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Zweites Kapitel.

Als er aufwachte, merkte er aus dem grauen Morgenzwielicht, das durch die Fensterluke hereindrang, es sei Zeit zum Aufstehen; denn der Weg bis zu den Steinbrüchen hinab war weit, und die Arbeit begann früh. Er wunderte sich, daß Serafina ihn nicht, wie sonst zumeist, geweckt hatte. Ein Blick auf ihr Lager überzeugte ihn davon, daß sie fort war. Und doch hörte er sie, den Oberleib aufgerichtet, lauschend, nicht in der Küche hantieren, vernahm überhaupt keinerlei Geräusch im Hause. Das befremdete ihn, und langsam erhob er sich.

Als er in die Tür trat, um nach Serafina auszuschauen, kam sie mit der Trage, an der die beiden wassergefüllten Kupferkessel schaukelten, von draußen herein. Sie hatte weit bis zum Ziehbrunnen und er begriff nicht, warum sie jetzt gegangen war, Wasser zu holen. Morgens nahm er nichts Warmes, ehe er fortging, denn man mußte die Feuerung sparen, und Brot und Wein für ihn waren noch nicht einmal bereit.

Sie schien sein Erstaunen zu bemerken, trotzdem sie ihn nicht ansah, denn sie sagte:

»Ich dachte, du würdest dich heute ganz waschen wollen, – alles waschen wollen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum? Nein. Ich habe mich schon gewaschen.« Er verstand sie noch immer nicht.

Sie nickte. »Dann ist's für die Küche. Es geht in einem hin.« Und sie ging an ihm vorüber.

Es fiel ihm auf, daß ihre Stimme wunderbar sanft geklungen hatte, ganz anders, als sonst. Und daß sie es beharrlich vermieden hatte, ihn anzusehn. Das machte ihn unruhig, eines wie das andere. Er hätte sie lieber so stolz, herb und hochfahrend gesehn, wie gestern abend noch, wie überhaupt in dieser letzten Zeit. Ihre demütige Haltung vor ihm peinigte ihn. Sie sah ihr so gar nicht ähnlich, sie redete von einem Schuldgefühl, an das er nicht glauben wollte, das ihn wahnsinnig hätte machen können. Und diese Nacht, – was konnte denn diese Nacht in ihr geändert haben?

Finster brütend saß er am Holztisch in der Stube, als Serafina mit Wein und Brot zurückkam. Nun er voll seinen Blick auf sie richtete, sah er, daß sie bleich und übernächtigt aussah und daß ihre Augen sonderbar glänzten und glühten. Auch jetzt war ihre Haltung demütig und auch jetzt vermied sie es, daß ihre Augen einander begegneten. Und er, der ihr soviel zu sagen gehabt hätte, sprach kein Wort, ließ sich von ihr bedienen, aß und trank alles hastig in sich hinein und eilte sich, fortzukommen. Einmal über dem Trinken hatte ihn ein wahnwitziger Drang angepackt, aufzuspringen, sie mit beiden Händen an den Schultern zu rütteln und ihr zuzuschreien: »Sag' mir alles, sag' mir, ob du dich vergangen hast!« Aber er unterdrückte es, er zwang es nieder. Heute mußt' es ja ohnehin zu Ende kommen. Und aus ihrem Munde – nein, aus ihrem Munde wollt' er es nicht hören. Das hätte sich nie wieder vergessen lassen. Nicht einmal, wenn alles vorüber war, wollt' er Aufklärung darüber.

Er trank sein Glas heute nicht leer, stand mit gefurchten Brauen auf und suchte sein Handwerksgerät zusammen. Als er schon den Hut auf dem Kopfe, den Sack zwischen den Schultern und die Spitzhacke in der Hand hatte, rief sie plötzlich: »Severo!«

»Was ist?« Er drehte sich kaum nach ihr um.

