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Zwölftes Kapitel.

Als Hans von Herbrinck das Gerichtsgebäude verließ, lag es ihm wie Blei in allen Gliedern. Er schleppte sich nur mühsam fort und wurde erst draußen aufmerksam, daß der junge Förster sich ihm zur Seite hielt und ihn ängstlich beobachtete.

»Bist du krank, Hans?« schlug es wie von fernher an sein Ohr.

Er blieb stehen und schüttelte den Kopf.

»Krank? Nein.« Er sah auf den Boden und überlegte. Dann hob er das Auge. »Fritz, geh nach dem Hotel und – warte auf den Grafen, wenn er nicht dort ist. Mir – ist doch nicht wohl. Teile dem Grafen mit, daß – Kruse von der Strafe ereilt ist. Du weißt wohl –«

»Ich war draußen, Hans –«

»So? Zu einem Jahre – ist er verurteilt worden. Gehe voraus. Ich – mache einen Umweg. Und beunruhige dich nicht. Ich werde mich bald erholen.«

»Hans, laß mich bei dir bleiben –«

»Nein, geh, Fritz. Ich werde mich allein am leichtesten zurechtfinden. Und der Graf muß Bescheid haben.«

»Wann kommst du nach?«

»Ich werde eine kleine Spazierfahrt machen –« Er suchte nach einem Wagen, bemerkte eine Droschke in der Nähe und schritt auf sie zu.

»Adieu, Fritz,« sagte er vor dem Einsteigen. »Wenn der Graf fragt, wo ich bleibe, entschuldige mich ...«

Er instruierte den Kutscher, ließ sich in dem Wagen nieder und winkte dem Schwager im Abfahren mit der Hand zu.

Sobald er sich unbeobachtet glaubte, sank er kraftlos in sich zusammen, und der eine Gedanke: »Es ist aus, alles aus!« betäubte ihn.

Riesengroß war die Schmach der Vergangenheit, die ihren Stachel für ihn nie verloren hatte, plötzlich wieder vor ihm aufgetaucht und hatte ihn zum zweiten Male gebrandmarkt und aus der Reihe der Ehrenmänner ausgestoßen. Mit einem Schlage stand er wieder unter dem furchtbaren Drucke, dem er beim erstenmal fast erlegen war und von dem er in zwei Jahrzehnten sich nie ganz hatte befreien können. Als ein untilgbarer Schatten war ihm die Schmach gefolgt, hatte sich in seine Träume gedrängt und sich zwischen ihn und alle die gestellt, die er lieb gehabt. Sie hatte den strengen, ehrenfesten Vater, die unvergleichlich gütige Mutter schwer leiden lassen und sich als unüberwindliches Hindernis zwischen ihn und das edle Mädchen gestellt, das ihm teurer war als sein Herzblut, das nicht von ihm getrennt war durch Stand, Bildung und Reichtum, das er aber nicht berühren durfte mit entweihten Händen.

Aus, aus!

Zu Ende der Traum der Rehabilitierung, selbst von einem späten Lebenssommer und Herbst in bescheidenem Frieden.

Ein neuer Anfang, ein neues Kämpfen.

Wieder allein, wieder hinausgetrieben in die seelenlose Fremde.

In die Fremde ...

Er fühlte die Kehle trocken und die Augen brennen und stechen, den Puls fliegen, die Schläfen schmerzhaft hämmern. Wie eine Ohnmacht umfing ihn die Mattigkeit des Körpers, und rastlos, klar, mit unerbittlicher Logik arbeiteten doch die Gedanken unter der hohen Stirn.

Zerrissen die mühsam geflickte Ehre, undenkbar die Möglichkeit, an die alte Friedensstätte, zu den alten Freunden heimzukehren.

Eben hatten die Menschen im Gerichtssaale es gehört, bald würden die Zeitungen es weiter und weiter tragen – und auch auf Timmhusen würde die Kunde ein Raunen und Tuscheln erzeugen, die ihm Gutgesinnten sich schmerzlich abwenden und die anderen, die Gleichgültigen und Neutralen, die Stumpfen und Boshaften, die Achseln zucken oder ihn gar offen schmähen lassen.

