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Erstes Kapitel.

Der Winter hatte Schloß Timmhusen in ein weißes Kleid gehüllt.

Unter dicker Schneedecke lagen die schrägen Strohdächer der Wirtschaftsgebäude, der weite Hof und das Schiefergrau der Schloßbedachung.

Die Mittagssonne traf blendend auf das jungfräuliche Weiß; sie hatte keine Gewalt über die spröde glitzernden Kristalle, aber sie belebte sie mit einem diamantenen Sprühen und Blitzen, glitt spiegelnd über die Fenster des Schlosses, färbte den dünn kräuselnden Rauch der Schornsteine zart lichtblau und zauberte in das herbe Winterbild eine farbenfrische, heiter stimmende Abwechselung.

Komtesse Helene von Luckner, die jüngste Tochter des Gutsherrn, öffnete im oberen Stockwerk des Schlosses ein Fenster, griff mit beiden Händen in den auf dem Sims liegenden Schnee und formte eilfertig einen Ball. Sie beugte sich vor, spähte mit den lachenden Blauaugen nach unten und traf mit keckem Wurf den Vater, der eben in Jagdausrüstung aus dem Schlosse getreten war.

Graf Christian von Luckner blickte sich um und blinzelte, als er niemand in der Nähe gewahrte, nach oben.

»Racker!« rief er hinauf.

Aber das Fenster war schnell wieder geschlossen worden, und nur das Geräusch des Zuschlagens bestätigte ihm, daß er sich in seiner Vermutung über die Herkunft des Scherzgeschosses nicht getäuscht hatte.

Auch die Urheberin des Attentats vermutete er richtig, wenngleich er in einigem Mißtrauen eine ungehörige Vertraulichkeit der Hausmamsell nicht für ausgeschlossen hielt.

»He!« rief er, trat einige Schritte vom Hause fort und suchte die Gestalt der Tochter noch am Fenster zu erkennen. »He, he!« wiederholte er und lockte zu seiner Beruhigung die Attentäterin aus ihrem Versteck hervor. Ihr frisches Gesicht strahlte im Uebermut, und sie klatschte vergnügt in die Hände.

»Warte, du!« drohte der Graf, nickte dem Liebling zu und setzte den Weg fort.

Er schob die Hände in die warm gefütterten Taschen des kurzen, ihm erst vom Weihnachtsmanne bescherten Jagdpelzes, bog um das Schloß herum in den Park und trat durch eine nur angelehnte Holzpforte auf das freie Feld.

Blendend licht, wie der Gutshof, lag die weite Feldfläche. Ein Sonnenspielen zu Füßen des Jägers und über seinem Haupte bis ins Himmelsblau. Die Knicke verschwanden fast unter der schweren Schneehülle, und nur eine Tannenwaldung hob sich in einiger Entfernung kontrastierend von der einförmig weißen Ebene ab.

Ein Gewirr von Wildspuren kreuzte bis dicht an den Park, und ein Hase wurde aus dem schützenden Schneelager flüchtig, ohne daß der Graf Miene machte, ihm das verhängnisvolle Blei nachzusenden.

In der Nähe der Tannenwaldung drängte sich das Geräusch von Beilschlägen in die Stille, und als der Graf den niedrigen, Feld und Wald trennenden, buschlosen Wall erklettert hatte, gewahrte er in einer Lichtung eine Anzahl von Waldarbeitern, die mit dem Zerkleinern und Aufschichten von Brennholz beschäftigt waren. Wie im Dreschertakte fielen die Axtschläge, und das Schnarchen der Sägen vervollständigte das einförmige Konzert.

»Löhr!« rief der Schloßherr.

Ein Arbeiter lehnte seine Axt gegen einen Kiefernstamm, näherte sich einer aus Brettern roh gezimmerten Schutzhütte und schien durch die halbgeöffnete Tür ins Innere hineinzusprechen. Nach einigen Augenblicken machte er einem Forstgehilfen Platz, der über die Lichtung auf den Gutsherrn zueilte.

»Gut geruht?« fragte der Schloßherr ironisch.

Der junge Beamte salutierte militärisch.

