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Fünftes Kapitel.

Das Morgengrauen hüllte die Gebäude noch in ein diskretes Halbdunkel, als der Arbeiter Kruse vor dem Verwalterhause auf Herbrinck wartete, der einen Rundgang durch die Stallungen angetreten hatte und von dort jeden Augenblick zurückkommen sollte.

Es war eben so hell geworden, daß die Leute ihre Laternen, mit denen sie bis dahin hantiert hatten, auslöschen konnten, als der Verwalter über den Hof kam und bald vor dem seiner harrenden Arbeiter stand.

»Kommen Sie hinein, Kruse,« forderte er und ging ins Bureau voran. »So, und jetzt vor allem das Eine: Sie haben den Grafen ernstlich verletzt, und er wird, wie ich fürchte, zum Nachgeben schwerlich geneigt sein. Es war ein Zufall, daß er hinzugekommen und gerade die Stellen des Singsanges hören mußte, die sich auf ihn bezogen. Recht war es von Ihnen aber auch nicht, daß Sie das Gespötte duldeten, und wenn die Folgen für Sie unangenehm sein werden, so haben Sie sich das selbst zuzuschreiben.«

»Wenn Se awer doch en Wurt inlegg'n wull'n –«

»Das will ich tun, Kruse. Meine Macht ist aber nicht unbeschränkt, und ich stehe für einen guten Ausgang nicht ein. Gehen Sie jetzt an die Arbeit, und kommen Sie auch in den nächsten Tagen. Sobald ich selbst die Entscheidung des Grafen weiß, werde ich Sie davon in Kenntnis setzen.«

»Warrn Se em dat segg'n, dat – dat min Broder noch wedder dar wier?« fragte Kruse bedrückt.

»Ich will vergessen, daß ich ihn gesehen habe,« entgegnete Herbrinck nicht unfreundlich.

»Denn ok veelen Dank, Herr Verwalter.«

Nach Kruse kamen Dütje und Körten an die Reihe und erhielten gleichfalls ihren ernsten Verweis.

»Sie haben beide schon gerade genug auf dem Kerbholz,« schloß Herbrinck. »Wenn Sie das so forttreiben, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn die Geduld des Grafen endlich ausgeht. Die ist doch auch kein Schiffstau, daß Sie immer wie unvernünftig daran herumzerren und gar nicht bedenken, daß am letzten Ende auch Ketten zum Reißen zu bringen sind.«

»Jo,« meinte Dütje verlegen, »awer wenn die Kierl ni west wier –«

»Der Kieler? Lassen Sie sich von jedem hergeschneiten Schreier Ohr und Vernunft wegkaufen?«

»Dat ni. Awer –«

»Daß Sie beschönigen und die Schuld auf andere schieben wollen, macht Ihre Sache nicht besser. Schämen Sie sich, Dütje! Sind Sie ein Mann? Ein Mann, der was wert ist, steckt sich nicht hinter andere. Der löffelt die Suppe, die er sich eingebrockt hat, selbst aus, und wenn sie ihm auch noch so schlecht schmeckt. Um Ihren Rüffel vom Grafen werden Sie nicht herumkommen. Bedanken Sie sich, wenn's dabei sein Bewenden hat.«

Er brach kurz ab und schickte die beiden dem ersten nach.

Am halben Vormittage kam der Gutsherr zu Pferde an den Nettelsee und sah dem Eisfahren zu. Als er Herbrinck gewahr wurde, ritt er auf ihn zu.

»Morgen, Morgen!« grüßte er, und Herbrinck benutzte die Gelegenheit, das Gespräch sogleich auf die Uebeltäter zu lenken. Er bestieg gleichfalls sein Pferd, das an einer vor dem frischen Seewinde geschützten Stelle von einem Arbeiter gehalten worden war, und ritt im Schritte mit dem Grafen nach dem Gute zurück.

Er bot den heftigen Ausfällen des Gutsherrn gegenüber seine ganze Ruhe auf, um ein möglichst günstiges Ergebnis für die Bedrohten zu erzielen. Aber Luckner beharrte, soweit Kruse in Frage kam, mit ungewohnter Zähigkeit auf seinem Entschluß.

»Die andern beiden, Herbrinck – meinetwegen, die können Sie rüffeln und einstweilen behalten – mal kommt auch ihre Stunde. Den Kruse aber – nicht um die Welt!«

Herbrinck hatte bereits an einen Ausweg gedacht.