Nun schien sie wieder vergessen zu haben, was sie hatte sagen wollen, oder bereute es nachträglich oder hatte auch nur instinktiv seinen Namen gerufen, ohne eine besondere Mitteilung für ihn auf dem Herzen zu haben. Denn sie sagte nichts mehr. Der Ruf aber hatte angstvoll und flehend zugleich geklungen, als ob sie ihm hätte klarmachen wollen, daß sie für ihn fürchte und daß er so nicht von ihr gehen möge. Severo deutete ihn aber nicht so und wußte nicht, weshalb sie ihn gerufen hatte. Oder er meinte, sie sorge sich um Aristide Vomero. Wenn sie seine Gedanken hätte erraten können, würde sie ja freilich Recht gehabt haben. Und das wollte sie doch wohl, hatte es heute Nacht auch gewollt, als sie sich über ihn gebeugt hatte; vielleicht hatte er im halben Schlaf vor sich hingesprochen und sie hatte ihm die Worte von den Lippen ablauschen wollen. Er sah sie groß an.

»Ich dachte, du hättest kein Brot mitgenommen,« sagte sie stotternd.

»Ja, ich habe Brot mitgenommen,« versetzte er, rückte sich den Sack höher herauf und ging. Erst unter der Haustür rief er ihr ein »Lebewohl« und »Auf Wiedersehen« zu. Dann klangen die Schritte seiner eisenbeschlagenen Schuhe schon draußen auf dem harten Fels, und rüstigen Ganges eilte er talab. Nicht ein einziges Mal blickte er sich um; er wußte gar nicht, daß sie vor der Haustür stand und ihm nachsah, – noch lange, nachdem er drunten an der Wegbiegung schon verschwunden war.

Dann ging sie ins Haus und machte sich an seinem Bett zu tun. Sie suchte dort nach etwas. Aber sie fand nichts. Auch das Waschwasser betrachtete sie aufmerksam, ehe sie es fortgoß. Sie schüttelte dabei den Kopf vor sich hin, spähte auf dem Fußboden umher, immer zwischen der Haustür und Severos Lager, und lächelte endlich: »Er hat es klug gemacht«, dachte sie, »nirgends ein Blutfleck. Und sein Messer wird er am Brunnen gereinigt haben, ehe er es wieder einsteckte.«

Sie wurde jetzt ganz ruhig. Es tat ihr nur leid, daß sie ihn so fortgelassen hatte. Sie hätte ihm zeigen sollen, wie glücklich sie war und daß nun alles wieder gut war, – daß sie ihn mehr liebte als je. Aber trotz ihrer demütigen Haltung, zu der diese jäh wieder aufflammende, zärtlich-dankbare Liebe sie gezwungen hatte, war immer noch zu viel scheuer Stolz in ihr gewesen. Vor dem, der wie ein Mann gehandelt und ihre Ehre vor aller Welt reingewaschen hatte, beugte sie sich, aber gegen den, der an ihr gezweifelt hatte, war immer noch ein heimlich glimmender Groll in ihrer Seele. Dennoch war sie voller Sehnsucht nach ihm.

Als sie das Hauswesen gerichtet hatte, kauerte sie sich auf der Hausschwelle nieder und nahm ihre Flechtarbeit auf. Morgen war Ablieferungstag und sie hatte in der letzten Zeit wenig fertig gebracht, heute mußte sie fleißig sein. Das Bündel schwarzgefärbter Strohstreifen lag zu ihren Füßen, und ihre Finger regten sich geschäftig.

Ihre Gedanken aber waren nicht bei der Arbeit. Sie wartete auf etwas. Und je weiter der Tag vorrückte, ohne daß irgend etwas sich ereignete oder jemand sie in ihrer Einsamkeit aufsuchte, desto mehr wunderte sie sich. Sie wurde allmählich sogar unruhig dabei. Sie versuchte zu singen, aber das, was ihr einfiel, schien ihr alles ungeeignet. Sie rückte auf ihrem Platze hin und her, stand auch einmal auf und spähte, die Augen gegen die immer höher heraufkommende Sonne mit der Hand schattend, den Weg zum Dorfe hinunter. Dann, als niemand kam, setzte sie sich wieder und sang nun doch. Aber es war eher ein Abschreien des Liedes, als ein Singen. Bis weit gegen die zerklüftete Felswand herauf erscholl es:

»Was wirft er sein Aug' auf die Eine, die mein?
Er sollte doch wissen, es darf nicht sein,
Er sollte doch wissen, es tut nicht gut
Und mein Messer ist scharf und heiß mein Blut;
Er sollt' es doch wissen, – doch wissen.« –

Ein paarmal kamen Leute an ihr vorüber, aber die zogen droben vom Gebirg ins Dorf herunter, die konnten noch von nichts wissen. Sie blieben auch wohl stehen und schwatzten mit ihr, aber Serafina gab zerstreute und einsilbige Antworten. Das lag ihr alles so fern, wovon man zu ihr redete, das kümmerte sie alles so wenig. Und eins von den Weibern sagte einmal aufseufzend: »Ja, ihr habt's gut. Mit Euch möcht' man schon tauschen.« Darauf erwiderte sie: »Ja, ich hab's gut, jetzt hab' ich's gut.« Und dann war sie wieder allein und sang und die Sonne stieg.

»Sora Fina! Sora Fina!«

»Er sollt' es doch wissen – doch wissen,« sang Serafina in lang ausgedehnten Kadenzen.

»He! Wollt Ihr den lieben Gott um seine Mittagsruh' bringen, Sora Fina? Oder werdet Ihr bezahlt, um die Spatzen aus den Erbsen zu scheuchen? Heiliger Sebastian, ist das ein Geschrei! Und für das, was in der Welt vorgeht, habt Ihr natürlich nicht Aug' und nicht Ohr. Neben Euch kann ein Christenmensch den anderen abschlachten, Euch ist's recht, wenn Ihr bloß schreien könnt, daß die Grillen vor Angst das Zirpen vergessen. Ist so was schon dagewesen?«

Die stattliche, breitschultrige Person stand mit eingestemmten Armen da, keuchend von der Anstrengung des Aufstiegs und mit bebendem Unterkiefer. Die Augen quollen ihr vor Neugierde, Zorn und verhaltener Redelust beinahe aus den Höhlen.

»Ach, Ihr, Sora Gioconda! Geht nach Siriano hinauf, wieder ein Mensch mehr, der auf die Welt will? Wo das nur hin soll mit all den Menschen! Die da sind, haben so schon kaum genug zum beißen.«

Die weise Frau rang nach Atem.

»Als wenn das nicht der blasse Neid aus Euch redete, Sora Fina!« sagte sie verbissen und machte so etwas, was wie ein hämischer Knix aussehen sollte, sie aber beinahe zu Fall brachte. »Aufzuwarten, ja. Wenn Ihr unsereinem das bischen Leben gönnt, müßt Ihr schon gnädigst erlauben, daß manchmal Kinder geboren werden. Ihr braucht sie ja nicht zu ernähren, so viel ich weiß, und der liebe Gott hat's nun einmal so eingerichtet. Daß Ihr nicht viel von dieser Einrichtung haltet, muß er ja wohl wissen; weil er Euch damit verschont. Und mehr als Platz haben, kommen nicht auf die Welt, da seid nur ganz ruhig. Dafür sorgen die vielen Mitmenschen schon, die selber Platz schaffen, wenn ihnen der liebe Gott nicht schnell genug bei der Hand ist. Heilige Jungfrau! Na, Ihr wißt aber natürlich nichts, wie? Was? Keine Ahnung habt Ihr? Und wenn man sich die Lunge aus dem Halse läuft und schreit, hört Ihr nicht einmal. Habt wichtigeres zu tun! Müßt gottverruchte Lieder in die Luft schmettern, daß man denkt, es stillte Euch Hunger und Durst, so eifrig betreibt Ihr's. Und unten ist alle Welt in Aufruhr. Unten schlagen sie sich tot. Unten ist ein Aufruhr, als wenn das jüngste Gericht schon da wär'. Ihr tut aber, als gehöret Ihr nicht dazu, als ginge Euch das alles gar nichts an. Seht mal an! Und mit Euch hat er doch auch schön getan, he? Ihr habt Euch doch auch von ihm sagen lassen, daß Ihr die Schönste von allen wär't, he?«

Allmählich hatte sie ihren Atem wiedergewonnen und benutzte ihn nun kräftig. Eine Flut von Fragen, Anspielungen, entrüsteten Ausrufen und jammernder Klage ergoß sich über Serafina, die ruhig weiterflocht und die Augen nicht einmal aufhob.