»Es ist Wochenschluß, Herr Graf. Ich habe die Arbeiterliste kontrolliert und die Löhne berechnet.«

»Durch die Bretter können auch Luchsaugen nicht spionieren.«

»Es ist die Wahrheit, Herr Graf.«

»Sind Sie mit der Berechnung fertig?«

»Ja.«

»Bringen Sie mir die Liste.«

»Zu Befehl!«

Graf Luckner, der bis vor einem Jahrzehnt als Rittmeister bei den ersten Garde-Ulanen gestanden hatte, liebte die militärische Haltung, und dem Beamten, der erst vor kurzem den Rock des Königs ausgezogen und dafür die grüne Jägertracht eingetauscht hatte, machte sie keine Mühe.

Luckner sah die ihm überreichte Liste mit einiger Aufmerksamkeit durch.

»Jörgen Tabbeck zwei Mark –?« fragte er stirnrunzelnd.

»Der Mann ist noch krank. Er hat einen Tag zu arbeiten versucht, mußte dann aber wieder zu Hause bleiben.«

»Woher wissen Sie, daß er mußte?«

»Ich habe nachgesehen, Herr Graf.«

»So, haben –! Der Verwalter soll mir Bericht erstatten.«

»Zu Befehl!«

»Wie: Johann Suhr zwölf achtzig –?«

»An zwei Tagen je zwei Stunden Ueberarbeit, Herr Graf.«

»Der Kerl will wohl reich werden?«

»Sein Sohn, der bei den Dragonern in St. Avold steht, bekommt einen kleinen Zuschuß von ihm.«

»So, das ist etwas anderes. Des Königs Rock ehren, ist auch eine Tugend. Und wer sich den Zuschuß gestatten kann – schön. Hm, fällt mir da ein – sagen Sie mal: ist der Mann, der alte Suhr, nicht ziemlich rot gesinnt?«

»Er ist ein zuverlässiger Arbeiter.«

»Darnach frage ich nicht. Rot, was?«

»Zu Befehl, es heißt so. Ich weiß nicht, ob mit Recht.«

»Nicht. Na, ich werde ihm mal auf den Daumen passen. Und wenn – – die achtzig plus werden ihm samt seinem Dragoner gestrichen ... Klaus Pa – Pa – – wie heißt der Kerl?«

»Klaus Papendieck.«

»Nanu, wo kommt denn der her?«

»Ersatz für Kröger, der weggezogen ist.«

»Ah so. Macht sich –?«

»Bis jetzt, ja.«

»Fritz Dressen – acht – ist das nicht der Halbblöde?«

»Zu Befehl?«

»Und der tut mit?«

»Der Lohn wird ihm zu zwei Dritteln gerechnet.«

»Verrechnen Sie sich man nicht aus meiner Tasche, mein Geehrter! Ich will mal einen Strich daneben machen und darauf zurückkommen. Hat der nicht mal 'ne Fensterscheibe in der Meierei eingedrückt?«

»Vor einigen Wochen, Herr Graf.«

»Hat er die bezahlt?«

»Es sind ihm eins vierzig vom Wochenlohn abgezogen worden.«

»Ganz nach Billigkeit. Ah, der Musjöh Hinrich Körten – je länger die Liste, um so schöner die Exemplare. Acht fünfzig – einen und dreiviertel Tag geschwänzt – natürlich, Musjöh Körten-Hinrich. Wer des Nachts wacht, muß den Tag über im Bau liegen. Wenn der nicht seine paar Dutzend Krumme in diesem Winter weggegaunert hat, will ich nicht Luckner heißen. All die Schlingen, die gefunden worden sind, kommen ihm aufs Konto.«

»Er bestreitet das, Herr Graf.«

»Soll er sich auch noch selbst eine Schlinge stellen? So dumm ist der dümmste Spitzbube nicht. Aber er soll sich nicht erwischen lassen. Krieg' ich ihn, dann hab' ich ihn. Ich – werde mal einen Gang nach der Birkwiese machen; da komme ich an seinem Bau vorbei und werde nachsehen. Sie bleiben einstweilen hier, bis ich zurück bin. Ist der Körten bei der Arbeit?«

»Zu Befehl, ja.«

»Schön, also in ein paar Stunden erwarten Sie mich. Apropos, noch eins! Da steht am Schluß der süße Liebesbengel Dütje. Der Kerl macht nachgerade ganze Gegend unsicher... Ist er da?«

»Zu Befehl!«

»Dütje, kommen Sie mal her!«

Der Gerufene gehorchte ohne sonderliche Eile.

