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Als Severo draußen war und in der Dunkelheit mechanisch seinen Heimweg antrat, schwindelte ihm. Er fühlte sich um nichts freier und leichter. Nur neue Skrupel drängten sich an ihn heran. Was das alles nun wieder gewesen war! Man konnte nur denken, daß der Priester selbst nicht ein noch aus wußte und lieber noch ihn, Severo, ans Messer liefern wollte, da er doch sündige Gedanken gehegt hatte, als daß ein ganz Unschuldiger litt. Aber warum glaubte Padre Gioacchino nicht an Serafinas Schuld und warum wollte er ihm einreden, Serafina sei weggegangen, weil sie ihn, Severo, für den Mörder halte? Serafina hatte doch das nicht etwa dem Priester selbst eingeredet? Sie habe ihm garnicht gebeichtet, hatte der ja gesagt. Immer verwickelter, immer rätselvoller erschien für Severo alles Geschehene. Ja, wenn Serafina unschuldig gewesen wäre! Aber was zeugte nicht alles wider sie! Auch mit dem Einarmigen, den sie ja haßte, hatte sie sich doch nicht eingelassen, wenn nicht Furcht und Schuldbewußtsein sie drückten.
Er war an das Madonnenbildnis in der Mauernische gekommen und warf sich dort nieder, um zu beten. Er betete so inbrünstig, wie nie in seinem Leben, und es tat ihm wohler, als die Beichte vor dem Priester, der ihm nicht helfen konnte. Den ganzen Abend dachte er daran, daß Padre Gioacchino von ihm verlangte, er solle sich selber anzeigen. Wie konnte ein Priester verlangen, daß er lügen sollte? Zum Märtyrer fühlte er sich doch weder berufen noch verpflichtet. Und wenn er selber auch gleichfalls daran gedacht hatte, so war es doch nur gewesen, um für Serafina zu büßen, und Padre Gioacchino glaubte ja garnicht an Serafinas Schuld. Der hielt ihn für den Mörder. Nach allem, was Severo ihm gesagt hatte, war das seltsam genug. Er mußte wohl schon vorher diesen Gedanken gefaßt, ihn von andern eingeblasen bekommen haben und konnte nun nicht mehr davon los. Sonst begriff sich's nicht. Und wer konnte dafür gesorgt haben, daß dieser wahnsinnige Verdacht in dem Priester aufgetaucht war, wenn nicht der Einarmige, – dieser dreifache Schurke und hinterlistige Schleicher?
Severo hatte ihn lange nicht mehr gesehen, fast kam's ihm vor, als ob Pietro Mariani ihn miede. Und er mochte begreifen, daß er alle Ursache dazu hatte. Oder wühlte er im Geheimen gegen ihn, weil Serafina, die er schon für seine sichere Beute gehalten hatte, ihm nun doch entschlüpft war und er Severo für schuld daran hielt? Und wollte ihn nun zur Strafe dafür und für seine Drohung, die den Feigling schreckte, heimlich vor den Leuten zum Mörder machen, – hatte das bei dem Priester gar schon erreicht? Manchmal war es Severo in diesen letzten Tagen ohnehin vorgekommen, als ob die Leute ihn selbst mit sonderbaren Augen betrachteten, sich dann abwandten und einander scheu ansahen. In seiner Verwirrung und Betäubung hatte er kaum darauf geachtet; seit Serafina fort war und ihn seinen quälerischen Grübeleien und Zweifeln so ganz allein überlassen hatte, wußte er manchmal überdies nicht, was wirklich und was bloß seine Einbildung war. Jetzt, wo ihn der Priester hatte merken lassen, er halte ihn für den Mörder Aristide Vomeros, fiel's ihm auf die Seele, daß auch wohl andre noch denken möchten wie der, und ein heißes, peinliches Erschrecken überfiel ihn, das ihn auch die ganze Nacht nicht freiließ, sondern in Schlaf und Traum verfolgte.