»Würden Sie mir gestatten, in anderer Weise für die Leute besorgt zu sein?«

»Wie meinen Sie das, geehrte Allerweltsvorsehung?«

»Vielleicht könnte ich sie auf einem Nachbargute unterbringen –«

»Dafür würden Sie keinen Dank ernten.«

»Ich möchte aber den Versuch machen.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Menge und Tönndorp werde ich aber warnen. Sollen die nachher den Schabernack haben?« grollte Luckner. »Allzuheiß bekommt nicht; verbrennen Sie sich den Mund nicht.«

Damit wurde das Thema fallen gelassen.

»Denken Sie versöhnlicher?« fragte Herbrinck am Jagdtage, als der Graf in guter Laune schien.

»Kommen Sie mir schon wieder mit dem Spottgelichter? Nein! – wiederhole ich Ihnen, und wenn Sie noch hundertmal fragen. Aber warten Sie, versalzen werde ich Ihnen das; gleich spreche ich mit Tönndorp und dem Neurader und baue Ihnen das Loch gründlich zu.«

Herbrinck lächelte.

»Da freue ich mich, daß ich flinker gewesen und Ihnen zuvorgekommen bin, Herr Graf. Herr Menge hat bereits eingewilligt.«

»Was, sich richtig übertölpeln lassen? Den Braten schnappe ich Ihnen doch noch weg!«

Erst am Abende beim Skat fiel Luckner die Geschichte wieder ein.

»Ich gratuliere Ihnen, Menge, 't ward immer kruser up Neerad,« stichelte er, während Tönndorp die Karten mischte.

»Das ist Ihr Vorteil. Die schönen Schnadahüpfeln werde ich mir aber auch mal vortragen lassen,« gab Menge zurück.

»Abheben!« mahnte Tönndorp.

»Ich würde Ihnen raten, noch etwas zu warten,« fuhr Luckner fort. »Vielleicht kann inzwischen eine kleine Umdichtung vorgenommen werden, und die Knüttelverse passen dann mitsamt dem Knüttel auf Sie!«

»Sie reizen, Menge!« erinnerte Tönndorp wieder.

»Tourné,« bot Menge. »Es giebt Menschen, die vorm rauhen Handschuh davonlaufen. Dazu gehöre ich nicht.«

»Und andere, die das Feuer nicht sehen, wenn's schon lichterloh brennt. – Tourné habe ich.«

»Ich bin versichert, Luckner. – Solo!«

»Habe ich. – Meinen Sie, Ihre Neurader Alten seien für Sie eine Leibgarde? Die werden mit aufgewiegelt.«

»Coeur – Pique. – Das sind doch keine Wetterhähne.«

»Null!« reizte Tönndorp ungeduldig.

»Sind sie alle!« behauptete Luckner. »Ich passe!«

»Ihr Null soll zu Wasser werden, Tönndorp. Trefle!« überbot der Neurader.

»Sie haben wohl wieder die ganze Hand voll!« murrte Luckner. »Aber Ihre Kartenbuben, und wenn sie alle vier zusammensitzen, bleiben gegen einen Kruse doch immer von Pappe.« –

Herbrinck spielte nicht mit, hatte dem wenig ernst gemeinten Geplänkel aber belustigt zugehört. In einer Spielpause wurde Thee gereicht, und Tönndorp suchte den Verwalter mit seiner Spielenthaltsamkeit zu foppen. »Hockt da abseits bei den jungen Herrschaften oder guckt einem höchstens mal über die Schultern – Kuckuck, Sie versauern ja mit jedem Tage mehr!«

»So, weil er sich mit uns unterhält?« fragte die Komteß Helene. »Danke für das Kompliment, Onkel Tönndorp.«

»So war das nicht gemeint, Kleinste,« verwahrte sich der von unvermuteter Seite Angegriffene. »Freilich,« gab er zu, »du hast recht: ich habe wirklich eine kleine Dummheit rausgebracht. Bitte vielmal um Verzeihung, meine Gnädigste ...«

Luckner schlug sich auf seine Seite.

»Du brauchst nichts zurückzunehmen,« schürte er, »denn du hast nur die Wahrheit gesagt, die manchmal zwar was bitter ist, aber doch gelten muß. – Mit Ihnen ist was nicht ganz in Ordnung, Herbrinck. Ich glaube, Sie sind verliebt. Heiraten Sie doch!«

Die junge Komteß wurde dunkelrot und machte sich abseits zu schaffen.

