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Je näher der Sonntag herankam, desto unruhiger wurde Severo. Er klebte an der Vorstellung, daß Padre Gioacchino ihn im Beichtstuhl erwartete und daß er dort von ihm hören wollte, er, Severo, sei der Mörder und wolle sich dem Gericht anzeigen, um seine Tat zu büßen. Er war fest entschlossen, nicht hinzugehen. Wie konnte er denn auch? Er steifte sich in einen höhnischen Trotz gegen diesen Priester auf, der ihn durchaus zum Märtyrer machen wollte, der ihn mit aller Gewalt in diese Selbstanklage, in dies Schuldbewußtsein hineinstieß, nur um von sich rühmen zu können, er habe den Schuldigen entlarvt und zugleich einen Justizmord verhindert, also allein der schwer gefährdeten Sache der weltlichen Gerechtigkeit gedient, trotzdem er dazu keinen Anlaß hatte als Diener der Kirche. Damit dieser Priester sich wieder eine neue Anwartschaft auf den roten Hut erwarb, sollte er, Severo, ein Mörder sein. War denn das Gott wohlgefällig? Mußte das sein? Wenn Serafina ihre Tat freilich nicht abbüßte und der, welcher heute an ihrer statt unschuldig hinter den vergitterten Fenstern saß, anders nicht zu befreien war –. Das war's, was ihn quälte, in ihm wühlte, ihn vorwärts stieß. Er fühlte ordentlich, wie das Macht in ihm gewann, wuchs und wuchs und ihn weiter drängte, wider seinen Willen, Schritt für Schritt. Es grauste ihm davor, aber vielleicht gerade deshalb riß es ihn dazu fort wie mit geheimen Kräften. Er sagte sich hundertmal, daß er Serafinas Schuld nicht auf sich zu nehmen brauche, daß er nicht lügen dürfe mit seiner Selbstbezichtigung, weil auch das Lügen eine Sünde sei, in ihm erwiderte eine Stimme immer darauf, daß Serafinas Schuld ja auch mit die seinige sei. Er erinnerte sich daran, daß er sich eine Zeitlang davor gefürchtet hatte, er werde von ihr verraten werden und sie wolle ihm ihre Schuld aufdrängen, deshalb hätte er aussagen sollen, er sei in der Mordnacht außerhalb seines Hauses gewesen. Und nun fiel es ihm aufs Herz, daß er ja wirklich damals gelogen hatte, als er es verschwiegen, und daß Serafinas Fortgehen für ihn bedeute, er solle allein ihrer beider Schuld auf sich nehmen und dadurch auch die abbüßen, die er durch unlauteren und ungerechten Verdacht gegen sie begangen. Und wenn er es nicht tat, würde Adriano Micca ja aus Notwehr doch Serafina des Mordes bezichtigen, und alles würde dann ans Licht kommen. So bohrte es in ihm. Er mußte weiter, er sah, daß alles nichts half, er mußte. Wie von allen Seiten eingeschlossen kam er sich vor. Er konnte nach keiner Richtung hin mehr ausbrechen. Alle hatten sich gegen ihn verschworen.
Darüber verlor er allmählich ganz das Bewußtsein, daß er ja gar nicht der Mörder war. Er dachte nur immer daran, wie er sich vor den Folgen seiner Schuld bergen könne, und büßte die Empfindung seiner Unschuld dadurch ein. Furcht beherrschte ihn, – Furcht vor der heiligen Gottesmutter, vor dem Priester, vor Adriano Micca, vor allen, die er sah. Er wollte immer etwas aus ihren Mienen lesen, er sah sie argwöhnisch von der Seite an, ihm bangte vor dem, was sie sagen würden. Alle hielt er für seine Feinde, von allen versah er sich des Schlimmsten. Wenn sie irgend etwas sagten, was mit dem Morde in gar keiner Beziehung stand, wunderte er sich jedesmal. Er betete viel und inbrünstig, eigentlich den ganzen Tag. Auch während er die Spitzhacke schwang oder, mit der dunklen Schutzbrille vor den Augen, die Eisenfeile eintrieb, murmelte er unablässig Gebete vor sich hin; häufig bewegte er freilich bloß die Lippen, ohne zu wissen, ob und was er eigentlich vor sich hinsprach. Aber allerlei halbvergessene Gebete aus seiner Kindheit, die ihn seine Mutter gelehrt hatte, waren doch wieder in ihm wach geworden. Mit dem, was auf ihm lag, hatten sie freilich nichts zu schaffen, wendeten sich auch zum Teil an bestimmte Heilige, die für Viehschaden und schwere Seuchen zur Hilfe angerufen wurden; aber er hatte die Überzeugung, daß die Gebenedeite seine gute Absicht dennoch daraus erkennen und ihm beistehen werde. Die Kameraden wußten nicht mehr, was sie aus ihm machen sollten. Wenn sie ihm die harmlosesten Dinge erzählten, fuhr er erschreckt zusammen, sah sie mißtrauisch an und lachte so erzwungen und unnatürlich, daß sie die Köpfe schüttelten. Es schien mit Severo Rocca nicht ganz richtig zu sein.
Am Sonntagmorgen stand er in der ersten Frühe auf und beschloß, davonzulaufen, ehe er noch die Glocken läuten hören würde. Denn sonst würden sie ihn in die Kathedrale hinuntertreiben und da würde er beichten müssen, was Padre Gioacchino von ihm verlangte. Davor aber zitterte er. Lieber wollte er noch geradesweges und wie er da war, nach Florenz hinunter, um denen da im Gefängnis zuzurufen, sie sollten Adriano Micca herauslassen und ihn selber statt dessen in Ketten legen. Oder er wollte zum Brigadier von Borgunto gehen und sich anzeigen. Nur nicht beichten, nur nicht Gott und den Heiligen bekennen, was doch nicht wahr war. Er wollte ja ins Gefängnis, er wollte auf die Galeeren, er wollte ein Mörder sein und als Mörder büßen, – alles, was man von ihm verlangte; man ließ ihm ja sonst doch keine Ruhe, man jagte ihn da hinein, man zwang ihn dazu. Nur die Beichte sollte man ihm erlassen, beichten wollte er das nicht, was über ihn gekommen war und sich nicht mehr abwenden ließ. Eine wahnwitzige Angst davor hatte ihn erfaßt. Die himmlische Strafe hatte er ja doch nicht verdient, die brauchte nicht auch noch über ihn zu kommen, und wenn er erst einmal gebeichtet hatte, mußte er auch die auf sich nehmen. Dann würde er in aller Ewigkeit brennen müssen. Er wollte nicht brennen.
Es war noch halb dunkel, als Severo eine gute Strecke Weges nach Siriano hinauflief. Er kauerte sich hinter einer Felsecke nieder und legte sich die Hände über die Ohren. Wenn es jetzt läutete, würde er es hier nicht hören, der Wind stand ohnehin von Siriano her. Nun mochten sie also läuten, soviel sie wollten, es kümmerte ihn nichts, es zwang ihn nicht. Er kicherte schadenfroh vor sich hin. Wie Padre Gioacchino jetzt lauern würde! Ja, laure Du nur, ich komme nicht. Du treibst mich nicht herab, Du nicht – da müssen noch ganz andere kommen.