Als er sich am andern Morgen beim Aufstehen in dem kleinen Wandspiegel betrachtete, kam er sich merkwürdig verändert vor. So hatte er doch früher nicht ausgesehen, solche Augen hatte er garnicht gehabt. Eine fromme Scheu bewältigte ihn. Gestern hatte der Priester zu ihm gesagt, er solle hingehen und sich dem Gericht anzeigen, weil der Priester ihn für Aristide Vomeros Mörder hielt. Und seit gestern sah er anders aus als sonst, gerade als ob er durch den Priester gezeichnet worden wäre. Durch den Priester oder durch die heilige Jungfrau, – das war eins. Er bekreuzte sich. Wenn er doch aber der Mörder garnicht war. – Wollte die Gottesmutter wirklich, daß er hinging und sich des Mordes bezichtigte? Weil er ihn geplant gehabt hatte? Weil er Serafina gezwungen hatte, durch sein Benehmen, seinen Verdacht, seine Eifersucht gezwungen hatte, ihn zu begehen? Weil der Priester und alle Welt dachte, Serafina sei bloß von ihm gegangen, da sie ihn für den Mörder hielt? Severo griff sich wieder, wie gestern, an den Kopf. Ihm schwindelte, ihn brachte das alles noch um seinen Verstand. Konnte die Jungfrau Maria das denn wirklich wollen? Er sollte für Serafina büßen? Gedacht hatte er ja freilich selber schon daran. Und woher hätte dieser Gedanke ihm gekommen sein sollen, wenn nicht von ihr? Er hatte ja so vieles gutzumachen, und im Gefängnis büßte heute ein Unschuldiger für Serafina. Und Serafina war verschwunden, vielleicht garnicht mehr am Leben.
Wieder stürmte alles das auf ihn ein und entzündete einen irr lodernden Brand in seiner Seele. Bevor er an die Tagesarbeit ging, warf er sich noch einmal vor dem Madonnenbildnis nieder und betete! Wie ein Traumwandler, von allerlei Visionen und inneren Stimmen geplagt, die er nicht bannen konnte, kam er in die Steinbrüche. Heute sah er selber alle Menschen scheu, beobachtend, wie durch einen Schleier, der vor seinen Augen lag, an. Wichen sie ihm nicht aus? Machten sie sich nicht heimliche Zeichen, winkten sich mit den Augen zu, tuschelten über ihn? Also wirklich: auch noch andere hielten ihn für den Mörder. Warum denn nur? Anfangs hatten sie es doch nicht getan, hatten gelacht und gejohlt, als man ihn mit den anderen zum Verhör abgeholt hatte. Stand es denn nun plötzlich in seinem Gesicht geschrieben, er sei es doch? Aber wie war denn das möglich? Er hatte den Mord ja doch garnicht begangen. Oder – er strich sich übers Gesicht hin. Schließlich würde er selber nicht mehr wissen, was wahr und was Wahn war.
Dann hörte er bei der Mittagsrast die andern sagen, Adriano Micca habe im Gefängnis erklärt, lange halte er's nun nicht mehr aus und man möge nur nicht glauben, daß er sich werde verurteilen lassen, er kenne den Mörder ganz gut und, wenn man ihn nicht ohnedies freilasse, werde er ihn nennen, denn soweit reiche die Freundschaft nicht, daß er für einen andern auf die Galeeren ginge, das möge der Schuldige sich gesagt sein lassen und seine Maßregeln danach treffen, jedes Ding müsse seine Grenzen haben.
Der Gefängniswärter hatte das einem der Karabinieri von Borgunto wiedererzählt und durch den war es ausgekommen. Severo spürte ganz deutlich, daß die Schwatzenden ihn dabei ansahen und sich wechselseitig zuzwinkerten. Und da brach er wider seinen Willen, wie von einer inneren Macht getrieben, aus: »Wenn er den Mörder kennt, warum hat er ihn denn nicht längst genannt? Das wird nichts als eine elende Renommisterei sein, oder er will Feiglingen Furcht einjagen.«
Er wußte nicht, warum er das eigentlich sagte. Es konnte nur dazu dienen, Argwohn zu erregen; aber er hatte es nicht unterdrücken können. Die andern sahen ihn erstaunt an: »Vielleicht will er dem Mörder Zeit lassen, sich in Sicherheit zu bringen,« sagte endlich einer von den Arbeitern bedächtig.
»Wenn der nun aber schon in Sicherheit ist,« meinte Severo in trotziger Beharrlichkeit.
