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Fünftes Kapitel.

Sie gingen nebeneinander den Weg hinab, und das verworrene Geräusch der Trauerglocken und der gesungenen Grabgebete, das durcheinanderwogte, drang ihnen immer lauter entgegen. Sie sahen den hellen Lichtschein der Fackeln, die in langem Zuge die schmale Gasse hinabkamen, die zum Dom führte, und es war, da die Träger zwischen den hohen Häusern nicht sichtbar wurden, als ob der halbe Ort in Flammen stände. Der Platz vor der Kathedrale war von Menschen überdeckt. Alles war zusammengeströmt, auch aus den weiter abgelegenen Ortschaften waren sie in hellen Haufen gekommen, Männer, Weiber und Kinder. Alle wollten das »große« Begräbnis sehen, alle standen, den Hut vor dem Mund und murmelten die Trauerlitanei mit. Die Glocken dröhnten über die Menge hin. Und dann sah man den Zug. Alle Brüderschaften der Umgegend waren aufgeboten worden, und alle diese Männer in ihren schwarzen Mänteln aus Glanzkattun, den Hut über den Rücken gebunden, das Gesicht schwarz maskiert, sodaß nur Augen und Mund freiblieben, trugen Fackeln und sagten mit heiseren Stimmen, langsam vorschreitend, ihre Totengebete. Als dann die Priester sichtbar wurden, die dem Sarge voranschritten, fiel alles auf die Knie nieder und der durch den dichten Rauch sprühende Fackelschein zuckte über Hunderte von tief ergriffenen, angstscheuen Gesichtern hin. Dann trug man den Sarg in die Kathedrale, und die Menge strömte nach.

Severo und Serafina hatten sich, eng aneinandergepreßt, mitten unter den andächtigen, gaffenden und betenden Haufen gemischt, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Im Gedränge hatte sie sich an seinen Arm gehängt, aber nicht ein einziges Mal hatten sie einander angeblickt. Sie waren mit niedergekniet und hatten murmelnd die Lippen bewegt, wie alle andern. Nun zogen sie auch mit in die Kirche. Hier brannten überall Lichter an den mächtigen Steinsäulen, und die sonst so dämmerigen, niedrigen Kirchenschiffe waren taghell erleuchtet. Alle Bekannte sahen und begrüßten einander; ein bunter Strom wogte gegen den Hochaltar zu. Es roch nach Weihrauch, Pech und Blumen; als dann das Gedränge so dicht wurde, daß eine Vorwärtsbewegung nicht mehr möglich fiel und draußen vor dem weit offenen Portal sich Kopf an Kopf staute, auch nach Knoblauch und Tabak. Die eintönigen Totengebete begannen, der Trauerchoral wurde geblasen, die Einsegnung der Leiche ging vor sich. Und nun defilierten alle Anwesenden an dem noch offenen Sarge vorüber, wie um dem Toten noch einen letzten Abschiedsblick, ein letztes Abschiedswort zu gönnen. Ein Gebet murmelnd, knixend und sich bekreuzend zogen sie neben dem Katafalk hin, einer nach dem andern, um dann die Kirche zu verlassen.

