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Drittes Kapitel.

Hans von Herbrinck hatte sich seine Wohnung im Verwalterhause, die mit ihren drei beschränkten Zimmern nicht für einen Freund des Gutsherrn, sondern für den üblichen Untergebenen berechnet war, gleichzeitig mit der Schloßrenovation etwas behaglicher als bis dahin herrichten lassen. Luckner selbst hatte darauf hingewirkt.

»Wenn ich mich fürstlich gehabe, sollen Sie nicht in einem Stall hausen,« waren seine Worte gewesen. »Ich werde mich umsehen und das Nötige für Ihren Palast mitbesorgen. Und in'n paar Jahren werden wir den alten Kasten ganz einreißen und einen neuen, der für Sie paßt, dafür hinstellen.«

Zum Bauen war es bei dem fortgesetzten Einspruch Herbrincks bisher nicht gekommen, und auch die Beschaffung der neuen Möbel auf Kosten des Gutsherrn hatte Herbrinck seinerzeit bestimmt abgelehnt. »Der Geschmack ist verschieden,« hatte er behauptet. »Ich will dem meinen folgen, und das kann ich nicht, wenn ich durch Ihre Brille sehen muß.«

»Sie werden mir zu sehr knickern, Herbrinck!«

»Aus Ihrer Schatulle, ja; aus meiner nicht.«

Erst nach langem Kampfe hatte der Verwalter den Widerstand des Grafen überwinden und die eigenen Wünsche verwirklichen können.

Die Zimmer lagen in einer Reihe. Das mittlere hatte er sich als Arbeitsraum eingerichtet, das größere auf der rechten Seite als bescheidenes Speisezimmer, den Raum linker Hand als Schlafstube.

Keiner der drei Räume zeigte irgend welchen Luxus, wenn die Mittel des Bewohners diesen auch gestattet hätten. Das beste Stück des Arbeitszimmers war ein großer eichener Diplomatenschreibtisch, zu dessen Seiten je ein bequemer Sessel Platz gefunden hatte. Ein Lutherstuhl vor dem Schreibtisch, ein Paneelsofa, ein halbes Dutzend Rohrstühle, ein Trumeau in einer Ecke neben dem Fenster und ein wohlgefüllter Bücherschrank waren die übrige Einrichtung. Der einzige Wandschmuck des Zimmers bestand in einem Bildnisse des großen Kanzlers, nach einem Gemälde von Lenbach. Eine Säule neben dem Schreibtische trug die Bronzebüste Kaiser Wilhelms des Zweiten, und auch eine künstlerisch gerahmte Photographie auf dem Tische selbst zeigte die belebten, energischen Züge des Herrschers.

Herbrinck fand, als er die gräfliche Familie in der Nacht verlassen hatte, noch keine Ruhe. Er entzündete eine Hängelampe über dem Schreibtisch, wanderte in ihrem matten Scheine ein paar Mal in dem engen Räume auf und ab und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen den nur noch mäßig warmen Ofen.

Die Gedanken hinter der hohen, ernsten Stirn waren nicht mehr bei der vorgelesenen Geschichte und beschäftigten sich noch weniger, wie sonst wohl oft, mit dein abgeschlossenen Tagewerk oder mit dem, was die neue Woche an Arbeiten und Mühen zu bringen hatte. Sie umfingen ein weiches, lockendes, liebliches Bild und versetzten ihn in eine ungewohnt milde, fast traumhafte Stimmung. Als neunjähriges Kind hatte er die Komteß Helene kennen gelernt und die immer freundliche, offenherzige, kluge Kleine in sein Herz geschlossen. Und seit den Jahren, da sie nun kein Kind mehr war, hatte der Zauber, der von ihr ausging, nicht aufhören wollen; mit so herber Entschlossenheit er auch dagegen gekämpft, war er immer wiedergekehrt, hatte ihn von neuem gefangen genommen und ihn umschmeichelt mit einer süßen und doch für immer unerfüllbaren, törichten Hoffnung. Er liebte sie, er lehnte sich gegen das Geständnis nicht mehr auf, er liebte sie mit der starken Kraft seines unentweihten Herzenslebens; er würde mit seinem Herzblut für sie eintreten, wenn er sie damit glücklich machen, wenn er sie schützen, wenn er sie aus irgend einer Gefahr erretten konnte. Und er mußte ihr entsagen, er wußte es. Er mußte und wollte! Sie sollte nicht niedersteigen zu ihm; eine Fürstenkrone dünkte ihm für ihr schönes Haupt nicht gut genug – er hob sie träumend bis in die lichtesten Höhen der Menschheit, ohne Mangel, ohne Fehl und ohne Schatten – und ging selbst still daher, gefaßt und zufrieden in ihrem großen Sonnenglück.