Er verzehrte das Brot, das er zu sich gesteckt hatte, er fühlte sich plötzlich ganz sicher. Wie, wenn er überhaupt nicht mehr nach Borgunto zurückging? wenn er sich aufmachte und auswanderte, – weit, weit fort, irgendwohin, wo man ihn nicht kannte, wo man von diesem Morde gar nichts wußte? Daß er daran nicht eher gedacht hatte! Es mußte doch noch einen Schlupfwinkel geben, wo man nichts zu fürchten hatte und wohin keiner ihm nachkommen konnte. Und Serafina kam ja doch niemals wieder zu ihm. Wozu denn also in Borgunto bleiben, wo ihn alles verfolgte und verderben wollte? Plötzlich hörte er doch Glockengeläut. Das klang freilich von Siriano her, es waren nicht die Glocken von Borgunto, er unterschied das ganz deutlich. Aber es machte ihn doch unruhig. Eine ungeheure Wut ergriff ihn plötzlich. Er war ja gar kein Mörder, was wollten sie denn eigentlich von ihm? Weshalb hetzten sie ihn denn da hinein? Das war ja zum Wahnsinnigwerden, das konnte ja den Unschuldigsten wirklich zuletzt zum Mörder machen. Er sprang auf, dies Glockenläuten machte ihn noch toll. Er schwang seinen Stock. Wenn ihm jetzt wer in den Weg kam, der sollte ihn kennen lernen. Wenn's doch der Einarmige wäre! Ein unbegreiflicher Drang glühte mit einem Male in ihm auf, diesen Einarmigen niederzuschlagen. Dann war er doch wenigstens wirklich ein Mörder, dann konnten sie ihn ja mit Recht fangen und festnehmen. Jetzt aber halte er noch eine Tat frei, jetzt wollte er diese Freiheit ausnützen. Diese Glocken, diese unerträglichen Glocken!
Endlich hörten sie auf und nun wurde er wieder ruhiger. Aber wie lange würde es denn dauern? Nein es gab doch keinen Frieden mehr für ihn. Es war am besten, er ging jetzt gleich nach Florenz hinunter und zeigte sich an, damit nun ein Ende wurde. Wohin er auch ging, die Glocken würden ihm doch in die Ohren läuten, Ruhe hatte er doch nicht mehr. »Heilige Gottesmutter, Allerbarmerin, neige dich zu mir herab und erhöre mich.« – Er betete wieder. Und dann wollte er gehen, dann wollte er wirklich gehen.
Plötzlich hörte er sich angerufen: »Severo! Severo Rocca!«
Severo hatte mit dem Gesicht gegen den Felsen gestanden, an dem die Straße hinlief. Er zuckte zusammen und wagte nicht, sich umzudrehen. Vielleicht war gar kein Mensch da, vielleicht war es eine Stimme von oben gewesen, und die wollte ihn mahnen, zum Beichtstuhl zu gehen. Er bebte am ganzen Leibe, der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Es war ihm sogar, als sträubten sich seine Haare auf. Seine Lippen murmelten krampfhaft weiter.
»Zum Teufel, was machst Du denn da?«
Severo drehte sich leichenblaß mit zitternden Lippen um. »Ich bete,« murmelte er. Dann erst sah er, daß es Pippo Lamberti war, der vor ihm hielt. Er saß auf einem Maultier, zwischen zwei Fässern eingehegt, bis fast zur Schulterhöhe hinauf, und hatte die Flinte über dem Rücken. Sein von schwarzem Vollbart umkraustes Gesicht unter dem in den Nacken geschobenen Spitzhut zeigte einen gutmütig-spöttischen Ausdruck.
»Seit wann bist denn Du unter die Betbrüder gegangen? Oder trittst Du eine Pilgerfahrt an? Siehst ja erbärmlich aus, Bursch! Ja, wenn die Frau nicht im Haus ist! Willst wohl hinauf zu ihr, was? Kann ein heißer Weg heut werden, Du, unsereiner hat's besser.« Er schlenkerte lachend mit den Zügeln, während das Maultier den Kopf hob und dabei die kleinen Schellen seines reichen Gehänges klirren ließ.
Severo starrte den da oben breit und behaglich in Joppe und Lederhosen zwischen seinen schaukelnden Fässern sich im Sattel wiegenden Mann an, ohne zu wissen, was er denken sollte. »Hinauf zu ihr?« wiederholte er automatisch, mit ganz leerem Gesichtsausdruck und halboffenem Munde. Meinte der da den Himmel, in den er Serafina nachfolgen sollte? Von einer »Pilgerfahrt« hatte er ja geredet. Wußte er etwa, daß Serafina tot war?
»Ja, Mensch, was glotzest Du mich so an?« rief Pippo Lamberti und stemmte die Arme in die Hüften. »Mit Dir ist's nicht ganz richtig, scheint's. Bei Euch da unten muß überhaupt einmal gründlich aufgeräumt werden. Sind ja nette Dinge geschehen, seit ich auf dem Weinhandel oben in den Bergen war. Gestern abend erst in Siriano haben sie mir ein Licht d'rüber aufgesteckt. Da oben ist man ja ganz wie aus der Welt. Aber laß nur gut sein! Jetzt komm' ich heim, jetzt kommt ein anderer Zug in die Dinge!« Und er klopfte sich selbstbewußt auf seine Schenkel. »Ist's wahr, daß sie jetzt Adriano Micca hinter Schloß und Riegel haben?« fragte er dann finster.
»Ja,« sagte Severo, immer noch in stumpfem Grübeln vor sich hinstierend, »aber er ist unschuldig.«
»Santo Diavolone!« schrie der andere und schlug mit der geballten Faust auf den Sattel, »ob er das ist! Das brauch' ich von Dir nicht zu hören. Aber man wird bald etwas erleben, Du! Maul und Nase sollen sie aufreißen vor Erstaunen, die Laffen. Doch ich muß hinunter, will noch zur Frühmesse zurechtkommen. Und Du hast noch einen achtungswerten Spaziergang vor Dir bis Campino. Gute Reise! Und zeig' dem lieben Herrgott ein freundlicheres Gesicht, hörst Du?« Lachend trabte er den Weg hinunter, die Schellen am Kopfgehänge des Maultieres bimmelten noch eine ganze Weile durch die Frühluft zu Severo hinüber.
Der stand noch immer und blickte dem Davonreitenden wie einer Vision nach. Campino! Er wiederholte sich das Wort ein paarmal in Gedanken. Serafinas Heimatsort. Was hatte Pippo Lamberti damit sagen wollen? War Serafina dort? Und kam er selber von da und hatte sie gesehen? Aber dann konnte man sie ja nur allzuleicht aufspüren, dann hatte sie sich ja gar nicht wirklich in Sicherheit gebracht. Und Pippo Lamberti hatte gesagt, Adriano Micca sei unschuldig und man werde bald etwas erleben. Das hieß doch, daß er den Schuldigen kenne und ans Messer liefern wolle. Severo strich sich ein paarmal über die Stirn hin. Er war wahrhaftig schon ganz wirr geworden von all dem Grübeln und Sinnen dieser letzten Zeit. Ob Serafina lebte oder nicht, in Sicherheit war oder nicht, er, Severo Rocca, war ja doch auf dem Wege nach Florenz, um Adriano Micca zu befreien und sich selber anzuzeigen. Dazu brauchte es Pippo Lambertis nicht und keines Menschen mehr sonst. Er würde Pippo Lamberti zuvorkommen, ihn sollte man nicht erst aufgreifen lassen, ihn sollte niemand erst zwingen. Er war ja entschlossen gewesen, ehe Pippo Lamberti gekommen war.
Er drückte sich seinen Hut fester auf den Kopf und wollte gehen. Wieder läuteten jetzt die Glocken, er wußte nicht mehr genau, ob es die von Siriano oder die von Borgunto waren, es schien ihm, als käme das Geläut aus allen beiden Orten, klänge herauf und herab und verwogte miteinander und erfüllte die ganze Luft um ihn her. Himmel und Erde, alles schien zu läuten. Eine weiche Sehnsucht kam über ihn. Er sah Serafina vor sich, er fühlte es freudig, daß sie noch lebte und ihm nahe war. Und bevor er ging, um sich selber anzuzeigen, wollte er zu ihr, um wenigstens sie noch einmal zu sehen und ihr zum Abschied die Hand zu drücken. Soviel Zeit durfte er sich noch gönnen. Und mit plötzlich wieder erstarkenden Gliedern trat er den Bergweg an. Die Glocken läuteten noch immer.