Severo sah Serafina einen Augenblick scheu von der Seite an. Ausschließen konnte man sich nicht, ohne aufzufallen. Aber würde sie die Kraft haben –? Auf ihrem unbewegten Gesicht las er keine Antwort. Sie wurden auch schon vorwärts gedrängt und konnten garnicht mehr zurück. Man schob sie bis an den Katafalk, denn die hinten stehenden fürchteten, man könnte den Sarg schließen und wegtragen, ohne zu warten bis alle herangekommen waren. So sah sich Severo dem Toten gegenüber, noch ehe er's gedacht hatte. Und er konnte es nicht verhindern, daß er bei dem Anblick desselben leicht zusammenzuckte. Serafina mochte er garnicht ansehn. Aristide Vomero hatte nicht einmal im Tode einen friedlichen Ausdruck im Gesicht, seine Züge waren finster und drohend zusammengezogen, es war, als suchten sie nach dem Mörder. Severo spürte, daß es ihm kalt den Rücken entlang lief, er war froh, als er von den Nachdrängenden weitergestoßen wurde; er hat sich nicht einmal bekreuzt vor dem Sarge. Serafina's Arm fühlte er in dem seinen, es war ihm auch, als krampfte sie sich immer fester an ihn, aber er wollte den Ausdruck von Angst und Entsetzen nicht wahrnehmen, den er jetzt in ihren Mienen vermutete. Er blickte nicht nach ihr, er hätte sonst ja das Schweigen brechen müssen, das er über das Geschehene bewahren wollte, sie fragen müssen, warum sie diesen Toten nicht anschauen könne. Er zog sie nur immer hinter sich her. Warum hatte sie sich das auch angetan? Wenn man sie nun beobachtet hätte! Daran war freilich bei der allgemeinen Erregung wohl nicht zu denken.

Endlich waren sie aus der Kirche wieder in's Freie gelangt, – halb betäubt, gedrückt und gestoßen. Sie atmeten beide auf. Der Platz war noch immer von Menschen dicht belagert, die nun das Wiedererscheinen des Leichenzuges erwarteten und ihn bis zum Friedhof begleiten wollten. Severo hörte sich hie und da angerufen, nickte und grüßte, ging aber zu niemand heran. Er hatte jetzt genug von dieser Leichenfeier, überhaupt genug von diesem Toten. Was man für ein Wesen von ihm machte! Als ob ein vornehmer Herr gestorben wäre! Als ob so einer gar nicht zu ersehen wäre! Es war schon unsinnig.

»Wir wollen nach Hause gehn,« sagte er unwirsch. »Zum Friedhof bringen mich keine zehn Pferde mehr hinaus.«

»Ja, wir wollen nach Hause.« Auch Serafina's Stimme klang erleichtert.

Sie hatten Mühe, sich durchzudrängen, denn die Massen standen so dicht gestaut, daß alle Straßeneingänge versperrt waren. Schon hörte man wieder die dumpfen Litaneien der Brüderschaften, die sich langsam aus der Kirche in's Freie bewegten. Da die nächste Gasse, die sie nach Hause hatten einschlagen wollen, unpassierbar erschien, war Severo einen andren Weg gegangen. Auf diesem gelangten sie nach wenigen Schritten an die Osterie zum »Silbernen Mond«, deren Tür und Fenster offenstanden. Auch war es hell drinnen, aber man sah keinen Menschen, weder an den Holztischen, noch hinten bei den aufgestapelten Fässern. Alles war offenbar zur Kirche geströmt und erst nach Beendigung der Leichenfeier durfte man hier regen Besuch erwarten. Severo verspürte Durst, er zeigte Neigung, einzukehren; gerade daß noch keiner hier war, verlockte ihn. Aber als er einen Schritt auf die Tür zu machte, riß ihn Serafina heftig am Arm zurück. Er sah ihr erstaunt in's Gesicht, ihre Augen waren schreckhaft-verwundert auf ihn gerichtet, als ob er etwas Unerhörtes vor sich hätte. Plötzlich begriff er. Hier hatte Aristide Vomero gesessen, bis zu dem Augenblick, wo er den Heimweg angetreten, den er nicht mehr hatte vollenden sollen, hier wollte sie nicht einkehren – am allerwenigsten in dieser Stunde, wo sie ihn begruben. Mit einem unmutigen Achselzucken ging er weiter. Diese Empfindsamkeit! Und auf Schritt und Tritt dieser Mord! Man konnte garnicht mehr reden, denken oder tun, man stieß darauf – immer darauf.

