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Severo arbeitete den ganzen Tag mit Spitzhacke, Feile, Hammer und Bohrer in den Steinbrüchen. Man brach dort die graue Pietrasiena, die bei allen Neubauten der Florentiner Paläste verwandt wurde. Der Betrieb war sehr rege. Das Hämmern, Bohren und Sägen scholl eine Stunde weit durch's Hügelland. Und dazwischen erklang immer wieder das Warnungssignal, nach dem sich das krachen der Minen und das dumpfe Poltern und Kollern der Steinblöcke vernehmen ließ, die zu Tal stürzten.
Zum Schwatzen hatte hier keiner Zeit oder Stimmung, man würde einander auch kaum gehört haben bei dem ohrenbetäubenden Gelärm und Geprassel rundum. Nur die langgezogenen Zurufe durchschnitten die Luft, wenn man gebrochene Steinblöcke mit der Winde auf die ochsenbespannten Lastwagen hob, oder einer von den Arbeitern an den Seilen emporgezogen wurde, um droben auf dem schwanken Brettergerüst Brust an Brust den Kampf mit Meißel und Steinhammer gegen das zähe Gefelse aufzunehmen. Erst mittags wurde gerastet, als die Sonnenhitze hier zwischen den zackigen Steinwänden schon unerträglich wurde und den nur mit Hose und offenem Hemd bekleideten Männern vor Ermüdung die Spitzhacke fast aus den Händen fiel. Schweißbedeckt und zitternd vor Hunger und Durst warfen sie sich nun in den Schatten und fielen über ihre mitgebrachten Eßvorräte her. Sie tranken fast nur Wasser in langen, gierigen Zügen und hatten sich kaum gesättigt, um sich schon, ihre Sacktücher über den Hals gebreitet, das Gesicht in den Armen, lang auszustrecken und einzuschlafen. Einer neben dem andern lagen sie mitten zwischen den zahllosen Steinsplittern auf dem harten Boden und rührten kein Glied.
Auch Severo Rocca war unter ihnen. »Bei solcher Arbeit verlernt man das Messer gebrauchen,« dachte er, bevor er einschlief.
Beim Glockensignal waren alle wieder zur Stelle und keiner war säumig, sein Handwerkszeug wieder aufzunehmen und sich an seinen Platz zu begeben. Als Severo an Mario Lucchesi vorüberkam, der über seinen Trupp die Aufsicht führte und auch aus Borgunto war, fragte ihn dieser: »Hast's schon gehört?«
»Was?«
»Daß sie Aristide Vomero erstochen haben! Heute morgen haben sie ihn auf der Salita Santa Maria gefunden.«
Severo taumelte beinahe. »Jesus Maria!« Er war ganz bleich geworden.
»Tut dir wohl gar leid um den Schuft!« Mario Lucchesi stieß eine rauhe Lache auf. »Oder wurmt's dich, daß sie ihn dir nicht überlassen haben?« Er zwinkerte ihm zu. »In deinen Taubenstall ist der Marder ja wohl auch eingebrochen?«
Severo hatte sich mühsam gefaßt. Er schüttelte, wie von einem grauenhaften Gedanken durchzuckt, den er von sich abwehren wollte, wild den Kopf. »Heute nacht?« fragte er mit einem harten, heiseren Ton.
»Muß wohl so sein. Bis nach Mitternacht hat er noch im »Silbernen Mond« gesessen. Und sie haben ihn gut getroffen, das muß wahr sein. Abgestochen, wie ein Schwein.« Er machte eine bezeichnende Armbewegung.
Severo hob sein Gerät aus und wollte gehen. Dann wandte er sich doch noch einmal und fragte, wie verloren: »Man weiß nicht, wer's getan hat?«
Der andere zuckte die Achseln. »Hat keine Visitenkarte dabei gelegen, Du. Und ich wette: das bringen sie auch nicht heraus.«
»Warum nicht?«
»Weil's zu vielen recht war und zu viele es beinah' selber getan hätten. Diesmal hilft kein Mensch den Gendarmen auf die Spur. Sollst sehen.«
Severo ließ einen pfeifenden Atemstoß hören und nickte.
»Kannst recht haben,« sagte er und ging.