Die andern lachten. »Nun, dann um so besser.«
Severo begriff, daß er sich abermals eine Blöße gegeben hatte und auf ein Haar Serafina hätte verraten können. Er wußte eben selbst nicht mehr, was er redete; er hatte nur den instinktiven Drang, diesem törichten Gerede zu widersprechen. Was wußte denn Adriano Micca! Es verdroß ihn, daß der sich großtun und anderen Furcht einjagen wollte. Wahrscheinlich doch ihm, Severo. Wen konnte er sonst mit dem Mörder meinen, den er ganz wohl kenne? Alle Welt hielt ja ihn dafür, wie es schien. Und er sollte sich in Sicherheit bringen? Aber dann lag es ja am Tage, daß er der Mörder war. Und doch war er es nicht. »Nein, es ist leere Prahlerei,« sagte er noch einmal. Und damit legte er sich zum Schlafen hin.
Heute schlief er aber trotz aller Müdigkeit nicht ein, – zum erstenmal nicht, solange er denken konnte. Das ihm sich aber auch alles im Kopfe herumdrehte! Eine abergläubische Furcht beherrschte ihn. So gut der Priester und der Einarmige glaubten, er habe Aristide Vomero umgebracht, konnte auch Adriano Micca es glauben. Und wenn er Serafina nicht verraten wollte, mußte er dann um ihretwillen büßen. Wie ein weißglühender Eisenpfeil bohrte sich ihm diese Vorstellung ins Hirn. Und eine scheue Angst schlich ihm übers Herz. Fliehen! dachte er, er konnte ja fliehen. Aber damit zeigte er sich selber ebenso gut als Täter an, als wenn er aufs Gericht ging. Er stand auf, alles Blut war ihm zu Kopfe gestiegen, schlafen konnte er nicht. Er ging abseits, zog sein Amulet heraus, das er an einer Schnur auf der nackten Brust trug, und betete. Er dachte an seine Mutter, die ihm das Amulet umgehängt hatte, als er ein Kind gewesen war. Sie war immer eine sehr fromme Frau gewesen, besonders aber, seit der Vater in den Steinbrüchen durch eine zu früh explodierte Mine ums Leben gekommen war. Ihm in seiner leichtherzigen Fugend war's schier zu viel dessen geworden; aber die Mutter, die am liebsten ins Kloster gegangen wäre und nur seinethalben diesem Lieblingswunsch entsagte, hatte ihm mehr als einmal prophezeit, die Zeit würde schon noch kommen, wo er beten lernen und den Segen des Gebets erkennen würde. Jetzt erinnerte er sich besten, und ein Schauer rüttelte an ihm. Nur die Furcht, daß ihn die andern beten sehen und dann hänseln könnten oder gar neue Verdachtsgründe daraus schöpfen würden, trieb ihn vor der Zeit auf und an seine Arbeit zurück.
Auf dem Nachhausewege sahen sie Pietro Mariani, der hundert Schritte vor ihnen auf dem Wege nach Borgunto bergauf schritt. Er ging schwerfällig und mit gesenktem Kopfe, als ob er von weither käme und sehr müde sei. Als aber aus dem Trupp einer zu ihm etwas hinaufrief, beschleunigte er plötzlich seine Schritte und eilte sich, ohne zu antworten oder sich umzudrehen, den Arbeitern aus dem Gesicht zu kommen. Severo hatte abermals den Argwohn, der Einarmige wiche gerade ihm aus. Mario Lucchesi aber sagte: »Der kommt wahrscheinlich wieder aus Florenz und hat Adriano Micca im Gefängnis besuchen wollen. Der Brigadier, mit dem er ja immer zusammensteckt, will's ihm vermitteln, so strenge es auch verboten ist. Adriano Micca ist der einzige, für den der Einarmige so etwas wie Freundschaft hegt, glaub' ich. Seit es dem an den Kragen gehen soll, ist er ganz aus dem Häuschen und schimpft auf Gott und Menschen. Nicht einmal im »silbernen Mond« mehr bekommt man ihn zu sehen. Paßt auf, der bringt Adriano Micca noch wieder heraus, der bringt's fertig.«
»Geld bringt alles fertig,« sagte einer von den Arbeitern und sie gingen weiter.