Es kam ihm jetzt beim rüstigen Steigen seltsam vor, daß er früher noch gar nicht an Campino gedacht hatte, und daß Serafina dort sein könne. Wenn sie auch keinerlei Angehörige dort mehr hatte, hatte immer ihre Sehnsucht dorthin zurück gestanden, und sie betrachtete es als ihre eigentliche Heimat, die sie schwer entbehrte.
So hätte er sie dort zu allererst suchen müssen. Nun hatte Pippo Lamberti sie in Campino gesehen und sie ihm nicht einmal einen Gruß für ihn, Severo, aufgetragen. Sie war ja freilich im Zorn von ihm gegangen und wahrscheinlich wollte sie gar nicht, daß irgendwer wußte, wo sie war, sondern wünschte verborgen zu bleiben vor jedermann, am ehesten für ihn. Aber doch war's ihm traurig. Und mit Angst dachte er weiter daran, daß nun, wo sie sich entdeckt wußte und sich sagen konnte, Pippo Lamberti werde ihren Aufenthalt zu Hause verraten, sie womöglich von Campino wieder fortgegangen sei und ihre Spur hinter sich verwischt hatte, so daß er sie nicht mehr finden werde. Diese Angst beflügelte seine Schritte.
Als er Siriano hinter sich hatte, wo er hastig und ohne sich umzusehen zwischen den sich zur Kirche drängenden Menschen hinschritt, um nur ja nicht aufgehalten zu werden, fiel ihm erst der Gedanke, wie weit er noch zu gehen hatte, schwer auf alle Sinne. Vor Abend konnte er kaum in Campino sein, und viel rasten durfte er dazwischen nicht einmal. Er dachte aber an die Zeit, wo er hier heraufgegangen war mit seiner stürmenden Liebe im Herzen, und wie leicht ihm damals die weite Bergwanderung geworden. Warum sollte das heute anders sein? Die Sonne war heraufgekommen, und das Arnotal drunten lag in bläulichem Duft, von dem schimmernden Stromband durchschlängelt. Die Felskuppen glühten über ihm, und die bebauten Hügel mit den zahllosen Ortschaften und verstreuten Einzelgehöften im Grün der Rebengärten und im Grau der Olivenwälder, zwischen denen immer wieder die schwarzen, schlanken Zypressen aufragten, schoben sich bis in die unabsehbare Ferne ineinander. So häufig das Landschaftsbild wechselte, blieb doch der Charakter der Gegend immer der gleiche, und nur der Pflanzen- und Baumwuchs ward spärlicher, je höher Severo kam; aber auch hier oben noch waren alle Hänge voll wilder Blumen, und der Morgenwind trug ihren Duft dem Wandrer entgegen.
Noch war die Luft frisch, aber Pippo Lamberti mochte wohl recht haben, daß es ein heißer Tag werden würde. An einer Felsecke blieb Severo stehen. Es kam ihm mit einem Male die Erinnerung, daß man von hier aus zum letzten Male die Domkuppel von Florenz drunten, weit, fern, leuchten sehen könnte, und daß dann der steile Teil des gerade in die Berge hinaufführenden Weges begann. Hier hatte er jedesmal gerastet. Und hier hatte er mit Serafina zusammen gestanden, damals, als er sie sich heimgeholt hatte, und hatte ihr die Welt drunten gezeigt und sie gefragt, ob sie sich da wohl heimisch werde fühlen können. So viele Erinnerungen lebten jetzt in ihm auf, fast auf Schritt und Tritt kamen sie ihm und machten sein Herz klopfen, riefen eine sonderbar weiche Stimmung in ihm wach. Wie glücklich sie doch gewesen waren. Und daß nun alles aus sein sollte für immer!
Weiter und weiter stieg Severo. Er hätte den Weg im Schlafe finden können, so vertraut erschien er ihm. Und er kannte die spärlichen Quellen, wo er seinen wachsenden Durst löschen konnte, und die schattenkühlen Plätze, wo er rasten und das Wenige, was er gegen seinen Hunger zu sich gesteckt, verzehren konnte. Allmählich spürte er große Mattigkeit, denn die Mittagssonne sengte heiß hier oben in dem kahlen Gelände, und all die schlimmen Nächte und die inneren Qualen der letzten Zeit hatten seinen kraftvollen Körper geschwächt. Es war aber alles jetzt ganz ruhig in ihm. Eine friedliche Trauer hakte sich über ihn ausgebreitet, in der er weder grübelte, noch sich fürchtete, sondern nur ganz mutig und still einem schweren Verhängnis entgegenschritt. Selbst das Glockenläuten, das er hin und wieder von einem Kirchlein oder einer Kapelle, sei's tief im Grunde, sei's droben von ragender Spitze, durch die kristallklare Luft heranschwimmen hörte, schreckte ihn gar nicht mehr in dieser reinen und einsamen Höhe, weckte auch keine wilden oder bangen Gedanken mehr in ihm. Das schien ihm alles weit, fern zu liegen und er hoch darüber zu stehen. Menschen begegnete er fast gar nicht. Heut ruhte die Arbeit draußen, und alles rastete in den Häusern oder betete in den Kirchen.
In seiner steigenden Müdigkeit freute sich Severo auf die Eremitengrotte, die er nun bald erreichen mußte. Sie lag in der steilen Felswand des Monte Porfido, neben dem alten Heiligtum der Madonna del Monte. In früheren Zeiten hatte ein frommer und wundertätiger Einsiedler dort gehaust, zu dem die Leute aus den Bergdörfern in hellen Scharen gepilgert waren und von dem noch viele Legenden heute im Volke umgingen. Seit seinem Tode war die Höhle, in der er ein halbes Jahrhundert hindurch gelebt, verlassen, und nur die Bergwanderer rasteten dort manchmal in der heißen Tagesglut oder suchten dort Schutz vor Unwetter, nachdem sie vor dem Madonnenbilde gebetet hatten, was wohl keiner je unterließ, der des Weges gezogen kam. Auch Severo hatte einmal bei einem gewaltig die Bergwelt durchdröhnenden Gewitter mit Serafina dort Schutz gesucht und gefunden, und die Madonna del Monte galt ihnen beiden von da her als besondere Beschützerin ihres Glücks. Auch war der Platz herrlich. Mächtige Zypressen standen als Wächter zu beiden Seiten des kleinen Heiligtums, und wenn man in der Felsgrotte auf der Steinbank saß, die der Eremit einst aus dem spröden Gestein herausgehauen, sah man die wilde Berglandschaft in all ihrer einsamen Größe vor sich. Hier sprudelte auch ein frischer Springquell, der in der wasserarmen Gegend als das sichtbarste aller Wunder dieser »heiligen Jungfrau vom Berge« galt, in einen Steintrog und bot willkommene Labe für Mensch und Vieh. Immer steckten auch frische Blumensträuße am Gitter, hinter dem sich das Bild der Gebenedeiten befand, und zu manchen Malen ließen Bergwanderer, die hier besondere Gnade, Trost und Schutz gefunden, aus Dankbarkeit Lebensmittel, Amulete oder Kupfermünzen zurück für solche, die nach ihnen kommen würden.
Severo war deshalb auch nicht überrascht, als er diesmal auf der Felsbank der Grotte einen Haufen von Moos und trockenen Blättern aufgeschichtet fand, gerade, als ob ihm jemand eine Ruhestätte bereitet hätte, sondern warf sich nach kurzem Gebet vor der Mutter Gottes alsbald darauf nieder, dehnte sich und schlief ein. Er träumte sehr lebhaft, daß die Heilige selber lebendig würde, hinter ihrem Gitter hervorträte und auf ihn zugeschritten komme, um ihn zu seinem Entschlusse, sich der weltlichen Gerechtigkeit auszuliefern, zu segnen. Und im Begriff, vor ihr niederzuknien, erwachte er. Gerade in diesem Augenblick trat eine weibliche Gestalt in den Rahmen der Grottenöffnung, und Severo sprang auf. Eine Sekunde hindurch glaubte er wirklich, es sei die Gottesmutter in Person, und bekreuzte sich andachtsvoll. Dann aber sah er, daß es ein Weib mit einem Bündel in der Hand war, das hier auch rasten zu wollen schien, und als seine Augen sich erst an die Wirklichkeit wieder gewöhnt hatten, durchrieselte es ihn mit einem abergläubischen Schauer. »Serafina!« rief er, halb zweifelnd, halb erglühend.