Das Strahlen der Augen, mit dem sie ihm als Kind zugelacht hatte, war geblieben; er empfand es fast wie etwas Körperliches, wie einen Strom, der aus den blauen Sternen mit siegender, unwiderstehlicher Macht auf ihn überging, ihn wärmend und erregend bis in den tiefsten Grund. Wie ein glückliches Verstehen leuchtete und lachte es ihn an, wie ein Schätzen und köstliches Gutwollen aus zauberhafter Herzenstiefe ...

Der einsame Grübler wurde von einer unbezwinglichen Unruhe erfaßt, und das Blut schoß ihm hämmernd in die Schläfen. Er war dem vergötterten Mädchen dankbar gewesen, als sie in der Diskussion des Abends an seine Seite getreten war, und es hatte ihn mit Stolz und heißer Freude erfüllt, daß ihr Denken frei und hoch war wie die schöne, edel gewölbte Stirn. Aber plötzlich quälte ihn die Frage, ob ihr Verstehen sie allein sich zu ihm gesellen ließ, oder ob nicht auch auf ihrer Seite ein Anderes, ein Größeres, ob nicht das Herz sie hatte erkennen und mitreden lassen.

Herbrinck faßte sich an die Stirn.

»Ihr Herz, ihr Herz?« fragte es in seinem Innern stürmend. Und hastig drängte sich ihm die Antwort in den Sinn, daß das nicht sein dürfte – nein, das nicht – nur das nicht ...

Hatte er gefrevelt gegen sie, sich verraten, sich lässig gezeigt, ihren kindlichen Sinn unabsichtlich irre geleitet?

»Um Gott, nur das nicht!« rang es sich ihm stöhnend über die Lippen.

Er würde tragen. Ihn würde die Liebe zu ihr schmerzen, aber sie würde ihn auch heben. Ihr würde die Neigung zu ihm die stolze Höhe gefährden; für sie war sie kein Empor, sondern ein Abwärts, ein In-die-Tiefe-Steigen, eine Demütigung.

Nein, nur das nicht. –

Bisher hatte er sich zurückhaltend erwiesen, um sich selbst dem Banne zu entziehen, der keine Seligkeit, sondern nur die Bitterkeit des Entsagens für ihn in sich bergen konnte. Nun galt es etwas anderes, nun galt es nicht mehr, sich – galt es, sie zu schützen, sie, die ihm unendlich mehr war als er sich selbst.

Fast müde suchte er einen Platz, stützte den Kopf in die Hand und rang nach Festigkeit und Klarheit.

Eine zweite Frauengestalt tauchte in seiner Erinnerung auf, mit weißem Haar, mit seinem, mildem Antlitz, mit hinreißend gütig lächelndem Munde – die Schützerin seiner goldenen Jugend, die tote Mutter.

Er stöhnte gequält auf.

»Mutter! Mutter! –« Und nach einer Pause: »Mein Gott, muß ich denn allen, die ich liebe und die mir gut sind, der Schmerzensbringer sein?«

Lange Minuten vergingen, ehe er die Augen, die er im seelischen Kämpfen geschlossen hatte, wieder öffnete, sich langsam aufrichtete und wie fremd die Umgebung musterte.

Mechanisch schloß er ein Fach des Schreibtisches auf, holte eine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine kleine Momentphotographie, das an einem Sonntage von seinem Fenster aus heimlich aufgenommene Bildnis der jungen Komteß. Sie liebte es, an schönen Sommertagen unter der alten Linde dicht vor dem Verwalterhause zu lesen, und da war sie ihm nahe genug gewesen, den Apparat seine Aufgabe erfüllen zu lassen. Ein Flurfenster nach dem Hofe zu stand halb offen, sorglich richtete er den Apparat, ehe sie noch auf ihrem Platze war – und dann, als sie sich niedergelassen hatte, ein rasches Kontrollieren, ein Knipsen, und die Platte hatte die Züge des Mädchens treu festgehalten.