»Sind Sie zu schüchtern?« schlug Tönndorp in die gleiche Kerbe. »Soll ich den Freiwerber machen?«

»Verfügen Sie über mich ebenfalls.« neckte Luckner. »Ich bin sogar am besten qualifiziert, Herbrinck, denn ich kenne Sie am genauesten und kann nicht annähernd genug zu Ihrem Lobe sagen.«

Aus dem Scherz klang die Wärme.

»Den Bären muß man haben, ehe man ihn verhandeln kann,« nahm Herbrinck den Scherz mit äußerer Ruhe auf, obgleich ihm das Thema in Gegenwart der Komteß nicht angenehm war.

»Na, die Zeit wäre da,« meinte Tönndorp. »Aber bei uns herum ist schließlich auch nicht gerade viel zu holen. Sie müssen Timmhusen mal den Rücken kehren, sich in Kiel umsehen, im Sommer in die Bäder gehen. – Sie können doch nicht erwarten, daß die heiratslustige Damenwelt zu Ihnen gepilgert kommt.«

»Schaue dich mit um – Sie auch, Menge!« ersuchte Luckner die Freunde. »Ich werde an meinem Teil ebenfalls nicht verfehlen ... Worauf steht denn Ihr Sinn, Herbrinck: blond, brünett, schwarz? Oder gar rot?«

»Ich werde mir das überlegen, Herr Graf. Vielleicht haben Sie die Güte, nach ein paar Jahren mal wieder anzufragen –«

»Oho!« unterbrach der Schloßherr lachend. »In eine so luftige Ferne wollen wir die Geschichte nicht verschieben. Ich bewillige Ihnen Urlaub, wann und solange Sie wollen. Aber machen Sie Ernst, Bester. Hui! wird der alte Bau umgestoßen und der neue, der schon all die Jahre her spukt, hingezaubert. Ohne Spaß: daran könnten wir immer schon denken!«

»Die alten Räume genügen mir,« behauptete Herbrinck und sprach sich wie gewöhnlich gegen das Projekt aus.

»Ihre Einwände bleiben immer dieselben,« fiel ihm Luckner ins Wort. »Aber die Verhältnisse sind gänzlich andere geworden. Ich muß wieder mal meinen Kopf durchsetzen,« drohte er, wandte sich dann aber von neuem dem Spiele zu.

Die Komtessen zogen sich bald nach dem Thee zurück, und Herbrinck fühlte, als die Hand Helenes in der seinen ruhte, ein Zittern in den schlanken Fingern. Ihr Blick streifte ihn befangen.

Es hielt ihn nicht mehr.

Er verweilte nur noch kurze Zeit als Zuschauer und verabschiedete sich dann unter dem Vorgeben, ermüdet zu sein. Der Schlaf floh ihn aber, und noch stundenlang lag er in quälendem Grübeln. Phantasie und Gedächtnis beschworen düstere Bilder herauf, die doch immer wieder, wie die Sonne die Wolken, blendend und strahlend das frische Bild der jugendlichen Komteß durchbrach. Mit einem Stöhnen drehte er sich der Wand zu und schloß die Augen; aber selbst der endlich herbeigezwungene Schlaf trieb das marternde Spiel in wirren Träumen fort.

Abgespannt erwachte er, kalt und ernüchternd umgab ihn das Morgengrau. Schwerfällig erhob er sich und fand die Beherrschung nur langsam wieder.

Nach beendetem Tagewerke machte er im Mondscheine noch einen Gang durch die winterliche Waldung. Selbstvergessen schritt er aus und stutzte fast verwundert, als er weit im tiefen Abendfrieden plötzlich das Birkhaus vor sich liegen und die kleinen Fenster rot aufleuchten sah. Etwas Einladendes sprach aus dem Lichtschimmer zu ihm, das ihn unwillkürlich näher lockte, und als er durch die unverhängten Scheiben Löhr und seine Schwester am einfachen Abendtische sitzen und sich unterhalten sah, drängte es ihn, an dem Frieden der beiden Menschen teilzunehmen und bei ihnen einzukehren.

Er pochte und rief seinen Namen.

Der junge Mann kam, um zu öffnen.

»Sie, Herr von Herbrinck?« fragte er freudig.

»Wenn ich Sie nicht störe, möchte ich wohl noch ein Stündchen verplaudern,« erwiderte Herbrinck freundlich.