Sie hatte ihn gleich erkannt, aber sie begrüßte ihn nur stumm. Sie erschien ihm überhaupt merkwürdig verändert, fast demütig, und ein Zug von frommer Scheu lag auf ihrem Gesicht. Dabei war sie abgemagert und hatte einen leidenden Ausdruck. »Du bist's, Serafina!« sagte Severo zum zweitenmal.
»Ja, ich komme von Campino,« sagte sie. Sie schien gar nicht zu erstaunen über diese Begegnung, sie mußte immer gedacht haben, daß er eines Tages kommen werde.
Er blickte auf ihr Bündel und glaubte zu begreifen. Weil Pippo Lamberti sie ausgekundschaftet hatte, wollte sie fort. Nun aber begegnete sie ihm dennoch, die Madonna hatte es so gewollt. Er wunderte sich nur, daß Serafina nicht gleich vor ihm entfloh. »Wohin willst Du?« fragte er sie.
»Ich wollte zu Dir.« Es klang ganz schlicht und schüchtern.
Severo verstand das nicht. »Und Du?« fragte sie ihn.
»Ich wollte kommen, um Abschied von Dir zu nehmen.«
»Abschied?« Nun hob sie doch erstaunt die Augen auf und blickte ihn an.
»Ja! Ich gehe nach Florenz hinunter und will mich bei Gericht anzeigen.«
Er hatte eigentlich gedacht, daß sie erschrecken würde, aber keine Miene änderte sich in ihrem Gesicht, nur ihre Stirn schien etwas tiefer herabzusinken. Sie hatte das also von ihm erwartet, schien's, sie nahm das als etwas Natürliches hin. »Hältst Du es nicht mehr aus anders?« fragte sie erst nach einer Weile bangen Nachdenkens.
»Nein,« erwiderte er. »Sie drängen mich ja alle dazu, – der Gioacchino und die anderen, – alle.«
»Ich gehe mit Dir,« sagte sie nach kurzem Schweigen.
»Du?« Er starrte sie ganz ohne Fassung an.
»Ja. Wo Du bist, da will ich auch sein. Sie sollen mich mit hereinlassen.«
Er schüttelte den Kopf, er begriff sie nicht. »Ich tue es ja nur für Dich,« wollte er ihr sagen, »was willst denn also Du bei mir?« Aber er brachte es nicht heraus, es war ihm, als ob ihn etwas weich und warm überriesele. So hatte er Serafina lange nicht mehr sprechen hören; ihre Stimme, ihre Haltung, alles schien ihm verändert. Und das Gefühl von etwas Wunderbarem, das um ihn und mit ihm vorging, war lebendig in seiner Seele, deshalb meinte er, alles geschehen lassen zu müssen, weil es eine Fügung sei und er doch nicht dagegen ankomme. Natürlich würden sie Serafina nicht mit hereinlassen, – wie hätte denn das möglich sein sollen? Aber es tat ihm unsäglich wohl, daß sie so zu ihm hielt und nicht von ihm lassen mochte. »Gut,« sagte er, »so gehen wir also zusammen.«
»Laß uns noch einen Augenblick hier ausruhn,« bat sie und setzte sich auf die moosüberschüttete Steinbank. Dann, als er neben ihr sich niedergelassen hatte, öffnete sie ihr Bündel. »Hast Du keinen Hunger?«
Doch, ihn hungerte, und er sagte ihr's. Sie hatte ganz frisches Brot bei sich und große, grüne Bohnen, die heute morgen erst gepflückt waren. Dazu holte sie ihm Wasser in dem blechernen Becher, der neben dem Grottenquell hing. Es war ein Mahl, das ihnen beiden mundete und bei dem sie nichts sprachen. Er hatte sie weder gefragt, warum sie damals fortgegangen sei, noch sie ihn, woher er gewußt habe, daß sie in Campino sei. Es schien, als wäre alles Vergangene hinter ihnen versunken und vergessen und ihr Leben finge erst von dieser Stunde wieder an, wo sie sich zusammengefunden hatten. Manchmal nur, während des Essens, sahen sie sich beide an, und jeder schien über den Anblick des anderen verwundert zu sein oder etwas darin befremdete ihn doch. Erst, als Serafina nicht mehr aß, sagte sie, als ob sie eine unausgesprochene Frage Severos beantworten wollte: »Ich habe da oben Magddienste getan. Bei Sor Achille, – Du weißt. Es ist mir hart angekommen. Wenn man so lange freie Herrin über sich war –«
Er nickte. »Deshalb bist Du fortgegangen?«
Ein helles Rot lief über ihre Stirn hin. »Nein, nicht deshalb.«
Severo fragte nicht weiter. Als auch er fertig war mit dem Essen, stand er auf. »Wollen wir nun gehen?«
»Wie Du willst.«
Er stand zögernd im Grotteneingang. »Weißt Du noch – damals?« fragte er unsicher.
Dann beteten sie beide vor dem Madonnenbilde, sie knieten nebeneinander, bekreuzten sich gleichzeitig und, als sie gingen, hielten sie sich Hand in Hand. Er hatte ihr das Bündel abgenommen und trug es an seinem Stock über der Schulter. Eine geraume Weile gingen sie so, schweigend, nebeneinander. Die Sonnenhitze hatte nachgelassen, ein frischer Wind strich über die Hänge, die von goldgelb blühendem Besenkraut überwuchert waren, über dem krüppliges Piniengestrüpp schattete. Weit und einsam lag die Welt vor den beiden in Sonnenduft und Fernenglanz. Da fuhr Serafina plötzlich aus ihrem Sinnen auf und sagte stehenbleibend: »Du, Severo, könnten wir nicht fort – ganz fort, mein' ich? Hunderttausend Miglien, – übers Meer, – irgendwohin? Es gibt doch überall Menschen und Land. Und Sor Achilles Jüngster, der blonde Maso, der damals beim Morra den lahmen Zaccaria so unglücklich mit der Faust in die Schläfe getroffen hatte, daß der liegen blieb, – Du weißt doch? – der ist jetzt da drüben reich geworden und hat Frau und Kinder, und sie können nicht an ihn. Und er ist viel glücklicher als hier, hat er an Sor Achille geschrieben.«
Severo nickte trübe vor sich hin. »Ich habe auch schon daran gedacht,« sagte er, »aber es würde nichts helfen. Bei uns nicht. Wir kämen nicht davon los. Ich würde früher oder später doch wohl wieder denken müssen, daß –«. Er fuhr sich unter dem Hutrand mit der Hand über die Stirn hin. Er wollte offenbar nicht wieder in sein altes, verzweiflungsvolles Grübeln zurückgestoßen werden. Das alles sollte fertig und abgetan sein und sie durfte nicht mehr daran rühren. Es war in ihm so still und friedlich gewesen, weshalb wühlte sie es wieder auf? Er hätte ihr ja sagen müssen, daß ihre blutbefleckten Hände –. Nein, nein! Er streckte die seinigen wie abwehrend gegen sie aus.
Serafina zuckte wie hilflos die Achseln. »Wenn Du nicht kannst« – schien sie sagen zu wollen.
»Laß uns weitergehen!« sagte er nach einem tiefen Aufatmen.