Er hielt das dünne Blatt in der Hand und starrte schmerzlich bewegt darauf hin, als gelte es, von der holden Leserin Abschied zu nehmen für immer. Sorgsam schob er es endlich wieder in seine Hülle und legte es an seinen Platz zurück.

Er trat ans Fenster und sah geweiteten Auges in den Mondschein. In kaltem Gleißen lag der Park, und fahlgrau schimmerte durch die Lücken der schneeigen Baumwipfel das sternenbeleuchtete Himmelsgewölbe. Der Mond war nicht sichtbar; nur die schattenlosen Buchenstämme des Parkes deuteten an, daß er im Zenith stehen mußte.

Das Echo eines Schusses wurde durch die Nacht getragen und ließ Herbrinck aufhorchen. »Wieder Wilddiebe?« fragte er sich. Sie hatten in den letzten Monaten an einer entfernten Grenze des Gutes wiederholt ihr Unwesen getrieben, und der helle Mondschein war ihnen auch im Augenblick günstig. Aber das Echo war ein merkwürdig lautes gewesen, konnte nicht aus weiter Ferne fortgepflanzt sein. Sollten die Frevler übermütiger und näher ins Revier, wohl gar bis an die Grenze nahe dem Schlosse vorgedrungen sein? Er überlegte nicht lange; der Förster war alt und auf ihn nicht zu rechnen; so war es seine Pflicht, seine eigene Nachtruhe zum Opfer zu bringen und dem mit dem Schusse gegebenen Signal nachzugehen. Er kleidete sich warm an, hängte Jagdtasche und Gewehr, die ihren Platz neben dem Bücherschrank hatten, um und verließ eilig das Haus. Er vermied das freie Feld, über das der Graf am Mittag seinen Weg genommen hatte, schritt zwischen den abseits vom Gute gelegenen Arbeiterhäusern durch und betrat dicht hinter ihnen den Tannenwald, an dessen Saume er der Lichtung zustrebte, in deren Nähe er den Schuß gefallen wähnte. Je weiter er vordrang, um so vorsichtiger suchte er jedes Geräusch zu meiden und selbst das Schneeknirschen unter seinen Füßen zu dämpfen. Zugleich nahm er das Gewehr von der Schulter, um kampfbereit zu sein, blieb in Pausen stehen und sah und horchte um sich. Aber nichts Verdächtiges wurde ihm vernehmbar, und nur der Mangel an Wild, das sonst wenigstens vereinzelt zu treffen war, konnte anzeigen, daß es durch die nächtliche Störung tatsächlich ins Innere hinein verscheucht worden war.

Die Lichtung lag mondhell in tiefer Stille. Herbrinck schlich um sie herum, erreichte die Laubwaldung und spähte durch Knicklücken auf ein Rapsfeld, auf dem mitunter Rudel von Rehwild die dürftige Nahrung suchten. Die weiße Fläche lag wie ausgestorben; kein Lebenszeichen, soweit das Auge zu forschen vermochte.

Herbrinck eilte weiter, gelangte an den Fußsteig und trat durch das Drehkreuz, vorsichtig nach allen Seiten spähend, aufs Feld. Der Erfolg blieb der gleiche – auch da keine Spur von den vermuteten Uebeltätern.

Er zog sich wieder ins Gehölz zurück und stellte sich an einer Buche auf, deren Stamm nach dem Steig zu durch Buschwerk notdürftig verdeckt war. Regungslos harrte er aus und versagte sich auch den Genuß des Rauchens, um sich, sollten die Diebe wirklich noch in der Gegend sein, ihren Spürnasen möglichst wenig zu verraten.

Die Stille um ihn war fast bedrückend. Kein Gurren oder Flügelschlagen von Waldtauben, wie im Sommer; kein früher Kuckucksruf, kein Schlag der Schwarzdrossel, kein Laut von all den sommerlichen Gästen der grünen Hallen, nicht einmal ein Windrauschen hoch oben in den schneebedeckten, vom Mondlicht umschwommenen Wipfeln.

Herbrinck lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm der Buche, und seine Gedanken beschäftigten sich wieder mit dem Schlosse und der Herzenszauberin, deren Augen in der nächtlichen Stunde der Schlaf geschlossen halten würde. Und in der hehren und herben Winternatur steigerte sich sein Entschluß, gegen seine Liebe zu kämpfen, zu dem Gelöbnis, das durch ihn dem begnadeten Mädchen drohende Unheil auch, wenn es sein mußte, um den Preis von ihr abzuwenden, daß er eine andere in sein Heim führte, die sich dann schützend zwischen sie beide stellte.