»Stören? Gar nicht,« versicherte Löhr und fand an seiner Schwester eine Unterstützung, die den willkommenen Gast gleichfalls einlud.

»Der Graf ist noch in Kiel,« erzählte Herbrinck im behaglich durchwärmten Zimmer, »und dürfte kaum vor zehn oder elf zurückzuerwarten sein. Da lockte es mich noch etwas hinaus.«

Das Mädchen räumte ab, nachdem Herbrinck für einen Imbiß gedankt hatte, und dann saßen sie alle drei im Lichtkreise der kleinen Hängelampe, die den Raum dürftig, aber hinreichend erhellte. Herbrinck hatte dem geschickten Hantieren des Mädchens mit Wohlgefallen zugesehen und empfing auch im Laufe der Unterhaltung einen so guten Eindruck von ihr, daß er im stillen die auf eine Verbindung mit dem Grafen zielende Besorgnis des Bruders für unbegründet erklärte. Sie mochte nicht gerade tief veranlagt sein und war sicher nicht zu einem eigenartigen und selbständigen Denken fähig wie die ihr geistig weit überlegene junge Komteß; aber sie gab sich mit einer Einfachheit und zurückhaltenden Bescheidenheit, die ihm auch mit einer vertrauenswürdigen Besonnenheit und Festigkeit verbunden zu sein und eine leichtsinnige Erniedrigung auszuschließen schien.

Der Eindruck stimmte ihn heiter und ließ ihn in dem kleinen Kreise sich wohl fühlen. Und darüber vergaß er dann auch, daß sich das Gespräch im ganzen in recht nüchternen Bahnen bewegte und fast nur Alltäglichkeiten berührte, wenn er nicht selbst darüber hinausgriff und einen Faden sinnend ausspann, den ein Zufall die anderen hatte bloßlegen lassen.

Die Geschwister kannten den Artisten Kruse und erzählten von ihm, als Herbrinck seinen Namen genannt hatte, daß er sich ehedem heimlich aus der Heimat entfernt haben solle, in dem Drange, mehr zu werden, als ihm in der dörflichen Umgebung möglich war. Er habe zuerst in Neumünster ein Unterkommen als Stallknecht in einem Fuhrgeschäft, dann als Hausdiener in einem Gasthofe gefunden. Beim Militär sei er bis zum Unteroffizier avanciert, habe dann aber in seiner Unstetigkeit den bunten Rock ausgezogen, sich nacheinander als herrschaftlicher Diener, Kellner und Agent in verschiedenen Städten umhergetrieben und sich schließlich dem Theater zugewendet, auf dem er zu den Größen aufzusteigen gehofft habe.

»Es muß aber wohl doch nicht gelangt haben, denn viel geworden ist aus ihm nicht,« meinte Lohr.

»Ueber seine Kraft kann niemand,« reflektierte Herbrinck. »Und wer die überschätzt, dreht sich im Kreise und langt immer wieder da an, von wo er ausgegangen ist. Freilich – mitunter kann er sich auch verirren, und dann führt ihn ein Fehlschlag nach dem andern abwärts in eine trostlose Tiefe. Und wie die Kraft zum Schaffen, die geistige und die physische, so wird nicht selten die sittliche verkehrt eingeschätzt und versagt in einem Taumel des Lebens, der notwendig gleichfalls an den Abgrund leiten muß. Ich weiß nicht, ob und woran der Kruse gescheitert ist; aber für eine gesunde Sittlichkeit hat das Variété wohl kaum den Boden, und selbst, wenn seine Begabung ihn darauf hinweist oder wenigstens dafür ausreicht, wird von einer echten Befriedigung wohl kaum die Rede sein können. Mich hat er bei der kurzen Begegnung nicht angezogen; ich kann das theatralisch Verschminkte und Verschmitzte nicht leiden. Ich will ihm aber nicht zu nahe treten, und vielleicht ist er besser, als meine subjektive Meinung ihn einschätzt.«

Er schwieg sekundenlang und betrachtete ein von Sophie gesticktes Kissen, auf dem bis dahin seine Hand geruht hatte.

»Fleiß und Geschmack vereint,« lobte er still. »Die kunstfertigste Hand hatte meine Mutter ... Der ging nichts über ihre Kraft: kein Wollen, kein Können, kein Freuen, kein – schmerzliches Leiden.«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er Erinnerungen, die in ihm aufstiegen, fortwischen.