Und nun konnten sie garnicht anders, sie mußten durch die Salita Santa Maria, wenn sie nach Hause wollten; sie hätten sonst wieder umkehren müssen. Severo wußte das ganz genau, aber er hastete mit trotziger Entschlossenheit vorwärts. Plötzlich plagte ihn auch die Neugierde. Wo war es denn eigentlich geschehen? Und wo hatte sie gestanden, um auf ihn zu lauern? Er war noch garnicht am Tatort gewesen, wo doch nach den Erzählungen der andern Steinarbeiter in diesen zwei Tagen vom Morgen bis zum Abend die Neugierigen sich gaffend und schwatzend zusammengedrängt hatten. Sogar ein Kreuz sollte man an der Stelle errichtet haben, damit jeder, der vorbeikam, ein Vaterunser für die arme Seele sprach, die so ganz ohne Vorbereitung in die Ewigkeit hatte abfahren müssen. Padre Gioacchino, der Kurat hatte das veranlaßt.

Und richtig: da war es auch schon. Keine dreißig Schritte die Salita hinauf, gerade dort, wo sie einen Knick machte. Im Schatten der hohen Weinbergsmauer hatte Serafina auf ihn gewartet. Kein Haus in der Nähe. Und wer von unten heraufkam, konnte selbst bei hellem Tageslicht nicht sehen, ob sich hinter der Ecke ein Mensch verborgen hielt oder nicht, hier hatte Aristide Vomero vorüber müssen, weil er oben an der hohen Straße wohnte. Jetzt, in der sternhellen Nacht, schimmerte das Holzkreuz deutlich herüber. Ein Kranz hing daran. Sonst war alles still und leer. Mit raschen Schritten ging Severo auf das Kreuz zu, er dachte an garnichts mehr, er war nur neugierig. Und zu seiner Überraschung hatte Serafina keinerlei Einwand gegen den Weg erhoben, den er gewählt, auch nicht gezögert näher zu treten, sondern stand jetzt dicht neben ihm und betrachtete die Stelle, wo der Mord verübt worden war, mit stummer Neugierde. Ihre Augen waren groß und aufgeweitet, ihr Gesicht blaß. Keiner von ihnen beiden sagte ein Wort. Und nur einmal blickten sie sich an, flüchtig, scheu und erschrocken. Aber sie gingen nicht, es war, als ob sie irgend etwas an den Platz bannte. Sie standen immer weiter und starrten darauf nieder. Beiden fiel ein, daß sie eigentlich nun hier beten müßten, aber sie beteten nicht. Von ferne, aus der Tiefe hörte man das Summen und Brausen der Menschenmassen, die Litaneien, das Glockengeläut. Ein rauchiger Feuerschein zuckte himmelan. Nun würde sich der Trauerzug zum Friedhof hinausbewegen. Und sie gingen noch immer nicht.

Erst ein hallender Schritt auf der Steilgasse hinter ihnen ließ sie zusammenfahren. Hastig brachen sie auf, ohne sich nach dem umzusehen, der hinter ihnen dreinkam. Der aber hatte sie bald eingeholt und rief sie an. Es war Pietro Mariani, der Einarmige. »Wir haben ja wohl den gleichen Weg,« rief er aufgeregt, »da unten komme einmal einer durch! Es ist eine Schande. Dies Aufhebens um so einen!« Er sah so rot aus, als ob er viel getrunken hätte, der Hut saß ihm im Nacken, das Wollenhemd war vorn offen.

Severo grüßte kühl, während Serafina tat, als sehe sie Pietro Mariani garnicht. Obgleich dieser das nicht zu bemerken schien, glaubte Severo doch, um deswillen freundlicher werden zu müssen. Serafina hatte doch wahrlich keine Ursache, die Leute vor den Kopf zu stoßen; Feinde durfte man jetzt nicht haben. Und nun gar einen so reichen und einflußreichen Mann, wie Pietro Mariani, vor dem man auf der Hut sein mußte! Er ließ sich gleich mit ihm in ein Gespräch ein, er gab ihm recht, daß dies Getriebe da unten widerwärtig sei. Dann wurde er sogar zutraulicher und fragte neugierig: »Dich haben sie also auch verhört?«

»Gewiß haben sie mich verhört.« Der Sprecher lachte durch die Zähne. »Alle Welt werden sie verhören. Dich werden sie auch verhören.« Er stieß das ingrimmig aus. »Um so einen!« sagte er noch einmal hintennach.