Und sie gingen wirklich, immer der langsam hinter den glühenden Kuppen zur Rüste gehenden Sonne zu. Nach einiger Zeit blieb aber Serafina abermals stehen und sagte, zwar kleinlauter, als vorhin, aber doch immer noch in mahnendem, dringlichen Ton: »Severo, es ist nicht gut, wenn wir gehen und uns ihnen ausliefern.«
»Sie hat Furcht,« dachte er, »je näher wir der Entscheidung kommen, desto mehr Furcht hat sie; vielleicht denkt sie gar, im letzten Augenblick werde ich sie im Stiche lassen, meinen Entschluß bereuen und ihr die Schuld allein aufbürden.«
Und er sagte, um sie zu beruhigen: »Dich lassen sie nicht mit herein, Serafina.«
Sie sah ihn groß an, fast überlegen. »Ich würde ihnen ja sagen, daß ich mitschuldig bin, – daß ich mit dabei gewesen bin.«
Daran hatte er noch gar nicht gedacht, und es überwältigte ihn fast, daß sie das wollte. Dann freilich – dann konnten sie zusammenbleiben. Eine so einfache Lösung war ihm noch nicht eingefallen. Aber dann brachte er ihr ja auch kein Opfer, dann nahm er ihr gar nicht ihre Schuld ab, sondern nur einen Teil davon und half ihr sie tragen. Wahrscheinlich hatte die heilige Jungfrau es so gewollt, zumal er ja sicherlich eine innere Mitschuld an Serafinas Tat hatte und eine, die nicht anzuschlagen war. Ja, dann konnten sie ja wirklich zusammenbleiben. Nun wurde ihm wieder ganz licht und leicht zu Sinn. »Wir haben es alle beide getan,« konnten sie sagen, und dann ließ man sie beieinander und sie logen nicht einmal eigentlich. Nur: daß Serafina das wollte – das über sich brachte! Er hätte es nicht von ihr gedacht. Und deswegen hatte sie wahrscheinlich heute von Campino zu ihm herunterkommen wollen, – um ihm das zu sagen! Diese Zeit der Trennung hatte Wunder bei ihr gewirkt. Bei ihm ja freilich auch. Bloß, daß sie meinte, er könne mit ihr in die weite Welt gehen und könnte vergessen, daß Blut an ihren Händen klebte, und sie könnten glücklich zusammen sein, war ihm seltsam.
Serafina hatte sich im Gestein am Hange niedergesetzt, sie schien müde zu sein. Er ließ sich neben ihr nieder und fuhr ihr leise mit der Hand übers Gesicht; es war ihm, als ob er ihr irgendwie danken und sie irgendwie zugleich trösten müsse, und Worte hatte er nicht. Sie schauten eine Zeitlang in die sinkende Sonne, bis sie ganz hinter den Bergen untergetaucht war und ein purpurner Glanz nur noch über den Kuppen lag, der langsam zu verbluten schien. Trotz des noch in blendendem Schimmer leuchtenden Westhimmels und der goldigen Klarheit in der Luft war's doch, als striche ein fröstelnder Schauer plötzlich über die Welt hin. Und in ihm erbebend, sagte Serafina mit einem Male: »Du weißt immer noch nicht, weshalb ich heute zu Dir kommen wollte, Severo. Und Du begreifst deshalb nicht, warum ich meine, wir sollten uns denen da unten nicht ausliefern, sondern es doch versuchen, uns irgendwohin zu flüchten, wo wir frei sind und alles vergessen können. Ich will es Dir sagen. Du wirst Vater werden, Severo.«
Er sah sie eine Weile halb verständnislos an. Ihre Hand, die er immer noch in der seinen hielt, schien ihm mehr und mehr darin zu erkalten, als ob alles Blut ihr zum Herzen zurückflösse. »Serafina! Fina!« er stieß das endlich halb entsetzt, halb jubelnd heraus. Er zitterte am ganzen Körper.
»Severo,« sagte sie und sah ihn flehend und treuherzig an, »nicht wahr, Du wirst nicht glauben, daß – daß es nicht Dein Sohn wäre –? Du kannst das nicht glauben, – nie – nie? Denn sonst – wenn Du Deiner nicht ganz sicher wärest, Severo, – und ich will es Dir ja gern zuschwören mit allen heiligsten Eiden, bei der Madonna und bei meinem Schutzpatron und bei dem Grabe meiner Mutter, – wobei Du willst, Severo, wenn Du meinst, das machte Dich sicherer. – Dann, siehst Du, dann will ich lieber gleich von hier herunterspringen, wie ich da bin, und da unten in den Steinen tot liegen bleiben, als daß ich dann noch mit Dir gehen und bei Dir bleiben könnte, – ich und Dein Sohn. – Das hat mich so gequält, Severo, und das wäre schlimmer für mich, als das, was Du getan hast, – viel schlimmer.«
Sie wollte noch immer mehr sprechen, es war, als ob plötzlich in ihr etwas entsiegelt wäre, als ob nun ein Strom über ihre Lippen brechen wollte. Aber Severo hatte seine Hand über ihren Mund gelegt. »Sprich nicht weiter,« sagte er, und auch seine Stimme zitterte jetzt, »ich will's nicht hören. Ich glaube an Dich. Bei der heiligen Mutter Gottes, ich glaube an Dich.« Andächtige Empfindungen in ihm wechselten mit Jubelausbrüchen, tiefem Staunen und trüber Verzagtheit. »Daß dies gerade jetzt kommen mußte, Serafina!« fing er dann endlich wieder an. »Was wir uns solange wünschten – die Madonna muß doch etwas Besonderes damit gewollt haben.« Und er legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie noch enger an sich.
»Ja, ich habe auch schon daran gedacht,« sagte sie, ihren Kopf an ihm bergend und mit geschlossenen Augen. »Gerade jetzt! Und ich habe eben daran gedacht: sie will nicht, daß Du es büßen sollst da drunten, – die Madonna.«
Darauf schwieg Severo, denn das »Gerade jetzt!« das er noch einmal in fassungslosem, ehrfürchtigen Staunen in sich hineinmurmelte, konnte sie nicht vernehmen. Er überlegte. Nach dem Morde mußte es gewesen sein, daß die Madonna Serafinas Schoß gesegnet hatte, – nach dem Morde. Und also konnte sie ihr wegen desselben wohl nicht zürnen. Früher hatte sie alle ihre Gebete um diesen Segen unerhört gelassen. Und nun sollte dies Kind, das ihnen als ein Gnadengeschenk beschieden werden sollte, in der Strafanstalt das Licht der Welt erblicken. Serafina hatte recht: dagegen mußte sich alles in ihr, wie in ihm selber, auflehnen, das konnte unmöglich der Wille der heiligen Jungfrau sein. Was aber sollte werden? Ihre Hände waren doch von Blut befleckt. Und wenn sie auch übers Meer damit flüchtete, dies Blut von ihren Händen würde sie nicht damit abwaschen. Severo sann und sann. Der Feuerschein im Westen begann zu verglühn, aber die Luft war so dünn und rein, daß man weit drüben in märchenhafter Ferne noch das Gezack der karrarischen Marmorberge erkannte, das wie ein Wolkengebilde sich in den Himmel hineinzeichnete. Nun fragte Severo plötzlich niedergeschlagen und mit kummervoller Miene: »Warum tatest Du es, Fina?«
Sie hatte sich längst wieder leise von seiner Schulter emporgerichtet, und, die Hände im Schoß gefaltet, vor sich hingeblickt. Sie begriff, daß er Zeit haben mußte, daß er Mühe hatte, sich in das alles erst zu finden. Nun aber bei seiner Frage sah sie ihn verständnislos an. Was meinte er? Mußte er nun doch wieder daran zurückdenken, daß sie sich mit Aristide Vomero oder mit Pietro Mariani oder gar mit allen beiden eingelassen hatte? Stieg der unglückselige Argwohn, der ihn schon einmal fast zu ihrem Mörder gemacht und der ihn sie so roh hatte beschimpfen lassen, daß sie von ihm gegangen war, – stieg er immer neu in ihm auf und war nicht zu ersticken und nicht auszutilgen? »Was fragst Du, Severo?« entgegnete sie ihm traurig. »Du weißt ja nun alles. Ich bin rein geblieben. Ich wäre sonst heute nicht wieder zu Dir gekommen.«
»Ja,« sagte er. »Ich weiß. Aber Deine Hände sind doch blutbefleckt.«
»Meine Hände?« Sie blickte ihn in einer jäh aufsteigenden Angst an. War er wahnsinnig geworden? »Severo! Besinne Dich doch! Du willst Dich ja dem Gericht anzeigen, weil Du Aristide Vomero erstochen hast.«
Es war ihr nun doch herausgefahren, was sie niemals hatte aussprechen wollen, und sie bereute es in der gleichen Minute schon wieder. Wie hart und grausam und schneidend klang es! Und er hatte es doch nur um sie getan, – ein Mord aus Liebe war es gewesen, den jedes Weib verzeihen kann. Severo hatte sie eine kleine Weile ganz wie erstarrt angesehen, dann sich mit dem Arm über die Stirn gerieben, – einmal, zweimal. Er wußte in diesem Augenblick wirklich nicht mehr, ob er wache oder träume. Es war ihm ganz unheimlich. Sie sagte das auch, was ihm alle anderen sagten – oder doch von ihm glaubten? Sie? Aber sie wußte ja doch, – sie selbst. – Alle seine Gedanken wirbelten durcheinander. Wollte sie auch ihm gegenüber – und noch in dieser Stunde – den Wahn aufrechterhalten, sie habe die Tat nicht begangen? Glaubte sie am Ende gar, er wisse es gar nicht, er so wenig wie sonst irgend jemand? Oder hielt sie sich nur einfach daran, daß er ja auf dem Wege nach Florenz war, um sich als den Schuldigen anzuzeigen? Denn er war doch nicht etwa wirklich – er hatte doch nicht etwa im Traum –? Es durchrüttelte ihn. Wie kamen sie denn nur alle darauf, ihn, gerade ihn –? »Serafina!« schrie er auf, »bei der Gebenedeiten, ich wollte, Du wärest so unschuldig an diesem Morde, wie ich. Sie lügen ja alle, ich habe ihn nicht begangen!«
Sie erwiderte nicht gleich etwas darauf, es zog nur wie ein Wetterleuchten über ihr Gesicht hin. »Und doch willst Du die Schuld auf Dich nehmen?« fragte sie endlich sanft.