Ein Schneeknirschen ließ ihn aufhorchen. Es kam vom Felde her, und durch den Knick gewahrte er eine männliche Gestalt, die bald darauf die Einmündung des Fußsteiges in den Wald verdunkelte, sekundenlang zu zögern schien, dann eintrat, den Blick auf den Boden heftete und den Spuren folgte, die der Wartende im Schnee eingedrückt hatte. Nach wenigen Sekunden standen die Männer sich gegenüber, und Herbrinck lachte trotz seiner ernsten Stimmung unwillkürlich auf.

»Sie, Löhr?«

»Herr von Herbrinck!« rief der Angeredete überrascht und sicherte die drohend bereitgehaltene Waffe.

»Ich! Sind Sie auch durch den Schuß herbeigerufen worden?«

»Ja. Und er muß hier herum gefallen sein. Oder waren Sie es, der – –«

»Nein. Ich war zu Hause. Haben Sie irgend welchen Anhalt gefunden?«

»Noch nicht –«

»Es ist doch frech, sich bis dicht an das Schloß heranzuwagen.«

»Der Schuß muß vom Knick weiter feldwärts abgegeben worden sein. Aber vermutlich gerade um das Rapsfeld herum. Ich werde die Strecke noch abgehen. Von unseren Leuten sind das keine, darauf möchte ich wetten.«

»Nicht doch der Körten?« fragte Herbrinck, selbst nicht recht von dem Verdachte überzeugt.

»Nein, das glaube ich nicht. Wenn er wirklich Schlingen stellen sollte – bewiesen ist ihm das aber auch nicht – ein Gewehr hat er sicher nicht – hatte er wenigstens bisher nicht. Nein, die strolchen von den Bauernhöfen herüber oder von den Dörfern her. Die soll ich aber erwischen!«

»Haben Sie einen Verdacht, Löhr?«

»Einen bestimmten, nein. Einem gewissen Kurz in Reickendorf traue ich nicht, den Wittkamper Bauernsöhnen auch nicht recht – aber zu packen sind sie nicht.«

»Kommen Sie, ich begleite Sie.«

Sie machten den Marsch um das Rapsfeld und trafen an der dem Forst entgegengesetzten Seite auf die gesuchte Fährte. Eine Fußspur führte eine Strecke aufs Feld, an deren Endpunkt starker Schweiß und der sorglos zurückgelassene Ausbruch die Stelle bezeichnete, an der das mörderische Blei ihr Ziel erreicht hatte.

»Der Halunke!« knirschte der junge Forstgehilfe ingrimmig. »Und das Schlimmste, die knallen über den Haufen, was ihnen vor das Rohr kommt – ob Ricke, Bock oder Schmalreh.«

»Untersuchen Sie das morgen noch weiter, Löhr. Vielleicht holen wir den Schützen noch ein, wenn wir uns beeilen, oder können wenigstens seiner Fährte weiter nachgehen.«

Sie kletterten über den Wall und nahmen die Verfolgung eilfertig auf. Der Wilderer – die Fußabdrücke bezeugten, daß es sich um einen einzelnen handelte – hatte sich immer dicht an dem Knick gehalten, ein halbes Dutzend Mal einen Wall überstiegen, dann eine Feldecke abgeschnitten, einen Bogen um ein einsames Gehöft beschrieben und eine gute Viertelstunde von diesem einen viel begangenen Landweg betreten, auf dem sich seine Spur unauffindbar verlor.

»Da können wir umkehren,« entschied Herbrinck mißmutig. »Wenn er die Fahrstraße einmal erreicht hat, wird er sie, selbst wenn er einen Umweg machen müßte, nicht so leicht wieder verlassen haben.«

Als sie sich an der Lichtung trennen wollten, war es sechs Uhr geworden.

»Darf ich Sie noch ein Stück begleiten, Herr von Herbrinck – und Sie – um etwas fragen?« warf Löhr, von dem bis dahin behandelten Jagdthema abweichend, etwas unsicher hin.

»Ich lege mich nicht mehr schlafen,« entgegnete Herbrinck nach flüchtigem Besinnen. »Der kurze Umweg über das Birkhaus tut mir gut. Also schließe ich mich lieber Ihnen an.«

»Ja? Meine Schwester wird auch schon auf sein. Wollen Sie eine Tasse Kaffee mit uns trinken?«

»Mit bestem Danke, Löhr; das heißt: selbstredend wenn es ohne Umstände geschehen kann.«

»Sophie ist an das Frühausstehen ja gewöhnt; sie wird alles bereit haben.«

»Also gut. Und was haben Sie auf dem Herzen?«

»Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen so sagen soll –«

»Wollen Sie heiraten?« riet Herbrinck mit einem Lächeln.