»Mich verhören?« Severo ballte die Faust. »Möchte wissen, wie sie darauf kommen sollten. Ich hab' neulich Nachts im Bett gelegen, von Abend bis Morgen. Wenn man tagsüber in den Brüchen arbeitet, liegt man Nachts nicht auf der Lauer, um einen niederzustechen. Die Hand würd' einem zittern oder man schliefe ein, eh' der Erwartete kommt.«

»Wie dumm, daß er sich so weitläufig verteidigt!« dachte Serafina zähneknirschend. »Und er lügt ja, daß er die ganze Nacht zu Bett war. Wenn ihn nun einer draußen gesehen hat! Wie dumm! Und wozu das nur alles? Wenn Pietro Mariani klug ist, muß er ja gerade aus dieser Verteidigung merken, was Severo für ein schlechtes Gewissen hat. Sich so preiszugeben!« Sie hatte gegen Pietro Mariani immer einen instinktiven Haß gehegt, trotzdem sie überzeugt war, daß er sie im stillen liebte – oder vielleicht gerade deshalb. Seine Augen gefielen ihr nicht. Es lag etwas so Lauerndes und heiß Begehrliches darin. Sie hatte manchmal den Eindruck gehabt, als warte er auf etwas bei ihr, auf eine Stunde, wo er an sie können würde. Und immer, wenn sie an ihm vorüberging, wußte sie ganz genau, er verfolge sie mit seinen Augen, so lange er sie gewahren konnte, obgleich sie sich doch nie nach ihm umsah. Manchmal hatte es sie ganz unruhig gemacht. Was wollte er denn eigentlich? Sie hatte doch nichts mit ihm zu tun. Und seit Aristide Vomero zu ihr kam, hatte er sogar immer ein Lächeln um die Lippen gehabt, so oft er sie sah, – ein abscheuliches Lächeln. Sie hatte es nicht verstehen wollen, das Lächeln, sie hatte sich beinahe davor gefürchtet. Und nun dieses Zusammentreffen hier und Severo's Unvorsichtigkeit!

Pietro Mariani hatte gelacht. »Sie wollen eben durchaus einen finden,« sagte er jetzt. »Grundlos oder nicht. Warum haben sie denn mich verhört? Weil ich mit ihm in der Osteria einen Wortwechsel hatte. Beinahe jeden Abend hatte ich einen Wortwechsel mit ihm. Mit andern auch. Und andere auch mit ihm. Deshalb sticht man einen doch nicht gleich nieder. Und Adriano Micca hat ihm sogar sein Glas an den Kopf werfen wollen, weil er ihm gesagt hatte, die Mariuccia, seine Schwester, könne keinen Orangenblütenkranz mehr tragen, wenn sie zur Trauung ginge. Und Pippo Lamberti hat ihm gedroht, er würfe ihn über die Felsstiege hinab, wenn er ihm das nächste Mal auf dem Weg nach Siriano begegnete. Und sind doch alle beide unschuldig an diesem Morde. Man redet so was wohl hin. Sie haben sie wieder freilassen müssen.«

»Aber irgendwer muß es doch getan haben,« sagte Severo aushorchend.

»Das ist freilich wahr,« lachte der Einarmige.

»Und Du – wen hast Du im Verdacht?«

»Du, das ist eine verfängliche Frage, Severo. Ich werde mich hüten, Dir zu antworten.«

»Du hast also doch einen im Verdacht?« beharrte Severo.

»Vielleicht.« Pietro Mariani lachte immerzu. »Du doch wohl auch? Du bist heute köstlich. Willst Du Dich nicht vom Prokurator als Gehilfe anstellen lassen?« Er schlug ihm derb auf die Schulter.