Nein, kein Zurück, nur ein einziges, gebieterisches Fort!

Der Graf war ihm zugetan; er würde ihn am schwersten vermissen. Aber er würde auch nicht mehr mit ihm zusammen arbeiten können. Die Ehre des alten Soldaten duldete es nicht, daß ein Geächteter sein Vertrauensmann blieb, dem er die Hand reichen, den er mit dem brüderlichen Du beehren durfte.

Und die Komteß Helene! Er würde ihre Reinheit trüben, wenn er sie auch nur mit seinem Hauche berührte. Ihr vorwurfsvoller oder klagender Blick würde ihn in die Erde sinken lassen vor Schmerz und Scham. Er betete sie an und er wußte sich von ihr geschätzt – vorbei, vorbei! Nacht, Elend und Grauen der Rest!

Löhr! Die Braut ... Der Mann war ihm ergeben; er würde um ihn trauern, lange, aufrichtig, still ... Und die Braut? Würde sie vergeben? Vergeben? fragte er sich zweifelnd, und hatte merkwürdig klar die Empfindung, daß sie sich als die am meisten Beleidigte fühlen und ihn am ehesten preisgeben würde.

Die Leute –! Bah, der eine ging – ein anderer kam. Die Arbeit härtet Hände und Herzen. Und die Dankbarkeit ist ein Kraut, das schwer aufgeht und kümmerlich gedeiht.

Eine würde triumphieren – Eveline. Mochte sie es. Mochte sie ihn schmähen und verhöhnen und ihren eigenen Scharfblick preisen. Aber das sollte sie nicht erleben: ihm ihre Schadenfreude ins Gesicht zu lachen.

Er richtete sich müde auf und musterte die ländliche Umgebung.

»Kehren Sie um,« befahl er dem Kutscher.

»Wohin, Herr?«

Herbrinck besann sich flüchtig.

»Bahnhof!« gab er zurück und verfiel in erneutes Grübeln, aus dem ihn auch das Räderrasseln nicht weckte, als er die Stadtgrenze wieder erreicht hatte und der Wagen auf unebenem Pflaster dahinstolperte. Erst als der Kutscher am Bahnhof hielt, kam ihm das Bewußtsein zurück, daß er sich über seine nächsten Handlungen zu entschließen habe. Da das Hotel, in dem Graf Luckner sich aufzuhalten versprochen hatte, in der Nähe des Bahnhofes lag, lohnte Herbrinck den Kutscher mit nervöser Hast ab und verschwand in der Eingangshalle.

Vor einem Wandfahrplan machte er Halt. In einer halben Stunde ging ein Schnellzug nach Hamburg.

Herbrinck löste sich eine Fahrkarte erster Klasse und suchte im Wartesaale einen möglichst verdeckten Platz.

Die Zeit bis zum Abgange des Zuges schien ihm eine Ewigkeit, und ängstlich fürchtete er, jeden Augenblick Löhr oder den Grafen in den Saal treten zu sehen. Als endlich zum Einsteigen gerufen wurde, suchte er eilig ein leeres Coupé, rief den Schaffner heran und bat, solange es möglich sei, ihn allein zu lassen. Ein Talerstück gab seinem Verlangen einigen Nachdruck, der Schaffner warf die Türe zu, und Herbrinck lehnte sich erschöpft zurück.

Stoßend, polternd, rasselnd verließ der Zug die Halle.

Ein ›Gottlob!‹ kam über die Lippen des einsamen Fahrgastes, und seine Gedanken flogen nach dem Hotel, in dem der alte Freund ungeduldig seiner harren und vergebens nach einem Grunde suchen würde, der ihn, den immer Pünktlichen, diesmal so lange fernhielt. So lange! Bis in den Abend, in die Nacht. Bis an den Morgen, der mit seinen Zeitungen den Schleier des traurigen Geheimnisses lüften würde.