»Nein, nicht. Es handelt sich auch nicht um mich, Herr von Herbrinck –«

»Um wen sonst?«

»Um – Sophie. Und – und – um den Herrn Grafen.«

Herbrinck hielt den Schritt an.

»Um den Grafen?« wiederholte er.

Löhr nickte zögernd.

»Die Gutsleute haben zu Ihnen alle Vertrauen. Ich auch. Und wenn Sie können, dann sagen Sie mir, was ich tun soll. Der Herr Graf ist in der letzten Zeit häufig im Birkhause gewesen – gestern auch. Ich fürchte, das hat – nichts Gutes zu bedeuten –«

»Warum mutmaßen Sie das?« wandte Herbrinck ein.

»Ja, es ist doch wohl wahr – daß – daß der Herr Graf über manches – über – über Mädchen – etwas frei denkt, und daß er – Sie müssen das doch auch gehört haben –«

»Allerdings,« bestätigte Herbrinck. »Sie fürchten für Ihre Schwester?« fragte er direkt.

»Ja, Herr von Herbrinck. Wenn auch nicht alles so sein mag, was über den Herrn Grafen herumgetragen wird – etwas ist doch wohl daran. Die Weiber haben ja ihren Kopf und ihre Vernunft für sich, und mit der Vernunft ist es meistens nicht weit her. Ich traue Sophie nicht zu, daß sie leichtsinnig ist; aber wenn so ein vornehmer Herr einem Mädchen was in den Kopf setzen will, dann spricht er doch nicht, als wäre was Schlechtes dabei, sondern malt alles so schön aus, daß sie am Ende daran glaubt und unsereinen, der abraten will, noch für abgünstig oder dumm hält.«

Herbrinck schwieg einige Augenblicke. Dann entgegnete er einfach:

»Lieber Löhr, ich habe den Grafen besser kennen gelernt als vielleicht irgend ein anderer. Er ist eine leichtlebige Natur, aber im Kerne durchaus rechtlich. Ich habe ja auch von kleinen Abenteuern, die er da und dort gehabt haben soll, munkeln hören, habe aber kein Gewicht darauf gelegt. Leichtfertige Frauen gibt es überall, und ihrer Tugend wird meistens weniger geschadet als dem Rufe der Männer, die sich von ihnen haben anziehen lassen. Bewahrt Ihre Schwester dem Grafen gegenüber ihre Würde, so wird er sie um deswegen nur um so höher achten. Daß sie Eindruck auf ihn macht, darf ja wohl nicht verwundern; sie muß ihm aber zeigen, daß er sich in ihr getäuscht hat. Und er hat sich getäuscht, davon bin ich überzeugt. Sie ist Ihre Schwester, da können Sie sich doch miteinander aussprechen, Löhr –«

»Ja. Aber könnten nicht Sie –«

»Nein, ich nicht. Ich schätze Ihr Fräulein Schwester und habe für sie die besten Wünsche; aber in das, was Sie mir da erzählt haben, darf sich ein Fremder nicht einmischen. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Löhr; aber meine Diskretion muß sich auch auf Ihre Schwester erstrecken. Es könnte sie nur beleidigen, wenn ich sie vor einem Fehltritte warnen wollte und ihr damit zu verstehen geben müßte, daß ich sie eines solchen für fähig hielte. Ist Ihnen das nicht verständlich?«

»Ja, ja. Ich meine man, daß sie auf Sie mehr hören würde ...«

»Nein, es geht nicht, Löhr. Sagen Sie ihr nicht einmal, daß Sie mit mir darüber gesprochen haben, denn schon das müßte sie kränken und mir gegenüber befangen machen. Das wünsche ich aber nicht. – Am besten ist es, ich gehe jetzt doch nicht mit Ihnen, sondern kehre um. Am traulichen Kaffeetische können Sie dann ruhig mit ihr reden, und sie kann, wenn sie nicht einmal weiß, daß wir zusammen waren, auch nicht auf den Gedanken kommen, daß Sie mich eingeweiht und um Rat befragt haben. Ist das nicht das beste?«