»Von wem und von was redet Ihr eigentlich, Sora Gioconda?« fragte sie nur nach einer Weile ruhig.

Die andere schlug die feisten Hände zusammen: »Bei allen vierzehn Nothelfern, Sora Fina, Ihr wißt wirklich nichts? Ich sag' es ja: Ihr singt und schreit Euch um alle Sinne. Und da unten, wenn Ihr's hören wollt. haben sie Aristide Vomero erstochen.«

»So?« machte Serafina ganz ruhig, »ist er tot?«

Kaum ein tieferer Atemzug hob ihre Brust.

Sora Gioconda aber rollte die Augen. »Ist das Eure ganze Grabrede? Heilige Barmherzigkeit, vergib ihr! Und solang' er am Leben war, habt Ihr getan, als hätt' ihm der liebe Gott noch extra einen Heiligenschein um seine Glatze gelegt. Die Madonna verzeih' Euch Eure Sünden!« Sie machte das Zeichen des Kreuzes.

Serafina wurde jetzt plötzlich neugierig.

»Wie ist es denn gekommen?« fragte sie. »Erzählt doch alles!« Und da ihr einfiel, daß die weise Frau aus ihrer vorherigen Ruhe Verdacht schöpfen könne, setzte sie hinzu:

»Ich habe mir's immer gedacht, daß ihn mal einer über den Haufen stechen würde. Es konnte ja gar nicht ausbleiben. Es war schon, als hätt' er's d'rauf angelegt. Hinter allen Weibern her, allen Männern freche Worte in die Zähne geschleudert, – er muß gedacht haben, es könnte keiner an ihn oder er wäre hieb- und stichfest. Mich wundert's nicht, daß es ein Ende mit Schrecken genommen hat. Aber wer hat's getan?«

Sie hatte einen Augenblick das Flechtwerk zwischen den Händen ruhen lassen, und ihr forschender Blick flog über das fette, verrunzelte Gesicht der andren hin, ehe sie es wieder aufnahm.

Sora Gioconda stöhnte. »Wer es getan hat? Und das fragt Ihr mich? Bin ich eine Gerichtsperson? Ober treib' ich mich nachts in den Osterien und auf den Gassen umher? Mein seliger Biago hat auch nie zur Polizei gehört, – Gott weiß es. Und wenn ich auch von der Kommune angestellt bin, für so etwas brauch' ich nicht aufzukommen. Heilige Gerechtigkeit! Wer es getan hat! Ein Mensch hat es getan, so viel steht fest. Denn von selbst ist ihm das Messer nicht in die Rippen geraten, darauf kann man wohl schwören. Aber welcher Mensch, das müßt Ihr den lieben Gott fragen, wenn Ihr noch an einen glaubt. Bezweifeln könnte man's ja, weil Ihr so kaltblütig sagt, es war nicht anders zu erwarten gewesen. Also jeden Schürzenjäger und Maulhelden soll man nach Euch gleich niederstechen dürfen, wie ein vierwöchiges Kalb! Erbarmen! Ich möchte wissen, wie viele dann noch übrig bleiben. Besser als Aristide Vomero sind die Männer im großen und ganzen nicht, Sora Fina, so viel könntet Ihr wissen. Und solange er am Leben war, habt Ihr Euch seine süßen Worte doch recht gern gefallen lassen, Ihr und andere. Aber wenn ein Tier gefallen ist, gleich sammeln sich die Aasvögel. Und daß solch eine hinterlistige Bluttat gleich auf den ganzen Ort Schande bringt, wollt Ihr nicht begreifen. Wir hier sind doch sonst nicht so rasch mit dem Messer, solltet Ihr bedenken. Wir Toskaner halten was auf Bildung. Und wer so nah' der Hauptstadt wohnt, lebt nicht mehr wie die Wilden. Wenn sie was gegen ihn hatten, hätten sie ihm den Prozeß machen sollen. Aber einen Menschen abschlachten, wie einen Hammel – und in der Betrunkenheit ihn in die ewige Verdammnis abfahren lassen – ewiges Erbarmen! Nein, wenn Ihr dafür ein Wort der Entschuldigung habt, Sora Fina –« Die Stimme schnappte ihr über.