»Für Dich,« gab er zur Antwort. »Und damit kein Unschuldiger leidet.«
»Für mich!« Sie sagte das mit tiefem Erstaunen, sie lächelte dabei. Und dann wiederholte sie, wie aus einem schweren Traum erwachend: »Du hast es nicht getan!« Sie schien es noch immer nicht zu fassen. »Weißt Du, Severo,« sagte sie dann, auf ihre gefalteten Hände niederblickend, »wenn ich jetzt nicht Dein Kind – unser Kind unter dem Herzen trüge, vielleicht würde ich traurig sein, daß Du es nicht getan hast. Denn ich habe es damals im Geheimen von Dir gefordert und war Dir gram, daß Du zögertest. »Wenn er mich liebt, wird er es tun,« hab' ich gedacht, »er wird ein Ende machen, – und ein anderes gibt es nicht.« Und dann atmete ich auf, dann war ich glücklich. Nur daß es an mir fraß. Du hättest es getan, weil Du mich für schuldig hieltest. Und Du fragtest mich dann ja auch, wie weit ich mit ihm gekommen wäre. Und jetzt, wo Du Vater werden sollst, – jetzt möchte ich um alles in der Welt nicht, daß Du –. Ach, Severo, wie unnötig haben wir uns das Leben verquält und das Glück zerstört, – um nichts, um nichts!«
»Weil ich dachte, daß Du, Fina, – Du –«
»Ich? Nicht einmal ein Gedanke ist mir je daran gekommen, Severo, dafür ist die Madonna mein Zeuge. Warum hätt' ich es auch tun sollen? Wenn es sein mußte, war es Deines Amtes. Und Du hast es auch gewollt, Severo, nicht wahr? Denn in jener Nacht standest Du auf. Ich sah und hörte Dich.«
»Ich habe es gewollt,« sagte er. »Am nächsten Tage, wenn er wieder von Dir gekommen wäre, hätte ich es getan. Die Madonna hatte es nicht zugelassen. Du aber beugtest Dich damals über mich, als wenn Du sehen wolltest, ob ich schliefe, und dann –«
»Ich wollte nur aus Deinem Gesicht lesen, ob es geschehen wäre. Und dann wollte ich alle Spuren vertilgen, die Dich hätten verraten können, jeden Blutfleck fortwaschen, und – Du solltest nie erfahren, daß ich es wüßte, Severo.«
»Das hatt' auch ich mir gelobt,« sagte er fast scheu und sah sie an, wie wenn er sie noch nie gesehen hätte, wie wenn sie ihm eine ganz andere geworden wäre. »Wir sind Toren gewesen, Fina. Aber ich glaube: wir haben der heiligen Gottesmutter viel zu danken und wir haben uns doch immer sehr lieb gehabt, trotzdem wir schwiegen voneinander, – nein, gerade darum!« Er neigte sein Haupt.
Sie saßen eine Weile so stumm beieinander, als ob sie das Ungeheure, das ihnen widerfahren war, noch immer nicht völlig begreifen könnten oder dadurch zu Boden gedrückt würden. Es kam ihnen beiden vor, als wären sie in einen schweren Schlaf verstrickt gewesen und daraus jetzt plötzlich wachgerüttelt, und nun begriffen sie plötzlich nicht mehr, wie sie so hatten schlafen und träumen können. Inzwischen war es vollends Abend geworden, und die Luft strich kühl über die Hänge. Drunten vom Tal krochen die blauschwarzen Schatten höher und höher hinauf. Die Hände der beiden hatten sich wieder ineinander gefunden. »Laß uns jetzt gehen, Severo,« sagte Serafina endlich.
Er fuhr zusammen, griff nach ihrem Bündel und stand auf. »Wohin?« fragte er dann wie ratlos.
»Nach Hause, – in unser Haus, Severo.« Sie sah ihn lächelnd an, sie rüttelte ihn mit beiden Händen an den Schultern. »Wach' auf, Du!«
Da stieß er einen Schrei aus, der rings von den Bergwänden zurückhallte und in dem er all seinem Jubel Luft machen mußte, – einen Schrei der Befreiung, einen Schrei des Erwachens. Und mit diesem griffen seine Arme nach ihr und hoben sie vom Boden auf und schwenkten sie durch die Luft. Es war, als ob er sie der ganzen Welt zeigen wollte. Dann preßte er sie eng an sich, so eng, daß ihr fast der Atem verging. Und seine Lippen ließen die ihren nicht.
»Du Wilder,« sagte sie und machte sich endlich los, »so darfst Du jetzt nicht mehr mit mir umgehen.«
Da begriff er, wurde rot und warf sich vor ihr nieder, um ihre Knie zu umschlingen. »Verzeih',« murmelte er. »Du sollst mir von jetzt an wie eine Heilige sein.«
Dann gingen sie. Sie schritten rasch talab, Hand in Hand, wie von einem geheimen Verlangen getrieben, wieder zu Hause zu sein. Nur in Pausen sprachen sie miteinander und immer noch wie von einem geheimen Schauer angerührt, der aus der Vorstellung, wie alles hätte werden können, wenn die heilige Jungfrau sie nicht zur rechten Stunde erleuchtet hätte, zu ihnen herüberquoll, als ob der Wind ihn ihnen nachtrüge. Die Dunkelheit wuchs inzwischen. Sie lag jetzt schon wie brütend zwischen den Bergen und schien aus der Tiefe emporzuwallen und erfüllte und durchdrang alles. Den beiden warf sie sich entgegen gleich einer feindlichen Macht und sie fühlten sie zuletzt, wie etwas Körperliches, das auf ihnen lastete. Aber sie drängten sich nur enger aneinander und meinten, durch lauter Duft und Helle zu wandern. Nur ihre Stimmen wurden immer leiser und erklangen immer seltener. Nichts von Furcht war in ihnen, nur eine Empfindung von etwas Geheimnisvollem, das sie andächtig und ehrfürchtig stimmte. Sie hätten immer so weiter wandern mögen, und es war, als ob ihnen etwas hart und erbarmungslos durchrissen würde, als sie endlich Lichter schimmern und Stimmen ertönen hörten. Das mußte Siriano sein. Es war ihnen seltsam, daß sie nun schon wieder dort sein sollten, es war, als würden sie unsanft von etwas angepackt. Ihre Hände verschlangen sich nur noch fester ineinander.