»Na ja, Herr von Herbrinck, wenn Sie das meinen –«

»Also gut. Aber bleiben Sie ruhig und bedacht. Kein heftiges Wort, Löhr, kein Mißtrauen. Im Gegenteil. Bleiben Sie freundlich; sagen Sie ihr, daß es Ihnen gar nicht einfällt, zu glauben, sie könne sich etwas vergeben, und daß Sie nur dem Gerede vorbeugen wollen. Das ist brüderlich gemahnt und hat keinen Stachel für sie ... So, jetzt werde ich mich seitwärts schlagen. Adieu, Löhr!«

»Gu'n Morgen, Herr von Herbrinck. Ich danke Ihnen auch.«

»Keine Ursache, Löhr. Sie werden sich bald selbst überführen, daß Sie Gespenster gesehen haben.«

»Ich hoffe es auch, Herr von Herbrinck –«

»'n Morgen, Löhr.«

Herbrinck schüttelte ihm die Hand und folgte einer Schneise in der Richtung nach dem Gutshof.

Er stand, wenngleich er den Besorgten zu beruhigen gesucht hatte, doch unter dem Eindruck, daß der Schloßherr diesmal zu weit zu gehen und, wenn nicht Sophie Löhr, so um so gewisser sich selbst zu schaden drohte. Das durfte nicht sein, und er war dem jungen Manne dankbar, daß er ihn ins Vertrauen gezogen und ihm so die Möglichkeit gegeben hatte, den Hebel zur Verhütung einzusetzen. Die Schwester konnte und sollte nur der Bruder bewachen; den Schloßherrn vor Schaden zu bewahren war aber mit seine Aufgabe – eine nicht ganz leichte, aber bei dem Charakter des Grafen eine immerhin lösbare.

In der Meierei und den Wirtschaftsgebäuden herrschte bereits Leben, und im Verwalterhause war eine Frau mit dem Aufräumen der Wohnzimmer beschäftigt.

»Ach je! Se sünd all utgahn west?« sagte die Frau verwundert. »Darüm heww ick ok keen Antwort krägen, as ich Se wecken wull. Un ick dach, Se wulln ock mal 'ne lütt Stün länger in de Feddern bliewen!«

»Wilddiebe, Frau Drews,« antwortete Herbrinck lakonisch.

»Hebben Se de tau faten krägen?« fragte die Frau.

»Entwischt, Frau Drews.«

»Jo, de hebben ehr Fäut ok tau'n Loopen.«

»Beeilen Sie sich etwas,« mahnte Herbrinck und zog sich einstweilen in einen Vorraum zurück, der ihm im Verkehr mit den Gutsleuten als Bureau diente.

Nach einer kleinen Stunde klopfte es an die Tür.

»Nu bün ick farrig,« meldete die Frau. »Un dat Licht heww ick utpust. Is jo all helligen Dag buten. Un de Mamsell is ok mit dat Fröhstück dar.«

»Schön, Frau Drews.«

Herbrinck war während des untätigen Wartens etwas müde geworden; aber als er in dem ungeheizten Schlafzimmer Hände und Gesicht in eiskaltem Wasser gebadet hatte, war die gewohnte Spannkraft schnell wiederhergestellt.

Mit einiger Ueberraschung fand er den Frühstückstisch für zwei gedeckt.

»Habe ich Besuch zu erwarten?« fragte er die noch anwesende Mamsell.

»Den Herrn Grafen,« lautete die Antwort. »Die Damen im Schlosse lassen auf sich warten; zur Strafe sollen sie allein frühstücken.«

Der Graf stellte sich auch bereits ein.

»Morgen, Herbrinck,« grüßte er lachend. »Schöne Wirtschaft bei mir,« fuhr er in vergnügtem Poltertone fort; »die Mädel kommen wieder mal nicht zum Vorschein. Die Große inspiziert bis in den Schornstein, und die Kleine probt an ihrem neuen Reitkleid, von wegen dem Besuch nachher auf Neurade. Da habe ich gedacht, Ihre Gesellschaft sei auch nicht zu verachten. Was quasselte mir die Alte da draußen vor – von Wilddieben – nicht geschlafen – – hat's denn schon wieder geballert?«

Herbrinck erzählte kurz.

»Die Halunken!« fluchte Luckner. »Sie können sich empfehlen, Mamsell.«

Die Angeredete ging mit schnippischem Knix.