Serafina zitterte vor Zorn und Scham. Würde dieser Tölpel von Severo dem einarmigen Hallunken da nicht lieber gleich in's Gesicht schreien, er sei der Mörder nicht, auf ihn möge nur ja niemand Verdacht haben? Diese Unbeholfenheit! Dieser Leichtsinn! Wenn es so weiter ging, tappte der noch in sein Verderben, ehe einer ein Auge auf ihn hatte.

Zum Glück war man bei Pietro Mariani's Anwesen jetzt angelangt und er bot ihnen gute Nacht. »Ihr scheint stumm geworden zu sein. Sora Serafina,« sagte er dabei. »Nun ich denke, Ihr findet die Sprache schon noch wieder.«

Lag etwas Drohendes in seinen Worten, oder klang nur der Spott daraus, den man bei ihm gewohnt war? Sie wußte es nicht, sie ging, auch jetzt antwortslos, weiter. Aber es überrieselte sie bei dem Gedanken, daß er schon jetzt Argwohn geschöpft haben könne. Sie wollte Severo Vorwürfe machen, aber sie begriff, daß dies nicht möglich sei, ohne ihm zu verraten, daß sie selbst Mitwisserin seiner Tat war. Und das sollte er ja nicht wissen, daß sollte ihn nicht beunruhigen; er sollte nach wie vor glauben, daß niemand seine Tat kenne, niemand je davon erfahren werde. So sagte sie jetzt nichts, als: »Daß Du Dich mit so einem einlässest!«

»Ich begreife nicht, was Du gegen ihn hast,« erwiderte er aufgebracht.

»Ich hab' ihn nie leiden können.«

»So einen darf man sich doch nicht zum Feind machen.«

»Noch weniger aber zum Vertrauten!«

Er zuckte die Achseln. Er verstand nicht recht. Sie hatte Launen, das war alles. Er war auch ärgerlich, daß sie nicht irgendwo eingekehrt waren. Und dann hatte ihn alles, was sie gesehen hatten, aufgeregt und was Pietro Mariani geredet hatte, ging ihm innerlich nach. Wozu war er auch zu diesem Begräbnis gelaufen? Und nun gar, Serafina! Als sie bei ihrem Hause angelangt waren ließ er sie vorangehen, und kehrte um, warf sich vor die Madonna in der Mauernische drüben nieder und betete. Er wußte selber nicht warum und für was, aber er hatte das Bewußtsein, beten zu müssen. Mocht' es immerhin für Aristide Vomero's arme Seele sein! Jäh genug hatte der ja d'ran glauben müssen. Und seine Schuld war doch am Ende wirklich keine todeswürdige gewesen.

Mitten in seinem Beten hörte er sich vom Hause aus gerufen. Es war Serafina. Beinahe ängstlich klang ihre Stimme.

»Was willst Du denn?« Er stand auf und ging zu ihr, unmutig, daß sie ihn unterbrochen hatte, daß sie ihn überhaupt keinen Augenblick mehr schien allein lassen zu wollen. Es war auch etwas wie Scham dabei, daß sie ihn beten gesehen hatte. Plötzlich erschien ihm das unmännlich und schwächlich. Ihre Sache wär's, zu beten, sie hatte es wahrhaftig nötig. Und sie, die doch ein Weib war, dachte offenbar garnicht daran. Wie stark sie sein mußte! Aber man hätte sich auch davor fürchten können, daß sie es war.

»Ich dachte, Du wärest noch einmal ins Dorf gegangen,« sagte Serafina aufatmend.