Und er hatte Luckner richtig beurteilt.

Löhr erstattete dem Grafen Bericht.

»Ein Jahr? Schön. Tut mir leid um den Bengel, ist ihm aber recht.« Er nickte grimmig. »Wo bleibt denn Herbrinck?« setzte er fragend hinzu.

»Er kommt nach. Ihm – war nicht ganz wohl. Er hat sich einen Wagen genommen, um sich zu erholen.«

»Kann ich begreifen,« sagte der Graf lebhaft. »Mir war auch ganz miserabel geworden. Scheußliche Luft, und Menschen! – äh! Und eine Fragerei, als ob man selbst angeklagt wäre und nicht der Esel von Kruse. Da werden Umstände um so einen Galgenkandidaten gemacht, daß man sich gegen so'n Juwel ganz erbärmlich vorkommt. Na, ist gut, Löhr. Wenn Sie noch was zu besorgen haben, bitte, verfügen Sie über Ihre Zeit.«

Er winkte entlassend und vertiefte sich wieder in eine Reihe von Zeichnungen, die ihm der Architekt Hertling ins Hotel gebracht hatte.

Alle zehn Minuten sah er nach der Uhr, stampfte durch das Zimmer, trat an eines der Fenster und spähte nach dem Erwarteten aus, der noch immer nicht kommen wollte, selbst nach Stunden nicht.

Am späten Nachmittage stellte sich der Architekt zur Besprechung ein.

»Sehr schön, daß Sie da sind,« begrüßte ihn Luckner, »aber die Hauptperson fehlt, Herbrinck. Weiß der Kuckuck, 'n bißchen eiliger könnte er's wohl haben!«

»Finden die Entwürfe Ihren Beifall, Herr Graf?« fragte der Baumeister.

»Im einzelnen und im ganzen, durchaus,« entgegnete Luckner befriedigt. »Und geändert wird nichts mehr. Aber seine Zustimmung muß Herbrinck auch geben. Wenn ich bloß wüßte, wo ich ihn suchen lassen könnte.«

Er klingelte nach einem Hausdiener.

»Sehen Sie nach, ob mein Förster noch da ist.«

»Sofort, Herr Graf.«

Löhr hatte sich nicht entfernt, sondern sich unruhig im Flur und vor dem Hotel herumgedrückt. Er kam sogleich.

»Herr Graf befehlen?«

»Ja, nun sagen Sie mir: was hat denn das zu bedeuten?« fragte Luckner erregt.

»Ich bin in Sorge,« sagte Löhr bescheiden.

»Jawohl, und ich! Kreuztürken, war ihm denn ernstlich unwohl?«

»Herr Graf, ich fürchte es.«

»Na, das wäre eine schöne Geschichte! Wegen so einem Lumpen soll der noch Schaden nehmen. Ich könnte aus der Haut fahren.«

»Ich hätte ihn Wohl nicht allein lassen sollen –«

»Nee, hätten Sie nicht. Aber konnten Sie auch nicht wissen. Er war doch sonst keine Jammerbase. Nie krank gewesen, immer wie von Stahl. Wohin ist er denn gefahren?«

»Ja, das weiß ich nicht.«

»Also nicht mal 'n Anhalt hat man, daß man nach ihm ausschicken könnte. Himmeldonner! Und wir warten hier und können nicht von der Stelle. Und es wird Nacht, ehe wir nach Timmhusen zurückkommen. Na, das wäre alles das wenigste, wenn er nur erst da wäre, heil da. Ich kriege nachgerade was wie schlechte Ahnungen. Haben Sie noch Zeit, Baumeister?«

»Ganz nach Ihrem Belieben, Herr Graf.«

»Schön, schön. Wissen Sie denn die Nummer von der Droschke, Lohr?«

»Ich habe nicht daraus geachtet.«

»Na, tut man ja auch nicht.« Er warf wieder einen Blick auf seine Taschenuhr. »Bald halb sieben. Endlich wird er sich doch einfinden müssen. Danke, Löhr! Bleiben Sie unten? Springen Sie ihm voran zu mir, wenn die Schüttelkalesche ihn anbringt.«

»Zu Befehl, Herr Graf.«

Luckner stand mitten im Zimmer und sah auf den Architekten.