Serafina hatte ein paarmal ungeduldig mit den Achseln gezuckt. Ihr war aber so frei und leicht zumute, daß sie nicht auffahren konnte, sondern nur Mühe hatte, ihre Genugtuung geheimzuhalten. Selbst die Schwatzsucht dieser gefürchteten Alten, von der man in der ganzen Gegend sagte, keine weltliche oder geistliche Macht könne ihr widerstehen oder gar den Sieg über sie erringen, war ihr heute nicht so lästig wie sonst. Sie hätte gern noch einmal ihr Lied hinausgeschmettert; nun fragte sie nur:

»Heute nacht ist's geschehen?«

»Bei hellem Tage werden sie über niemanden herfallen,« erwiderte die Alte höhnisch, »soviel könntet Ihr Euch an den Fingern abzählen. Und bei Tage wird er sich auch nicht um Kraft und Verstand trinken, sonst wär' er längst um sein gutes Brot gewesen. Auf der Salita Santa Maria ist's gewesen, wo sie ihn heute morgen gefunden haben, – schon ganz steif und kalt. Und bis über Mitternacht hinaus hat er im »Silbernen Mond« gesessen, – nun reimt's Euch zusammen! Und wenn Ihr klüger draus werdet als ich und wir alle, geht zum Karabiniere und steckt ihm ein Licht auf! Sonst tappt der im Dunkeln, wie die ganze Gesellschaft, so rot seine Nase vom Chianti auch leuchtet. Einem, der seinen Fiasco Roten im Leibe hat und in der Nacht über die Salita Santa Maria ganz allein nach Hause torkelt, ein Stück kaltes Eisen zwischen die Rippen rennen, ist gerade kein solch schwieriges Heldenstück, daß man sagen müßt': der oder der hat's getan und kein anderer kann's getan haben. Lieber Gott, nein. Und vom bloßen Umfallen ist er auch nicht hin geworden, wenn's auch Beulen genug gegeben hätt' auf den holprigen Steinstufen und es eine Sünde und Schande ist für eine Kommune, die so unmenschliche Taxen erhebt, nirgends bei Nacht die halsbrecherischen Gassen auch nur mit dem fadendünnsten Lichtchen zu erhellen, denn die Wunde klafft offen vor aller Augen. Gerade ins Herz ist der Stoß gegangen. Und bei der Rabenfinsternis ist das alles mögliche, so gut zu zielen. Gleich fertig muß er gewesen sein, denn kein Mensch hat einen Schrei gehört. Und das Messer ist nicht gefunden worden. So! Nun pfeif einmal einer dem blutgierigen Untier nach. Ewige Barmherzigkeit! Messer giebts viele in Borgunto.«

Serafina hatte die Flechtarbeit wieder einen Augenblick ruhen lassen.

»Man wird's also nicht herausbringen,« sagte sie, auf ihre Hände niederblickend, mit nachdenklicher Befriedigung. Und nach einer kleinen Pause fügte sie aushorchend hinzu:

»Verdacht wird man aber doch wohl haben, he, Sora Gioconda? Ein Streit gestern abend in der Osteria? Die machen sich immer die Köpfe gleich so heiß im »Silbernen Mond«. Severo geht nie mehr hin.«

»Severo – Sor Severo!« lachte die Alte und knixte ungeschlacht. »Wer würd' ihm denn das auch zumuten, diesem Muster-Ehemann? Ja, wenn sie alle wären, wie der, die Männer! Den habt Ihr gut im Zügel, Frauchen, – meine Reverenz! Was ist aus dem wilden Burschen von früher für ein zahmes Männchen geworden! Läuft Euch ja wohl kaum von der Schürze, he? Nein, seid ruhig, Töchterchen, seid ganz ruhig, den verdächtigen sie Euch nicht, den nicht. Eher glauben sie, das Messer wär' vom Himmel herunter gefallen.«

Sie lachte aus vollem Halse, fast bis zum Ersticken.