Dann hatten sie die einzige Straße des Bergorts schon unbemerkt passiert, als plötzlich eine fette, keuchende Stimme hinter ihnen drein rief: »He! Um Gottes Jesu willen, nehmt mich mit, Ihr da, wer Ihr auch seid! Euch schickt mir die heilige Barbara, oder ein ehrlicher Christenmensch hätte sich auf dem Heimwege Arme und Beine entzweigefallen. Ist das eine Dunkelheit, heilige Dreifaltigkeit! Und man holt sich den Tod um seiner lieben Mitmenschen willen, die einem auch noch um die paar Soldi für das mühseligste und verantwortungsvollste Gewerbe der ganzen Christenheit bestehlen möchten, – ist so 'was dagewesen? Daß Euch der Leibhaftige seinen Schwanz vor die Beine werfen möge, damit Ihr stolpern müßt, – wollt Ihr wohl steh'n bleiben, bis ich Euch nachgehumpelt bin! Habt's wohl gar so eilig, he? Brennt Euch die Abendsuppe an oder seid Ihr wo zu Gast gewesen, wo man Euch nicht eingeladen hatte? Mord und Raub gehören ja heutzutage zum Alltäglichen, und wen man am wenigsten im Verdacht hatte, ist der geriebenste Hallunke gewesen. Heilige Barmherzigkeit, ich glaube, diese dreimal verfluchten Nachtvögel wollen mich hier kaltblütig den Hals brechen lassen. He! Die Gendarmen sind hier oben in Siriano, ich schrei' Feuer, wenn Ihr jetzt nicht gleich steht, Ihr Galgenvolk. Wartet! Wartet!«
»Ich glaube wahrhaftig, wir müssen sie mitnehmen,« sagte Severo, »sie schreit sonst das ganze Dorf wach.«
»Es ist Sora Gioconda,« erwiderte Serafina. »Die hat sich natürlich wieder einmal oben verschwatzt.« Und ihren Mund näher an sein Ohr bringend, setzte sie hinzu: Wir dürfen sie ja nicht mehr rauh behandeln, Severo, sie würde sonst – Du weißt doch –«.
»Ja, natürlich, Du hast recht, Du –«. Er strich ihr über beide Wangen hin, die heiß erglüht waren. Dann wandte er sich um. »Ihr seid's doch nicht etwa, Sora Gioconda?« rief er mit erheucheltem Erstaunen.
Die Alte watschelte stolpernd und fluchend näher. »Teufel und alle Heiligen, wer soll's denn sonst sein? Wen jagt man sonst, wenn andere Christenmenschen schlafen, bei Nacht und Nebel in die Wildnis herauf, um sein Handwerk auf Tod und Leben zu treiben, he? Kennt Ihr sonst noch einen? Und es sind Zwillinge geworden, damit Ihr's wißt, ein Junge und ein Mädchen, und beide gesund und beide kräftig, und diese Erzgauner, Diebe und Spitzbuben wollen nur die einfache Gebühr bezahlen, – he? was sagt Ihr? Geburt ist Geburt, schreien sie, auf die Zahl kommt's nicht an, und wenn's ihrer neun wären, wie in der Hundehütte oder im Schweinestall, wär's auch nur immer eine. He? Wie gefällt Euch das? Und zwischen den beiden Würmern war 'ne Pause von 'ner halben Stunde, – he, was? Einfache Gebühr! Als ob mir schon je einer so 'was geboten hätte! Und dafür in Nacht und Nebel sich die Glieder lahm fallen? Pfui!« Sie spuckte aus. »Nicht für hundert Lire wär' ich in der Räuberhöhle die Nacht geblieben. Was sie mir vorgesetzt haben? Spaghetti mit Pomi D'oro! Wenn man einen ganzen geschlagenen Sonntag, ohne in die Messe zu kommen, wie ein ehrlicher Christenmensch sonst, dazu verbrauchen muß, zwei Würmern –«
»Nun kommt nur, kommt, Sora Gioconda,« unterbrach sie Severo, »es wird Zeit. Wollt Ihr mir die Hand geben? Oder soll ich Euch führen?«
»Ah! Ihr seid's, Sor Severo?«
»Ja. Ich habe meine Frau aus Campino zurückgeholt, wo sie zum Besuche war. Und wir möchten nach Hause. Es war ein weiter Weg und die Sonne heiß. Wir sind müde.«
»Heiliges Erbarmen! Müde! Und Ihr seid beide jung und habt nichts getan, als Eure Füße gebraucht. Aber ich – in meinem Gewerbe braucht's Kopf, versteht Ihr? Mit den Fäusten allein ist da nichts zu machen. Und dann kaum ein Glas Wein zur Erquickung. Und die Spaghetti waren kalt, – versteht Ihr das? Auch die Spaghetti waren kalt! In das Nest da oben bringen mich zehn Pferde nicht wieder herauf. Lauter Diebe und Mörder. Sollen sich selber eine bezahlen, die ihnen zur Hand geht, wenn sich dies Gezücht denn durchaus noch vermehren muß. Ich hab' an denen von Borgunto gerade genug, – heilige Barbara! Über die wird ja nächstens auch noch Pech und Schwefel herabregnen müssen, denn die Nachsicht und Barmherzigkeit des Himmels mit ihren Schandtaten dürfte endlich erschöpft sein. He? Ihr wißt wohl noch gar nicht, was geschehen ist? Und Sora Fina spricht überhaupt kein Wort? He? Haben sie Euch da oben die Stimme einrosten lassen? Gibt's noch viele Wölfe in Campino? Warum habt Ihr mir nicht einen mitgebracht? He? Diese Idee, nach Campino zu gehen!« Sie lachte höhnisch, stolperte mehrmals, ließ die verschiedenartigst gefärbten Laute von Zorn, Angst und Entsetzen hören und klammerte sich dazwischen immer wieder mit beiden Händen krampfhaft an Severos Arm, um ihn dann fluchend abermals loszulassen.