»Mir schwant, daß da was nicht in Ordnung ist,« sagte er düster. »Sonst die Pünktlichkeit selbst, und gerade heute wie auf den Kopf gestellt?« Er nahm wieder einen der Pläne. »Ganz nach meinen Intentionen, Baumeister. Alles geräumig, alles praktisch. Ich bin überzeugt, Herbrinck findet auch nichts auszusetzen. Wird ihm höchstens zu kostspielig sein. Und das ist meine Sache. Wenn der Wettergott uns keinen Streich spielt – Mitte April wird angefangen. Wie lange dauert der Abbruch?«

»Zwei bis drei Wochen dürften zu rechnen sein.«

»Na, bis Mitte Juni dann das neue Fundament. Ende Juli der Bau hoch – bis Mitte September beste Trockenzeit und minimale Störung in der Ernte – dann die Ausstattung – klappt vorzüglich!«

Luckner bestellte eine Flasche Wein und stieß mit dem Architekten an.

»So'ne Warterei ist verteufelt. Selbst zum Skat hätte ich keine Lust. – Fünf Minuten nach sieben. Ist er um acht nicht da, laß ich aber wahrhaftig Lärm schlagen.«

Nach einer Stunde waren sie noch allein.

»Jetzt ist es sicher, da steht was schief,« sagte Luckner erregt. »Und was tun? Halt, erst mal nach Timmhusen depeschieren.«

Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und warf mit Blei die Zeilen hin: »Verhandlung zu lange gedauert. Bleiben über Nacht und kommen erst morgen. Grüße. Luckner.«

»Sonst geht da der Tanz auch noch an,« erklärte er. »Das wird aber aufklären und ganz glaubwürdig sein. – In Berlin waren überall Unfallstationen. Gibt's den Segen hier auch? Oder soll man die Polizei alarmieren?«

Der Baumeister riet ab.

»Wenn Herr von Herbrinck wirklich von einem Unfalle betroffen sein sollte,« meinte er, »so wird er doch wenigstens Nachricht an Sie gelangen lassen. Er weiß doch, wo Sie zu finden sind.«

»Gewiß weiß er. Aber wenn er ernstlich erkrankt ist? Wenn er irgendwo eine Unterkunft gefunden hat und ein Lebenszeichen zu geben außer stände ist? Wie viele kennen ihn denn, und wer weiß von meinem Aufenthalt? Baumeister, ich bin wirklich niedergeschlagen.«

Neun Uhr. – Dann zehn dumpfe Schläge der ermüdend schleichenden Wanduhr.

Hertling ging.

»Löhr! Löhr!«

Der Graf war außer sich.

»Das ist ein Unglückstag. So viel war der verdammte Grünschnabel beileibe nicht wert. Und nichts kann man tun! Nur Geduld haben. Geduld! So 'n Wort! So kurz und unschuldig – und so grausam. Und er verlangt vielleicht nach uns – und wir können nicht zu ihm. Können nur Geduld haben, Geduld! So ein Unglückstag!«

Löhr war selber viel zu bestürzt, als daß er hätte raten können. Mit Bergeswucht drückte ihn nur immer wieder der Vorwurf, daß er dem Kranken nicht zur Seite geblieben war.

Mitternacht kam heran, und Luckner streckte sich nach erteiltem Befehl, ihn bei einer Botschaft jederzeit zu wecken, angekleidet aufs Bett, wahrend Löhr in der Gesellschaft des Nachtportiers wach blieb.