»Kanonendonnerwetter, soll ich ihm Beine machen?«

Dütje stand stumm vor dem Gutsherrn.

»Schleppt die Pedale wie ein altes Kamel! Nicht Soldat gewesen, kein Schneid in den Knochen! Bombenelement – und das ist der Schürzenjäger, dem kein Weg zu weit und kein Fenster zu hoch ist? Schämt er sich denn nicht, der Kerl, daß alle Welt mit Fingern auf ihn weist? Hat er ganz wieder vergessen, was er in der Schule gelernt hat, daß er nicht ehebrechen soll, oder ist das in seinen dummen Schädel überhaupt nicht hineingegangen? Skandal, was man alles von ihm hören muß! Haben Sie da was zu suchen auf Tönndorp? Mensch, wenn Sie dahin latschen wie eben zu mir, da brauchen Sie ja sieben Jahre! Oder geht's auf dem Wege flinker, he? Ich will mir's aber verbeten haben, verstehen Sie mich? Einmal hat mir's Graf Tönndorp gesagt; ein zweites Mal will ich das nicht hören, oder es setzt was. Ein vernünftiger und achtenswerter Mann heiratet, wenn er in die Jahre kommt, oder er holt sich eine zweite, wenn ihm seine erste bessere Hälfte verloren gegangen ist. Wer aber eine ganze Provinz abläuft, ist und bleibt ein Luderjahn und verdient, daß man vor ihm ausspuckt. Kehrt marsch, und geduckt, sonst blase ich ihm den Marsch vom Gute!«

Der Mann ging etwas beschleunigter, als er gekommen war. Das zu einem spöttischen Lachen verzogene hagere Gesicht und die verschmitzt funkelnden Augen zeugten aber nicht gerade von Vorsätzen zur Besserung.

»De hett gaud snacken!« raunte er mit einem Achselzucken seinen Kameraden zu. »Makt he dat anners?«

Die Leute hörten zu, ohne zu antworten.

»Bitte –«

Graf Luckner reichte dem Forstgehilfen die Liste zurück.

»Rekruten drillen ist auch kein Vergnügen,« brummte er noch, »aber Landwirt spielen und sich mit solchen – solchen Stoffeln herumplacken – sieben mal siebzig Scheffel Geduld sind immer noch zu wenig.«

Er legte die Hand flüchtig an die Pelzmütze, kletterte auf das Feld zurück und folgte dem Waldsaum.

Die hochragenden Stämme der Kiefern tuschten dunkle Striche in das Schneebild, bis der Nadelwald von Laubholzung abgelöst wurde und die grauweißen Stämme der Buchen sich dem Winterbilde wieder mehr einschmiegten.

Graf Luckner verließ das Feld und hielt sich eine Zeitlang an der Innenseite der Waldgrenze. Nach viertelstündiger Wanderung folgte er einem vom Felde einmündenden Fußsteig in das Innere des Forstes und erreichte eine Waldwiese, die nach dem sie umgebenden Baumschlag die Birkwiese genannt wurde, wie das an ihr gelegene ehemalige Forsthaus aus dem gleichen Grunde das Birkhaus.

Das neue Forsthaus war von dem Grafen in ein entfernteres Revier verlegt und das Birkhaus, das vorübergehend als Arbeiterwohnung gedient hatte, dem Forstgehilfen Löhr und seiner Schwester überwiesen worden.

Sophie Löhr führte, da die Eltern gestorben waren, dem Bruder den Haushalt und half an einigen Arbeitstagen und bei besonderen Anlässen der Hausmamsell im Schloß. Sie hatte auf dem Timmhusen benachbarten Gute des Grafen Tönndorp eine vorzügliche Schule im Haushalt durchgemacht und verstand es, aus ihren Kenntnissen sowohl für die eigene enge Umgebung wie für das Schloß Nutzen zu ziehen.