Er antwortete nichts. Warum hätte er denn nicht ins Dorf gehen sollen, wenn ihm der Sinn danach stand? Was fürchtete sie denn eigentlich und warum bevormundete sie ihn so? Es lehnte sich etwas in ihm dagegen auf. Oder ängstigte sie sich nur, allein zu bleiben, – jetzt, wo ihr's wie ein Schreckgespenst vor der Seele stand, daß man kommen und sie holen könne? War sie doch nicht so stark, wie er eben noch gedacht hatte und hielt nur ihr Trotz, ihr Pochen darauf, daß sie nichts getan, was sie nicht hatte tun müssen, sie vom Beten ab? Er hatte plötzlich wieder Mitleid mit ihr. Wie ihr wohl zu Mute sein mußte! Erst dies Leichenbegängnis, der Anblick dieses Toten, der so furchtbar ausgesehen hatte, das Wiedersehen der Stätte, wo sie den tödlichen Stoß geführt hatte, dann das Zusammentreffen mit Pietro Mariani, den sie haßte und der so anzügliche Reden geführt hatte – natürlich mußte ihr das alles schrecklich gewesen sein, natürlich mußte das alles eine tiefe Wirkung bei ihr hervorgebracht haben und machte sie nun ängstlich, ließ ihr das Alleinbleiben unerträglich erscheinen, besonders jetzt, wo die Stunde bald wieder da war, wo sie neulich – er begriff das alles. Aber warum war sie so neugierig gewesen und hatte durchaus mit ihm gehen müssen? Und ans Alleinbleiben mußte sie sich nun doch einmal gewöhnen, in die Brüche konnte sie doch nicht mit.

Er strich ihr mit der Hand übers Haar hin. Sie tat ihm wirklich leid. Aber hatte sie es denn auch tun müssen? Das stieg immer wieder in ihm auf. Wenn sie sich doch keiner Schuld bewußt war, wenn sie sich auch nicht vor Aristide Vomero zu fürchten hatte, weshalb hatte sie es denn getan? Es war seltsam: manchmal war es ihm ganz natürlich vorgekommen, manchmal hatte er gedacht, es habe wirklich nicht anders sein können, und dann wieder begriff er es garnicht, fand er nicht den kleinsten, zwingenden Grund aus, erschien es ihm ungeheuerlich und unglaubhaft. Er war dann auch erstaunt, daß er trotzdem gleich auf Serafina geraten, gleich ihr die Bluttat zugetraut hatte. Und doch hatte sie ja warten können, ob nicht er selber tun würde, was denn doch einmal nicht zu vermeiden war, hätte sie ihm ja sagen können: ›Du oder ich, einer muß es tun, damit wir wieder Ruhe haben!‹ Warum war das nicht geschehen? Oder warum hatte sie dem frechen Eindringling nicht einfach die Tür gewiesen? Gleich das Äußerste brauchte man doch nicht zu tun, wenn sich ein Lüstling ins Haus drängte. Und wenn sie sich nichts vergeben hatte, sich nicht für irgend etwas, wozu er sie verführt, an ihm rächen oder sich jede Versuchung aus dem Wege schaffen wollte – nein, es war nicht zu fassen. Mensch ist doch immer Mensch. Ein Weib greift doch nicht gleich zum Messer. Ein anderer mochte klug daraus werden. Ihm, Severo, drehte sich alles im Kopfe herum, je länger er darüber nachdachte. Er wurde noch toll davon.

Er hatte ja auch garnicht mehr nachdenken wollen. Es war nun einmal, wie es war. Jetzt kam es auf nichts mehr an, als daß man einer Entdeckung aus dem Wege ging, daß man klug und vorsichtig war. Denn beweisen konnte ja wohl niemand Serafina etwas. Aber heute Abend war man nicht klug und vorsichtig gewesen. Garnicht mehr reden von der Sache, garnicht mehr sich darum kümmern, das alles weglöschen, abgetan sein lassen, – das war's, darauf kam's an. Und jetzt wollte er schlafen gehen.