Der Morgen graute herauf, und einzelne Nachtbummler und Arbeiter streiften durch die Straßen um den Bahnhof und nach dem Hafen zu. Ehe noch das Hotel sich belebte, brachte eine Botenfrau eine Anzahl Tageszeitungen.

Löhr richtete sich fröstelnd in der Portierloge auf, nahm ein Blatt zur Hand und suchte zu lesen. »Kieler Zeitung« stand am Kopfe des Blattes.

»Da wird auch der Bericht über Ihre Brandgeschichte drin stehen,« sagte der Portier und half suchen. »Richtig, da ist es schon: ›Schwurgericht. Ein jugendlicher Verbrecher stand in der gestrigen Tagung vor den Geschworenen.‹ – Das wird es sein.«

Löhr durchflog den ausführlichen Bericht ohne sonderliches Interesse, bis er an eine Stelle kam, die ihn plötzlich im tiefsten erregte. »Als schon die Zeugenvernehmung nahezu beendet war,« las er, »brachte ein Manöver der Verteidigung einen unerwarteten Zwischenfall. Der Hauptbelastungszeuge, der Verwalter des Rittergutes Timmhusen, Herr H. von Herbrinck, hatte sich mit Bestimmtheit für die Schuld des Angeklagten ausgesprochen, und der Wahrspruch der Geschworenen konnte nicht zweifelhaft sein, wenn es nicht gelang, die Aussagen dieses Zeugen zu erschüttern. Der Verteidiger nahm den Nachweis auf sich, daß der Zeuge den Angeklagten durch Mißhandlung zu dem Eingeständnis gezwungen habe und zu solchen Gewalttätigkeiten schon seit früher Jugend hinneige. Unter lautloser Stille des Auditoriums stellte er seine Fragen an den Zeugen, und der Verwalter von Herbrinck mußte zugeben, daß er nicht bloß wegen Körperverletzung schon vor Gericht gestanden habe, sondern auch zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt worden war. Allerdings: die Bestrafung lag volle zwanzig Jahre zurück, und der Zeuge, ein tüchtiger, geachteter Beamter, schien unter der Auffrischung der alten Schuld, die er längst begraben wähnen mochte, schwer zu leiden. Er hielt sich nur mit Anstrengung aufrecht und verließ den Schwurgerichtssaal als ein Gebrochener, obwohl die Geschworenen ihm vollen Glauben beigemessen und den Angeklagten nach nur kurzer Beratung schuldig gesprochen hatten.«

Löhr ließ das Blatt sinken.

Die Enthüllung brachte ihm plötzlich grelles Licht.

»Der Mann bestraft?« fragte er sich in Unglauben und schmerzdurchwühlter Bitterkeit. »Der –? Der zu allen gut, der durch all die Jahre der gute Stern, das leuchtende Muster in seinem Wirkungskreise gewesen war? Der nie für sich, der immer nur für andere gesorgt und geschaffen hatte?«

»Ich muß zum Grafen,« sagte er tonlos.

»Nanu, steht denn da so was Wichtiges drin?« fragte der Pförtner neugierig. »Lassen Sie doch erst mal sehen.«

»Nachher.«

Löhr ließ sich nicht zurückhalten.

Der Graf saß rauchend am Fenster. Die Unruhe hatte ihm den Schlaf verscheucht.

»Na, Löhr?«

Der junge Förster schritt lautlos über den Teppich und hielt dem Gutsherrn stumm die Zeitung hin.

Luckner vertiefte sich in den Bericht, las zu Ende und schleuderte das Blatt entrüstet im Bogen von sich.

»Gemein!« keuchte er. »Bodenlos! Hund von einem Rechtsverdreher!«

Seine Zigarre flog in einen Aschenbecher, den er sich auf der Fensterbank zur Hand gestellt hatte.

Entgeistert starrte er auf den Ueberbringer der Botschaft.