Das Birkhaus war wenig mehr als eine Hütte; nur in der trügerischen Winterhülle hatte es etwas Idyllisches. Die schlechten Lehmwände waren mit Kalk getüncht, durch die kleinen, bleigefaßten Fenster schimmerten weiße Waschgardinen, das schäbige Strohdach lag sorglich geborgen unter dem Schneetuch, und so wirkte das lichte Bild fast überraschend freundlich.

Auch der Gutsherr empfand das und blieb unwillkürlich stehen, um den Anblick länger auf sich wirken zu lassen. Ein Zuckerhäuschen, das er einmal als Kind geschenkt erhalten hatte, kam ihm in Erinnerung; so ähnlich zum Anbeißen verlockend und so sauber weiß in weiß – nur in den Maßen vergrößert – lag das Birkenhaus da in dem blinkenden Kristallschmuck.

Er bog vom Fußsteig ab auf das Haus zu, pochte einigemal an der niedrigen Tür und suchte zugleich zu öffnen. Aber erst nach wiederholtem Klopfen wurde innen eine weibliche Stimme mit der Frage laut: »Wer ist da?«

»Luckner.«

Ein Riegel wurde zurückgeschoben und die in zwei Hälften geteilte Tür aufgezogen.

»Herr Graf –?«

»Zu Befehl, mein Fräulein –«

»Mit meinem Bruder?«

»Nein. Allein. Wollen Sie mir den Eintritt verwehren?«

»Sie wissen, Herr Graf, wenn mein –«

»Brauchen Sie eine Schutzwache?«

»Das nicht –«

»Fürchten Sie sich?«

Die Tür ging vollends auf.

»Bitte, nicht mit dem Schnee!« bat Sophie Löhr.

Graf Luckner stampfte gegen die Schwelle und suchte die Fußbekleidung von dem Schnee zu reinigen.

»Ein Paradies, Ihr Birkhaus,« sagte er im Nachklang der aufgenommenen Stimmung.

»Ihr Schloß wäre mir lieber,« lautete die nüchterne Entgegnung.

»Ich wollte, ich könnte es mit Ihnen teilen!«

»Das ist leicht gesagt –«

Sie nötigte ihn in das niedrige Wohngemach, das bei aller Dürftigkeit etwas freundlich Anheimelndes hatte. Die Diele war mit Sand sauber bestreut und die Decke hell gestrichen und mit einigen Farbenklexen, die Blumen darstellen sollten, primitiv bemalt. Die Möbel – ein Sofa mit ehemals grünem Bezug, ein paar Stühle, ein Tisch und eine Kommode – waren alt und plump; den verschossenen Sofabezug verdeckte aber eine hübsche Häkelarbeit und den Tisch ein tadellos weißes Linnentuch.

In dem Kachelofen knisterte ein Holzfeuer, und aus einer Röhre drang der Geruch von geschmorten Aepfeln.

Der Graf schnupperte und lachte.

»Bratäpfel? Geben Sie mir einen ab,« bat er.

»Gern.«

Luckner schmauste mit Appetit.

»Das Einfachste ist doch allemal das Beste,« sagte er zwischendurch. »Im Manöver ein Stück Landbrot und ein Happen Speck oder Wurst, und eins wie das andere mit dem Taschenmesser zugeschnitten – das rutscht. Und ein schöner Schmorapfel einfach zwischen den fünf Fingern – das rutscht auch.«

Er musterte das Mädchen ungeniert.

Sie war von mehr als Mittelgröße und von einem gewissen angenehmen Ebenmaß, wenn auch mehr derb und knochig, als schlank und biegsam. Das rundliche Gesicht zog mit seinen blühenden Farben an, ohne gerade schön zu sein; der Mund war schwellend, die Stirn frei, der Blick des grauen Auges lebhaft, mit einem Gemisch von Offenheit und Undurchsichtigkeit. Schön war das rotblonde Haar, dessen Fülle mit der gesundheitstrotzenden Gestalt im Einklange stand und dessen kupferne Reflexe diskret aufglänzten und verloschen wie das verhüllte Fragen und Sagen der Augen.