Und er ging wirklich. Auch Serafina ging. Aber sie sprachen nicht mehr zusammen und sie näherten sich auch nicht einander. Es stand plötzlich etwas zwischen ihnen, sie wußten nicht was? Aber es war alles anders, als gestern, ganz anders, das fühlten sie, auch Severo trotz seines Mitleids mit ihr. Es nagte etwas an ihm, darüber konnte er nicht weg. Immer hatte er das finstere, drohende Gesicht dieses Toten vor sich, und nicht los ließ es ihn von dem Gedanken, daß Serafina keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als den, Aristide Vomero zu erstechen. Wie weit war es also zwischen ihnen gekommen? Wenn er das gewußt hatte! Und warum fragte er sie nicht danach? Ehe er Klarheit darüber hatte, würde er sie nicht mehr berühren können. Sie mußte es ihm sagen. Das war nicht Neugierde, die ihn stachelte, es zu wissen; es war sein natürliches Recht, daß er es erfuhr; Serafina war ihm Rechenschaft darüber schuldig. Wenn er neugierig gewesen wäre, hätte er sie doch darüber ausgefragt, wie sie die Tat vollbracht hatte, wie alles damals gewesen war. Seit er heute die Mordstätte gesehen hatte, beschäftigte ihn das innerlich. Aber danach würde er sie nicht fragen, neugierig war er nicht. Nur das Eine – das Eine mußte sie ihm beichten.

Und während er, unablässig hierüber grübelnd, wach lag, hörte er, daß auch Serafina nicht schlafen konnte. Begreiflich genug nach den Erlebnissen dieses Abends. Wenn schon ihm das Gesicht dieses Toten und all' das Andre keine Ruhe ließ, wie mochte es dann erst bei ihr sein! Er vernahm, daß sie sich in ihren Kissen hin und her wälzte. Das Mitleid wurde wieder mächtiger in ihm. Und nach einiger Zeit, als es ihm vorkam, sie wolle aufstehn, rief er sie sogar an. Aber da gab sie keine Antwort, sondern blieb ganz still. Das verdroß ihn, und erstickte alle weichen Regungen in ihm. Er drehte sich nach der andern Seite um und vergrub sich in seine Decken.

Serafina ihrerseits hatte ihm nicht geantwortet, weil sie bestimmt glaubte, er werde ihr jetzt, unter dem Schutze der Nacht, wo er sie nicht anzusehen brauchte und keinen Lauscher zu fürchten hatte, ein Bekenntnis seiner Tat ablegen wollen, und es lasse ihm keine Ruhe mehr. Das wollte sie nicht, sie wollte es nicht von ihm hören. Sie wollte vor aller Welt sagen können: »Er hat es nicht getan, ich weiß nichts davon, er hat es mir nicht gesagt.« Sie würde nicht mehr den Mut dazu haben, sie traute sich die Kraft dafür garnicht mehr zu, wenn sie ihn erst einmal angehört hatte. Sie hatte lebenslang immer schlecht lügen können. Man würde ihr's vom Gesichte ablesen, wenn sie seine Beichte kannte. Und auch ihm selber gegenüber hatte es sie unfrei gemacht, hätte ihr ein Übergewicht über ihn verliehen, nach dem es sie nicht verlangte. Severo würde nachher sein Bekenntnis wahrscheinlich wieder bereut haben und dann scheu und argwöhnisch geworden sein, immer gefürchtet haben, sie könne ihn einmal wider Willen verraten, sich verschwatzen, sich vor Gericht einschüchtern lassen oder dergleichen. Man konnte nicht wissen, ob er sie als Mitwisserin seiner Tat nicht schließlich sogar hassen oder doch sich vor ihr fürchten mußte. Kurz: es war besser, alles blieb es wie war. So würde man am ehesten darüber fortkommen, so konnte sie am ehesten ihm tragen helfen, was doch nun einmal geschehen war. Und wenn er sich von der Last befreien wollte und mußte, die ihm auf der Brust lag, was sie ja gut genug begriff, sollte er morgen beichten gehn. Im Beichtstuhl war der Platz, wo er Ruhe finden konnte. Sie – sie wollte von dem allen nichts mehr wissen. –


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