»Nichts als Aerger, wohin man sieht!« wetterte der Graf. »Mit den Weibern, mit den verfluchten Spitzbuben. Eben raus aus der Falle, gleich geht's los. Himmelkreuztürken! Und keinen erwischt?«

»Die Fußspuren sind da, aber die werden uns auch nichts nützen.«

»Ach die! Ein Elefant tritt wie der andere. Mehrere beteiligt?«

»Diesmal nur einer.«

»Wir werden doch den alten Förster bald ersetzen müssen, Herbrinck. Das Raubvolk nimmt überhand, das geht so nicht fort ... Na, ich lange trotzdem zu ... Soll's nachher gleich losgehen? So ein winterlicher Frühritt, bei dem einem die kalte Morgenluft mal ordentlich um die Nase weht, ist immer eine Erholung. Und die Neurader schlafen ja auch nicht bis in den Mittag ... Sollte sich der junge Löhr nicht für den Försterposten einarbeiten können?«

Herbrinck pflichtete bei.

»Der Schuß hatte ihn ebenfalls allarmiert,« berichtete er. »Ich traf ihn draußen, und wir haben dann die Rapskoppel zusammen abgesucht.«

»Gefällt mir von ihm, Herbrinck. Die Mamsell hat sich da wieder mal einen Thee geleistet, schon mehr brrr –. Wird überhaupt verdammt nachlässig, und wenn man gleich eine Bessere bei der Hand hätte, könnte ihr eine Luftveränderung nicht schaden. Anstellig ist der Löhr; dahinter her auch, wie's scheint – na also!«

Die wiederholte Wendung des Gesprächs auf den jungen Forstbeamten kam Herbrinck gelegen.

»Lieber Herr Graf –«

Luckner unterbrach lebhaft.

»Lieber? – Donnerkiel, das ist eine seltene Ehre! Das gibt's immer bloß, wenn Ihr Barometer auf Hagel steht. Was haben Sie denn jetzt auf dem Schlitten? Hab' ich schon wieder was verbrochen?«

»So habe ich es nicht gemeint, Herr Graf. Ich wollte mir nur erlauben, die dem jungen Löhr zugedachte Beförderung auch meinerseits überzeugt zu empfehlen.«

»Na, na, nichts weiter?«

»Die Fachkenntnisse sind keine Hexerei, und was ihm daran etwa mangelt, wird er sich aneignen. Was am meisten für ihn spricht –«

Herbrinck überlegte einen Augenblick.

»Na?« drängte Luckner.

»Das ist sein tüchtiger, ehrenhafter Charakter.«

»Hm!«

»Seine Eltern – wie lange sind sie tot? Vier, fünf Jahre? Ich erinnere mich ihrer noch genau und weiß, daß sie ihren Kindern, wenn der Mann auch bloß ein schlichter Waldaufseher war, eine gute Erziehung haben zuteil werden lassen. Eine ›gute‹ natürlich in dem Sinne, in dem es ihnen möglich war. Ueber die Dorfschule kamen sie nicht hinaus, aber sie hatten einen gewissenhaften und befähigten Lehrer, und der hat sie mit denjenigen Kenntnissen ausgerüstet, die fleißige und begabte Schüler auch in den Landschulen sich aneignen können und die gar nicht zu unterschätzen sind. Der junge Mann hat dann beim Militär eine weitere, ihm wie bei den meisten Landleuten durchaus dienliche Schule durchgemacht und ist als ein regsamer, gesunder und gewandter Mensch auf das heimatliche Gut zurückgekehrt, wie es zu seinem und unserem Besten nur zu wünschen war.«

»Das ist eine lange Einleitung, Herbrinck – was die alles verspricht! Aber ich will Sie nicht aus dem Konzept bringen.«

Herbrinck ließ sich auch nicht stören.

»Einen Hauptvorzug habe ich kürzlich an ihm entdeckt,« fuhr er fort. »Der Mann hat ein ausgeprägtes Ehrgefühl. Mißverstehen Sie mich nicht. Ihr gewisses Ehrbewußtsein haben die Leute durchweg, und sie halten darauf, daß weder sie selbst noch andere es verletzen. Bei Löhr ist es wesentlich gesteigert, auch verfeinert, und es schreibt nicht nur ihm selbst sein Verhalten vor, sondern umgibt mit seinem Schutz und seiner Sorge auch die Schwester ...«

Luckner wurde etwas unruhig. Er nahm mit einiger Hast einen Schluck Thee, fixierte den Sprecher scharf und stieß ein kurzes »Weiter!« aus.