»Soll das eine Mahnung sein, weil ich Ihnen keinen Teller geholt habe?« fragte sie.

»Bewahre, brauche ich nicht. Machen Sie's anders?«

»Ja, ich –!«

»Es schmeckt mir famos. Geben Sie der Mamsell im Schloß Ihr Rezept –«

»Da ist keine Kunst bei –«

»Die ist überall. Am meisten in der Küche ... Ich nehme Platz – Sie gestatten mir – –«

Er ließ sich auf dem Sofa nieder und legte das Gewehr über die Kniee.

»Wenn mein Bruder –« wandte sie ein.

»Der hat zu tun. Vor Feierabend sehen Sie ihn nicht. Ich habe ihm vor einer halben Stunde aufgetragen, auf mich zu warten.«

»Weiß er –?«

»Nur daß ich nach der Birkwiese wolle, habe ich ihm nicht verschwiegen. Zu dem Musjöh Kürten. Ich gehe nachher auch hin. Ihr Bruder scheint die Zügel straff zu führen. Gefällt Ihnen das?«

»Er schreibt mir nichts vor,« behauptete sie.

»Aber er überwacht Sie.«

»Das hat er nicht nötig. Ich weiß allein, was ich zu tun habe oder was nicht –«

»Wissen Sie das–?«

»Ich meine.«

»Ich meine nicht, wenn es Ihnen auch klar sein sollte. Jeder Mensch hat das zu tun, was ihm zum Vorteil gereicht – was ihm angenehm oder nützlich ist, oder beides zusammen. Sie könnten beides haben – und ich das Angenehme mit Ihnen. Ich bin mit meinen achtundvierzig Jahren noch zu jung, um schon den Freuden des Lebens Valet zu sagen, und es liegt auch sonst kein Grund vor, der mich zur Askese zwingen könnte. Meine Frau ist tot, und die Rechte meiner beiden Kinder werden nicht geschädigt, wenn ich noch ein anderes Frauenherz finde, das mir zugetan ist. Leuchtet Ihnen das ein?«

Sophie Löhr hatte ihm mit widerspruchsvollem Interesse zugehört und ihn zuweilen mit scheuem Auge gestreift. Nach seiner Frage senkte sie den Blick und sah, während ihre Wangen sich höher färbten, schweigend vor sich hin.

»Hätte ich den Vorzug,« fuhr der Graf fort, »in einer größeren Stadt zu leben, so brauchte ich um eine Gefährtin nicht lange zu sorgen. In den Frauen der Großstadt rollt dasselbe Blut wie in denen bei uns auf dem Lande; aber es ist leichtflüssiger, edelflüssiger möcht' ich sagen, und läßt sich deshalb von Vorurteilen nicht eindämmen, wenigstens nicht lange. Und dann ist da auch die Erfahrung mehr bei der Hand, die die Vorurteile in ihrer Nichtigkeit bloßlegt und den Zögernden darüber hinweghilft. Da sieht kaum ein vernünftig Denkender etwas darin, wenn ein Weib sich den Lebenskampf von einem Manne erleichtern läßt, der ihr zwar nicht seine Hand, aber im Grunde mehr: sein Herz bieten und sie aus diesem heraus auch materiell sicherstellen oder mindestens fördern kann. In der rauhen Feld- und Waldluft auf dem Lande ist der Sinn der Menschen rauher, und es fehlt das abklärende Beispiel. Aber ganz mit Bretterwänden abgezäunt ist die Welt und die Einsicht da doch auch nicht, und gerade bei Ihnen, Fräulein Sophie, hätte ich gehofft – und gewünscht! – ein reiferes Verständnis zu finden, als im allgemeinen vorhanden sein mag. Sie sind zwar auch nicht weit herum gekommen, aber hinter Ihrer klugen Stirne vermute ich mehr, als hinter den breiten Schädeln der Masse ...«

Er war in eine Art Vortrag verfallen, dem sie in den Einzelheiten wohl nicht ganz klar zu folgen vermochte, den sie aber dem Sinne nach doch wohl verstand. Die Hände in den Schoß gelegt, saß sie ihm gegenüber, und ein Blutwellen in den Wangen, ein Zucken der vollen Lippen verriet ihre seelische Anspannung.