Serafina hatte ein peinliches Gefühl bei diesem unerwarteten Heiterkeitsausbruch, aber sie ließ sich nichts merken, sondern nahm ihre Arbeit wieder auf.

»Ihr kennt ihn auch gerade recht!« murmelte sie nur in wegwerfendem Ton.

»Nun, nun, nun,« begütigte die weise Frau und legte ihr die kurzen, fleischigen Finger auf die Schulter. »Ihr braucht's nicht gleich krumm zu nehmen. Ist ja ein Segen Gottes, daß es solche Männer noch gibt. Und wenn er Euch nicht zu zahm ist, – den andern kann's recht sein. Wer nicht mit ihnen trinkt und wem das Messer nicht locker im Gurt sitzt, den seh'n diese Raufbolde und Tagediebe ja nicht mehr für voll an, das braucht einen nicht zu grämen. Laßt sie doch witzeln: Sorgt nur dafür, daß ich bald bei Euch im Hause zu tun bekomme, dann könnt Ihr sie alle auslachen. He? Immer noch keine Aussichten?«

Sie hatte sich vertraulich schmunzelnd ganz zu Serafina herabgebeugt und ihr den Hals mit beiden Armen umschlossen. Aber diese wehrte sie unmutig ab. »Ich denke, Ihr habt oben in Siriano zu tun, Sora Gioconda. Ich möchte nicht schuld daran sein, daß dort ein Unglück geschieht, weil Ihr nicht rechtzeitig zur Stelle wärt'.«

Die Alte pfiff durch die breitklaffenden Lücken ihrer starken Vorderzähne. »Sieh' mal einer an! Die alte Sora Gioconda an ihre Pflicht mahnen! Ewiges Erbarmen! Hat seit dreißig Jahren allen Kindern hier oben, im Umkreis von fünf Miglien und mehr zur Welt geholfen, und solch ein grünes Pflänzchen von außerhalb will ihr klarmachen, was sie zu tun hat. Nicht übel, Töchterchen, nicht übel. Man sieht, Ihr habt Euren Severo in einer guten Schule gehabt, deshalb ist er auch so trefflich geraten. Aber ich will um keinen Preis Euch Eure Zeit rauben, hochgeborene Dame« – sie knixte wiederholt – »es würde mir leid tun, wenn das neue Unterröckchen für euren Severo nicht rechtzeitig fertig würde. Heilige Dreifaltigkeit!« Und durcheinander lachend, brummend, pfeifend stieg sie schwerfällig und breitschultrig den schmalen Bergweg weiter hinauf, ohne Serafina noch einen Gruß gegönnt oder sich nach ihr umgeblickt zu haben.

Serafina's Stirn blieb ein paar Minuten lang umwölkt, trotzdem ein freudiges Hochgefühl in ihrer Seele wach war. Es wurmte sie, daß niemand Severo die Tat zutraute. Und auch was man sonst von ihm redete, war ihr peinvoll. Es währte einige Zeit, bis sie sich sagte, was diese berüchtigte Schwätzerin daherrede, dürfe niemand ernsthaft nehmen, und selbst dann blieb ein geheimer Stachel noch aus dem zurück, was sie vernommen hatte. Sie mußte sich zwingen, weiter zu arbeiten und dabei zu singen. Erst allmählich gewann die Freudigkeit wieder die Oberhand in ihr. Es war geschehen, er hatte getan, was er gemußt. Nun war alles gut, nun konnten sie wieder glücklich sein, wie früher. Und daß kein Verdacht auf ihn fiel, schuf ihnen ja vollends die Gewähr sorgenfreier Tage. Heller und lauter scholl ihr Gesang. Wenn Severo nur hier gewesen wäre! Ein heißes Verlangen war in ihr, ihm an der Brust zu liegen, wortlos und selig. Und weit über's Tal hin klang es jetzt von ihren Lippen, wie aufquellender Jubel:

»Als ich damals dich sah, wie liebt' ich dich heiß.
Doch ich liebe noch mehr dich, seit mein ich dich weiß!«


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