»Mit seinem Ehrgefühl verbindet Löhr Takt, und Sie dürfen darum nicht erwarten, daß er, wenn er zu mir von – seiner Schwester sprach, mich zum Mitwisser einer mehr oder minder peinlichen, vorwiegend persönlichen und vielleicht nicht einmal ganz begründeten Sorge gemacht hat –«

»Sie verklausieren ja ganz gewaltig vorsichtig!«

»Einige Andeutungen hat er mir allerdings gemacht, und ich will Ihnen nicht verhehlen, welche Schlüsse ich daraus zu ziehen mir erlaubt habe. Ich will auch keine weiteren Umwege mehr machen, sondern Ihnen kurz und bündig das vortragen, was er mir an Tatsächlichem bekannt hat. Darnach bewirbt sich um seine Schwester ein hochgestellter Mann, der das arme Mädchen wohl betören, aber schwerlich zu seiner Gemahlin würde erheben können –«

Luckner hatte zu kauen aufgehört.

»Weiter!« forderte er.

Herbrinck hielt an der diplomatischen Darstellung, die den Grafen schonen sollte, fest.

»Löhr hat ihn nicht selbst gesehen,« führte er aus. »Nur die Fußspuren im Schnee haben ihm auch in den letzten Tagen noch bestätigt, daß seine dienstliche Abwesenheit zu Besuchen im Birkhause benutzt wurde –«

»Aha –

»Lieber Herr Graf –«

»Schön, schön! Sie sind schon reichlich verständlich genug. Ich bin's gewesen, wenn Sie es denn durchaus heraus haben wollen. Aber so'n verdammter Klatsch! ...«

»Nur Klatsch?«

»Ach was, lassen Sie mich aus! Dem Halunken von Körten habe ich nachgespürt, und weil ich am Birkhause vorbei mußte, hab' ich dem Mädel mal Guten Tag gesagt. – Nee, wissen Sie was, Herbrinck? Lügen kann ich schlecht. Zum Kuckuck! Ja, sie gefällt mir! Nachgelaufen bin ich ihr! Nun aber sparen Sie sich Ihren Sermon – – – es war einmal – – Punktum, basta!«

»Noch liegt natürlich kein Grund zu Vorwürfen vor –« bemerkte Herbrinck versichernd und doch auch mit leise anklingendem Frageton.

»I bewahre! Ich dachte, die Puppe zierte sich – umbringen wollte ich sie ja nicht ... Und der Laffe spürt mir förmlich nach? Ich werde ihm einen Stachelzaun um seine Villa ziehen lassen!«

»Ist die Gesinnung nicht ehrenhaft?«

»Gott doch, ja ... Sie können einem zusetzen, daß man heulen möchte. Geben Sie mir einen Cognac – und dann Schwamm drüber ...«

»Die Sache ist für mich selbstredend erledigt. Bitte –«

»Ja, gottlob, für mich auch. Bloß für den Fürwitz nicht, der gleich zum Kantor läuft ... Noch einen!«

»Darüber bin ich beruhigt, lieber Herr Graf.«

»So, beruhigt? Dem werde ich eins aufgeigen, daß er das Fiedeln für ein Bomben- und Granatendonnerwetter halten soll ... Mahlzeit, alter Mentor. Und kriechen Sie in die Stiefel, daß wir satteln lassen können. Den Ritt verderben Sie mir doch nicht, und die Kleine – – na, ist nur gut, daß der ahnungslose Engel sein Näschen da nicht auch noch hineinstecken kann. Deren Ansichten und Ihre, Herbrinck – einfach, als ob sie kopiert wären ... Der grüne Bengel soll aber das Maul halten, daß er sich's nicht verbrennt –«

»Schwatzhaftigkeit paßt nicht zu seiner Art, Herr Graf.«

»Na, denn nicht! Nu aber los! Ich geh' ins Schloß und hole meinen Engel – und dann einen flotten Trab, wenn ich bitten darf. Schneid muß drin sein, sagt auch die Kleine. Und dann ist ja auch der neue Staat einzuweihen. Adjüssing, bet naher!«

Er stampfte hinaus, und Herbrinck war befriedigt, daß er seine gute Laune wieder gewonnen zu haben schien, wofür allemal die Anwendung des heimischen Idioms ein gutes Anzeichen war.


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