»Ich wäre unglücklich,« spann Luckner den Faden weiter, »wenn ich mich getäuscht haben sollte –«

Er unterbrach sich für ein paar Sekunden, weil ihm einfiel, daß seine Liebesfahrten doch ziemlich bekannt sein dürften und möglicherweise auch dem Mädchen vor ihm als unbequeme Waffe dienen konnten. Vorbeugend und beschönigend ergänzte er:

»Abermals – zum hundertsten Male getäuscht! Wie – habe ich gesucht, auf Tönndorp, auf Neurade, auf Depenau, ringsum auf meinem eigenen Besitztum – und nirgends gefunden – nirgends die Rechte. Endlich Sie, nach Jahren! Aber sind Sie nun die Rechte? Sie könnten es sein. Ich habe keine Gelegenheit gehabt, mich mit Ihnen auszusprechen. Hören Sie mir einmal willig zu. Wenn ein Ehrenmann ein Mädchen findet, das ihm wert ist, dann kann er sie auch anders versorgen als durch die goldene Fessel der Ehe. Und wird es. Ich wäre mit mir zum Beispiel vollkommen im reinen. Der alte Förster – ich habe ja nichts gegen ihn – aber er wird doch gebrechlich und muß über kurz oder lang durch eine jüngere Kraft ersetzt werden. Die jüngere Kraft wäre – meine Lieblingsidee – Ihr Bruder. Der Posten ist verantwortlich und fordert im Grunde mehr Erfahrung – mein Vertrauen würde aber die Erfahrung ersetzen. Ueber Jahr und Tag – oder früher – könnten Sie in das Forsthaus übersiedeln, und meine Freundschaft würde Ihnen eine sorgenlose Zukunft verbürgen.« Er streckte ihr die Hand hin. »Wollen Sie einschlagen, Sophie?«

Sie rührte sich nicht.

»Sie bedenken sich?« drängte er.

»Ich will mir's überlegen,« hauchte sie.

»Ach – überlegen! Ein frisches Wagen ist besser als alles Wägen!«

Sie schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Nein, ich muß das – bedenken –«

»Was denn?«

»Mein Bruder –«

»Der sollte Ihnen doch dankbar sein!«

»Ja – aber – –«

Sie sprang auf, von brennender Röte Übergossen.

»Nein – gehen Sie – ich – ich – –«

»Gut.«

Der Schloßherr erhob sich, zögerte unschlüssig und suchte sich ihr dann doch zu nähern.

Sie streckte ihm abwehrend die Hände entgegen.

»Nicht – nicht –« bat sie hastend.

»Ich darf wiederkommen?«

Sie nickte kaum bemerkbar.

»Dann gebe ich mich zufrieden. Sophie, ich sehe ein gutes Ende. Am Montag fahre ich nach Kiel, Dienstag ist Jagd, am Mittwoch hole ich mir Ihr Ja! Das Nein ist doppelt so lang und wird nicht angenommen. Geben Sie mir zum Abschied die Patsche?«

Sie schlug zögernd in die ihr gebotene Rechte.

»Mittwoch?« wiederholte er.

Sie widersprach nicht.

»Also auf Wiedersehen!«

Er bückte sich in den niedrigen Türen von Stube und Flur, grüßte noch einmal und stapfte durch den Schnee nach dem Fußsteig zurück, um diesen bis nach der Kate Hinrich Körtens weiter zu verfolgen.

»Doch verdammt langweilig,« knurrte er in den soldatisch starken, graumelierten Schnurrbart. »Ich glaube, der steife Dütjebengel fährt wahrhaftig schneller als ich. Aber mit der Zeit kapituliert auch die stärkste Festung.« Daß er sich nach der Dütje erteilten derben Belehrung selbst nicht zu richten beliebte, fiel ihm nicht weiter auf.

In der Umgebung der Körtenschen Kate untersuchte er scharf alle Zaun- und Buschlücken nach ausgestellten Schlingen, ohne auch nur irgendwo eine Spur von Wilderei entdecken zu können.