»Was ist denn geschehen?« fragte Serafina. »Haben sie den Mörder Aristide Vomeros endlich gefunden? Hat Adriano Micca gestanden?«
Nun blieb Sora Gioconda mit den beiden eingestemmten Armen stehen und schlug eine rauhe Lache auf. »Ja, sieh mal einer an! Hat sich 'was! Adriano Micca! Das wär' Euch wohl recht gewesen, Täubchen? He? In Campino halten sie wohl nicht viel auf Recht und Gerechtigkeit? Und was in der Welt passiert, erfahren sie wohl alles erst ein Jahr später? Haben zu viel mit der Wolfsjagd zu tun, nicht? Adriano Micca! Ja wohl, ja wohl! Morgen sitzt der wieder in seinem Weinberg und beschneidet seine Reben. Aber wer d'ran glauben muß, – wenn sie ihn fangen nämlich, denn auf und davon ist er, und überall hetzen die Gendarmen ihm nach, – wer d'ran glauben muß, mein Täubchen, ist Euer einarmiger Galan, der sehr ehrenwerte Sor Pietro Mariani, der Freund des Herrn Brigadiers und aller Behörden, auch des Herrn Kuraten und der hohen Geistlichkeit, – und nun gar der Eure, nicht wahr? Ja, der arme Sor Pietro. Denkt einmal an! Solch ein reicher Mann, solch ein biederer Mann, solch ein beliebter Mann! An dem die tugendhaftesten jungen Ehefrauen ihren Narren fraßen und zu Sünderinnen wurden, – so hat man wenigstens gesagt, ich weiß ja natürlich nichts davon, ich kümmere mich um so 'was nicht, und was meine Augen gesehen haben, geht meinem Mund noch lange nichts an, – noch lange nichts. – Ihr seid doch nicht etwa rot geworden, mein Täubchen? Heiliges Erbarmen, es ist gut, daß es so dunkel ist, es ist wirklich zu manchen Dingen gut. Aber auf Euch war es doch wahrlich nicht gemünzt, Sora Fina, an Euch wagt sich niemand. Und man kann einen Galan haben in allen Ehren, man kann einen haben, dem man keinerlei Rechte einräumt, das versteht sich, damit ist noch gar nichts gesagt. Und wenn er nur einen Arm hat, – um so besser, natürlich: um so besser –«
»Ihr wolltet uns erzählen, Sora Gioconda,« fiel Severo hier endlich ein, da sie einmal Atem schöpfen mußte, »wie es herausgekommen ist, daß Pietro Mariani – Ihr begreift: es klingt so ungeheuerlich und unglaublich – Und wir, die wir heute –«
Die Alte ließ einen fluchenden Ton hören. »He? Unglaublich, sagt Ihr, Sor Severo? Ja, da geschehen noch viel unglaublichere Dinge in der Welt, Ihr liebe Unschuld! Und die man für die Besten und Bravsten gehalten hat, das sind in neunzig Fällen auf hundert die ausgemachtesten Schurken. Solltet Ihr das noch nicht wissen, Ihr neugeborenes Kind? Heilige Barmherzigkeit, ich könnte Euch Beispiele davon erzählen, – Beispiele –«
»Wenn Ihr uns nur erst einmal erzählen wolltet, wie Pietro Mariani –«
Die Alte wurde giftig. »So? Also es eilt Euch? Sieh 'mal einer an? Habt Ihr vielleicht mit ihm unter einer Decke gesteckt, daß Ihr gar so pressiert seid? Die liebe Neugier! Habt ihn vielleicht heimlich in Campino versteckt? He? Seht Euch vor, daß Euch die Gendarmen nicht aufgreifen als Komplicen und Hehler, meine lieben Kinder, seht Euch vor! Denn viel Umstände werden sie jetzt nicht mehr machen, wo sie sich vor Grimm mit den Fingernägeln die Haut blutig kratzen, daß ihnen der Vogel im letzten Augenblick nun doch noch entwischt ist, wo sie endlich den richtigen zu haben dachten. Ja, man muß früh aufstehen, wenn man so einen fangen will, der in allen Weltteilen das Fliegen gelernt hat. Und Pippo Lamberti hätte auch 'was Klügeres tun können, als daß er zu ihm gegangen ist und ihm gesagt hat, wenn er Adriano Micca nicht noch am heutigen Tage frei nach Borgunto zurückkehren sehe, würd' er dem Herrn Brigadier ein Geschichtchen davon erzählen, wie Aristide Vomero ums Leben gekommen sei, keine Stunde würd' er länger damit warten. Wie sollt' er Adriano Micca denn wohl freimachen, der einarmige Hallunke? Versucht hatte er das ja längst auf hundert Arten, offen und heimlich, so angst und bange wie ihm war, der könnte alles ausschwatzen, was er wußte, in seiner Furcht, sonst aus die Galeeren zu kommen. Bestechung hatt' er versucht, – auf Geld kam's ihm ja nicht an, dem dreifachen Spitzbuben, – und Lügen – ganze Lügengewebe, – und Gewalt, und ich weiß nicht was alles! War ihm ja furchtbar gegen den Strich gegangen, daß sie Adriano Micca schließlich doch noch eingeschlossen hatten, – bloß um nur einen zu haben, – nachdem sie ihn, wie alle andern, schon einmal freigelassen hatten, und er, der Einarmige, gemeint hatte, nun wär' alle Gefahr vorüber und er könnt' wieder das Großmaul spielen, wie früher, er, der Freund des Herrn Brigadiers und des Herrn Kuraten. Muß ihm ja wie ein Schlag auf den Kopf gewesen sein. Und er hat wohl immer noch gemeint, zuletzt ließen sie Adriano Micca doch frei oder er, der Einarmige, könnt' einen anderen Unschuldigen verdächtigen oder Gott weiß was. Wie aber Pippo Lamberti nun mit seiner Drohung gekommen ist, – denn daß Pippo Lamberti keinen Spaß versteht, weiß jedes Kind, – hat er die Flinte nur gleich ins Korn geworfen und ist auf und davon. Was war denn auch jetzt noch zu tun? Adriano Micca freimachen? Wie denn? Womit denn? War ja alles fehlgeschlagen, was er versucht hatte. Und Pippo Lamberti war damals dabei gewesen, wie er Aristide Vomero niedergestochen hatte, – aus Rache, aus Eifersucht, aus Jähzorn, – was weiß ich? Und Adriano Micca wußte es auch, daß er's gewesen war und kein anderer. Und sie hatten schwelgen wollen, – natürlich hatten sie schweigen wollen. Wer wird denn mit den Sbirren gemeinschaftliche Sache machen? Nur ihnen selber dürft' es nicht an den Fragen gehen, – das nicht. Sonst – he? Und da ist er eben auf und davon, der Vogel. Als der Herr Brigadier in eigner Person gekommen ist, um seinen lieben Freund zu verhaften, ist das Haus leer gewesen, und die alte Ottilia hat dem Herrn Brigadier gesagt. »Müßt schon anderswo nach ihm suchen, Sor Brigadiere; läßt Euch schön grüßen, der Sor Pietro, aber es gefiel' ihm nicht mehr in Toskana, er müßt' schon andre Luft haben.« Nun, was sagt Ihr? he? Gefällt Euch das Geschichtchen, Sora Fina?«
Serafina murmelte nur etwas Undeutliches als Antwort. Aber ihr Arm hatte sich fester in den Severos gehängt, an dessen andrer Seite Sora Gioconda stolpernd, schimpfend und fauchend talab wankte. Auch Severo blieb stumm. Sie hörten beide kaum mehr auf das, was die Alte unter allerlei Flüchen und merkwürdigen Lauten des Zorns und der Erbitterung ausstieß, sondern atmeten sichtlich erleichtert auf, als sie nun endlich ihr Haus erreicht hatten. Sora Gioconda fing hier zwar noch eine längere Rede über die beispiellose Rücksichtslosigkeit an, daß man sie von hier aus allein nach Borgunto hinabgehen lassen wolle, und machte Severo für jedes ihrer gebrochenen Gliedmaßen vor dem weltlichen und dem himmlischen Richter gleichzeitig verantwortlich, aber dieser umfaßte leicht ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: »Laßt's gut sein, Sora Gioconda, wir werden noch die besten Freunde. Bald kommt Ihr zu uns!«
Und damit drehte er sie um und setzte ihre schwerfällig watschelnde Gestalt durch einen gelinden Stoß langsam bergab In Bewegung. Ihr Rufen, Fragen und Schelten verhallte unter seinem immer wiederholten, fröhlich-übermütigen, halb singenden Tons ausgestoßenen: »Guten Abend, Sora Gioconda! Auf Wiedersehen, Sora Gioconda! Geruhsame Nacht, Sora Gioconda!«
»Aber Severo!« sagte Serafina endlich halb lachend, halb vorwurfsvoll.
»Laß doch!« rief er. »Morgen weiß ganz Borgunto, daß wir nicht allzulange mehr allein hier hausen werden, Ima!«
Und aufjauchzend schlang er seine beiden Arme um Serafinas Leib und trug sie ins Haus.