»Löhr!« Die Stimme überschlug sich. »Was ist das: Körperverletzung? Das kann ein halber Mord und – eine Bagatelle sein! Die kann von Roheit erzeugt werden – und kann die Tat gerechter Entrüstung sein. Die kann vorbedacht und – unbedacht sein. Herrgott, mein armer Herbrinck! Du und schuldig! Und wenn er sich hat hinreißen lassen – wenn – ein halber Junge – vor zwanzig Jahren! Es ist eine himmelschreiende Schande, ihm das vorzuhalten nach dem Ehrenleben, das hundertfach gut gemacht hat. Löhr, Hand – ein Ehrenmann ist besudelt – ich weiß es, und Sie und alle! Und das ist Gerechtigkeit, das schimpft sich Gerechtigkeit!«

Er lief keuchend um den Tisch.

»Schutz dem Verbrecher – an den Schandpfahl mit den ehrlichen Menschen! Ich habe einen halben Rüffel einstecken müssen wegen des Lausekerls – und der andere wird halb in den Tod gehetzt! Herrgott, wer das geahnt hätte! Wenn ich einen Schimmer gehabt hätte, ich wäre nicht von ihm gewichen – ich hätte der Themis die Binde von den Augen gerissen und sie ihr und den Richtern vor die Füße geschleudert. Sehen soll das Recht, nicht blind zertreten, was ihm in den Weg geschoben wird!«

Luckner konnte sich nicht fassen. Er rannte gegen die Möbel und gegen den Untergebenen und erging sich in wilden Ausfällen gegen die Justiz und ihren mordenden Buchstabengeist.

»Löhr, da konnten wir warten!«

Er faßte sich an die Stirn.

»Und das Schlimmste – – das Schlimmste! Wird – auch – das noch – kommen? Hat er – – ist er – verzweifelt? Ich – ich – will zur Polizei. Anzeigen. Nachforschen sollen sie. Selbst holen will ich ihn. Zwischen uns beiden gibt es keine Trennung.«

Er stülpte sich den grünen Filzhut auf und stürmte fort.

Nach einer Stunde kehrte er heim.

»Sie müssen, ob sie wollen oder nicht!« rief er heftig. »Umstände können sie machen! Ist's ein Mörder, der gesucht wird? Nein, nur ein ehrlicher Mensch! Achselzucken, Löhr – – ›Wird sich wieder finden.‹ ›Nur Ruhe.‹ ›Wer sind Sie?‹ – Himmel – – Graf, Rittmeister, Gutsbesitzer, Luckner – – hilft endlich was! Nun mögen sie das Opfer des blinden Rechtes suchen – des Rechtes, das taub, siech an allen Gliedern ist ...«

Ein Depeschenbote störte mit einem Telegramm.

Luckner griff hastig danach und riß es auf.

»Nach gestrigem Zwischenfall bin ich abgereist,« las er fliegend und ohne auf den sich zurückziehenden Boten zu achten. »Wenn Sie sich gesorgt haben – Verzeihung. Rückkehr unmöglich. Haben Sie die Güte, einen Brief noch von mir anzunehmen und auf Timmhusen zu erwarten. Herbrinck.«

»Gottlob, nicht das Schlimmste!« stieß Luckner aufatmend aus und entzifferte den Aufgabeort. »Hamburg! Also in Hamburg. Nicht aus der Welt! Und Brief folgt, Erklärung folgt. Löhr, er wird sich rechtfertigen! Er wird! ›Graf Luckner‹« – las er die Adresse – »›Kiel, Hotel Germania. Wenn abgefahren, nachsenden Schloß Timmhusen bei Reickendorf‹. Vorgesorgt! Die Besonnenheit kehrt ihm wieder – es kann noch gut werden. Und muß, muß! Lassen Sie den Wagen vorfahren, Löhr. Ich muß fort aus dem verdammten Nest ... Sie fahren mit!«

Er schellte.

»Oberkellner – Rechnung!« herrschte er.

Er zahlte und schickte durch den Oberkellner nach der Polizei. »Es geht ohne sie,« sagte er bissig noch vom Wagen aus.


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