»Na, der Kerl wird so dämlich sein, mit dem Löhr dicht auf der Nase,« überlegte er. »Als ob das Revier nicht groß genug wäre.«

Auch auf dem die Birkwiese umsäumenden Knick blieb sein Suchen umsonst, soviele Wildwechsel er auch fand. Ein Lampe hüpfte abermals in Schußweite vor ihm sorglos auf die weiße Fläche. Der Graf riß das Gewehr von der Schulter, und der Schuß krachte mit lautem Echo. Der unvorsichtige Krumme lag auf der Strecke und wanderte in die Jagdtasche des Schützen.

Luckner strich sich befriedigt den Schnauzbart. An dem Krummen lag ihm nichts, aber der Schuß mußte auch von den Waldarbeitern und Löhr gehört worden sein und ihnen anzeigen, daß er erlaubtem Wilde nachstellte – wenn sie etwa anderes geargwöhnet haben sollten.

Er schlug einen Richtweg nach der Lichtung ein und übergab die Jagdbeute an den Beamten.

»Lassen Sie im Schlosse abliefern, Löhr. Der Körten weiß Bescheid damit, der Umweg wird ihm gut tun. Haben Sie Herbrinck gesehen?«

Hans von Herbrinck war der Verwalter.

»Er läßt auf dem Nettelsee Eis schlagen und wird dort sein.«

»War der Bedarf noch nicht gedeckt?«

»Das Eis war noch nicht gut.«

»Was, bei dem Froste seit vierzehn Tagen?«

»Die Leute hatten noch mit Dreschen zu tun. Und dann waren doch auch die Feiertage.«

»So, und hinter dem Eise hätte ich das Nachsehen gehabt, wenn –. Na, das geht Sie nichts an, das werde ich mit Herrn von Herbrinck selbst ausmachen. Ich lasse ihn nach Feierabend zu mir bitten.«

»De is wedder mal verkihrt upstahn,« murrte der gemaßregelte Dütje hinter ihm her.

»Oder de Mamsell hett em den Meddag anbrenn'n laten,« pflichtete Hinrich Körten mit heiserem Baß bei.

»Wenn de sick man mal sin grote Snut verbrenn'n wull,« wisperte Dütje giftig.

»Dütje!« rief kurz vor Feierabend Löhr über den Platz.

»Jo –«

»Elf achtzig, Dütje. Zweimal sind Sie zu spät gekommen.«

»Jo. Na, denn dank ick ok.«

Alle traten nach der Reihe an, wie sie gerufen wurden.

»Suhr, Sie wohnen Tabbeck am nächsten. Herr von Herbrinck hat gesagt, die Frau soll sich das Geld aus dem Verwalterhause holen.«

»Jo, denn warr ick dat bestelln.«

»Zwölf achtzig, Suhr.«

»Jo, un ick dank ok.«

Die Arbeitsgeräte wurden in die Bretterbude gebracht, der Forstgehilfe legte ein verrostetes Hängeschloß vor die Türe und verließ den Werkplatz als Letzter. Den Krummen nahm er selbst mit.

Auf dem Gutshof wurde er nicht lange aufgehalten. Herrn von Herbrinck traf er im Verwalterhause, übermittelte ihm den Auftrag des Grafen und machte sich auf den Heimweg.

Im Mondlicht erkannte er leicht die Fußspuren des Schloßherrn vor dem Birkhause. Mit umwölkter Stirn trat er seiner Schwester gegenüber. Aber das Mädchen kam seinen Fragen zuvor.

»De Graf wier hier,« erklärte sie harmlos.

»Int Hus –?«

»In'n Vörbigahn, Fritz ... Wat harr denn de bi uns herum tau säuken?« fragte sie unschuldig.

Fritz Löhr schien nicht ganz beruhigt.

»De Schuß käum von de Birkwiesch her,« bemerkte er nebenbei.

»Ja, ick stünn gerad ant Finster,« erzählte Sophie.

Löhr entledigte sich seiner schweren Stiefel, trat zu der Schwester an den Herd und sagte mahnend: »Du, nimm di vör den'n in acht.«

In dem Mädchen kämpften Trotz und momentane Verlegenheit. Aber die letztere war rasch überwunden.

»Der deiht mi nichts,« erklärte sie ruhig.


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