»Unsere Mutter war auch gut,« flocht Sophie Löhr leise ein, und der Bruder nickte dazu.

»Ja? Es ist merkwürdig. Ich habe einen braven, tüchtigen Vater gehabt, aber das Bild der Mutter ist in mir doch lebendiger. Es ist mir teurer, heiliger. Der Mann wird in den Stürmen rauh, das edle Weib läßt dem Körper Wunden schlagen und bleibt weich und tief und stark im Innenleben. Das reine Weib gibt der Welt das Hehrste und Göttlichste: die unergründliche und nie zu erschöpfende Liebe – das Gottesgeschenk, das sie selbst weiht und sie mit ihrem Reichtum noch verschwenderisch die schirmen läßt, die in ihre treue Hut gegeben sind, die Liebe, die mit ihrem Lächeln Jubel und Stolz erweckt und die mit ihren Tränen eine Saat ausstreut, die auch auf Felsengrund Wurzeln schlägt und freudig treibt. Sie sind nicht alle so; Licht und Schatten, Tageshelle und düstere Nacht wechseln. Aber wer eine gute Mutter sein nannte, dem ist auch die Erinnerung an sie noch ein Talisman.«

Herbrinck wandte sich an den jungen Forstgehilfen und dachte an die Schwester.

»Lieber Löhr, wenn je – Sie haben ja noch ein langes Leben vor sich – die Versuchung an Sie herantreten sollte: rufen Sie das Andenken an die Hüterin ihrer Kindheit wach, und die Kraft zum Widerstand wird, wenn sie zu erlahmen drohte, erstarken zum freudigen Ueberwinden.«

»Sollte das auf meine Schwester zielen?« dachte Löhr ungewiß.

Aber Herbrinck ließ ihn im unklaren. Er horchte auf ein Knistern der Petroleumlampe und ging aus der beschwingenden Stimmung wieder in die Prosa über.

»Das Oel geht zu Ende,« lenkte er ab, »und das ist für mich wohl eine Mahnung, daß ich an den Heimweg zu denken habe.« Er vergegenwärtigte sich, wie oft ihm mit seinen Grübeleien das eigene Heim zu enge wurde und wie er sich hinaussehnte zu Menschen, mit denen er sich aussprechen, bei denen er mindestens Zerstreuung suchen durfte. »Darf ich wiederkommen?« fragte er.

Sophie wollte neues Oel aufgießen; aber der Gast hatte sich bereits erhoben.

»Nein, ich danke Ihnen,« wehrte er ab. »Wenn Sie aber ein anderes Mal Ihre Tür nicht vor mir verschließen wollen, klopfe ich gern wieder an.«

»Wir werden uns immer freuen,« versicherte Löhr aufrichtig.

»Dann Gute Nacht für heute, und auf Wiedersehen.«

Der Scheidende gab den beiden Geschwistern die Hand und schritt im bläulichen Mondschimmer den einsamen Weg zurück. In den Wipfeln über ihm rauschte es, und ein seiner Schnee rieselte herab. Die Kälte hatte eher zu- als abgenommen, aber ihn fror nicht. Er kam sich erfrischt vor, und ein geklärtes Bewußtsein stählte ihn.

Sophie Löhr saß, als der Bruder schlafen gegangen war, noch wach in ihrer Kammer. Sie hatte die Hände ineinander geschlungen, und die Wangen glühten ihr. Wie anders hatte der Mann heute gesprochen als vor Tagen der andere! Die Scham ließ sie erröten und fast etwas wie eine Erbitterung darüber in ihr aufsteigen, daß sie den anderen, den Dreisten, angehört, daß er es gewagt hatte, derb und unverhüllt zu ihr zu sprechen, sie schon mit seinem achtungslosen Antrag zu entehren. Er war nicht wieder gekommen; er hatte das Spiel nicht weiter getrieben. Er konnte es aufgegeben, er konnte es auch nur verschoben haben. Aber hatte er je Aussicht gehabt, zu gewinnen – mit dem Aufschub hatte er verloren. Ein Zweiter war gekommen und hatte ihr die Augen geöffnet, und der Zweite war der Mann von Ernst und Gehalt, das stand auch vor ihrem begrenzten Fassungsvermögen. Und mit ihrer Erkenntnis fiel eine Mischung von Dankbarkeit und Achtung zusammen, die sie das Bild des ernsten Mannes unruhig und zagend zugleich umspannen ließ.


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