Der Abend vereinigte die drei im Hotel Bristol.

Zwei Depeschen an Luckner langten fast zugleich an:

»Das glaube ich, daß es Euch gefällt. Macht nur, daß Ihr heimkommt. Tönndorp und Frau.«

»Der Mai und die Freude bieten ihr Willkommen! Die von Timmhusen und Neurade.«

»Ich wette doch, daß die Kleine selbst bei der jungen Frau gewesen ist,« sagte Luckner. »Und nett von Menge, daß er das erraten läßt.«


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