Wie betäubt kam er an die Arbeit. Eine zeitlang flirrte und flimmerte ihm alles vor den Augen, er sah gar nicht, wo er den Minenbohrer eintreiben sollte, und ein Kamerad rief ihm lachend zu: »Du hast dir den Schlaf ja noch nicht aus dem Kopf gerieben, Severo!« Das brachte ihn erst einigermaßen zu sich. Er zwang sich gleichfalls zum Lachen, aber es klang ihm selber unheimlich, als ob es gar nicht sein Lachen wäre. Und dann konnte er zwar arbeiten, aber jeder Hammerschlag, den er tat, dröhnte ihm im Kopfe nach, tat ihm körperlich weh. Und bei jedem klang es ihm: »Aristide Vomero ist tot, – ist tot, – ist tot.« Beinahe andächtig wurde ihm plötzlich zumute und ein Schauer frommer Bangigkeit durchrieselte ihn. Die heilige Jungfrau hatte nicht gewollt, daß er zum Mörder wurde, – heute, diesen Abend noch, hätte er es werden können. Er hätte ihr gerne auf seinen Knieen gedankt, daß sie ihn davor bewahrt hatte. Wie durch ein Wunder. Vielleicht zur Belohnung dafür, daß er in dieser Nacht der Versuchung widerstanden hatte, es durch einen Messerstoß zu Ende zu bringen. Er hatte es der Gottesmutter anheimgestellt, es so zu fügen, wie es gut und recht war, wie es sein mußte, und sie hatte es so gefügt. Ehrfurcht überkam ihn. So sichtbar hatte die Himmlische noch nie in sein Leben eingegriffen, so lange er denken konnte.
Dann, während er weiter arbeitete, fiel ihm ein, daß Aristide Vomero doch wohl sehr schuldig gewesen sein müsse, wenn die Madonna seinen Tod beschlossen hatte. Ja, er hatte gewiß viel auf dem Gewissen. Weil ihn alle fürchteten, die er mit seinen Steuereintreibungen ängstigte und in Respekt hielt, fand er überall offene Türen und mißbrauchte seine Macht auf's schnödeste. Sie sagten ihm nach, daß er sich in den Stock, den er trug, jedesmal eine Kerbe schnitt, wenn er wieder eine sich zu Willen gemacht hatte, und sein Stock war mit Kerben bedeckt von oben bis unten. Er würde den Tod also wohl verdient haben. Ob der, welcher nach ihm kam, es freilich besser machen würde, war sehr die Frage. Daß man sich vor den Priestern und vor denen vom Munizipio in acht nehmen müsse, so hieß es schon im Sprichwort. Und wer Aristide Vomero wohl niedergestochen haben mochte? Mario Lucchesi hatte recht: man konnte zu viele im Verdacht haben, um den Täter gleich herauszufinden. Wenn ihn sonst nichts besonderes verriet, als daß er Aristide Vomero mit einem Messerstich ins Herz niedergerannt hatte – und gerade in dieser Nacht –
Die Signalglocke war ertönt, und die der Mine zunächst befindlichen Arbeiter hatten sich in Sicherheit gebracht. Während Severo hinter einer geschützten Felsecke in der Höhe kauerte, um das Erkrachen der Mine abzuwarten, fiel ihm plötzlich ein, daß in dieser Nacht Serafina sich von ihrem Lager erhoben und sich über das seinige gebeugt hatte, wie um sich zu vergewissern, daß er schlafe. Und daß sie ihn heute morgen nicht geweckt hatte, sondern bei seinem Erwachen schon aufgestanden und fort gewesen war, und daß sie sich Wasser geholt hatte, ohne daß man begriff, warum? Es war ihm selber sonderbar, daß er jetzt daran dachte, und daß es ihm einen unbehaglichen Eindruck machte, daran zu denken. Was sie nur gehabt hatte diese Nacht? Da barst die Mine, und mit donnerndem Getöse lösten sich schwerfällig die mächtigen Felsblöcke auseinander und sausten dumpf kollernd an der Lehne hinab. Und während Severo, wider die langwierige Gewohnheit, leicht dabei zusammenzuckte, schoß es ihm plötzlich durch den Kopf:
»Serafina hat es getan – Serafina hat heute nacht Aristide Vomero erstochen.«
Er sah sich gleich darauf scheu um, ob auch niemand in der Nähe sei, so nahe, um seine Worte gehört zu haben, – denn vielleicht hatte er das Furchtbare nicht nur gedacht, sondern auch ausgesprochen. Aber es war keiner da, keiner konnte ihm den gräßlichen Gedanken von den Lippen oder aus den Augen lesen. Mit gesenktem Kopf ging er an seine Arbeit zurück.
Aber während er weiter hämmerte und bohrte, hämmerte und bohrte es auch unablässig in seinem Hirn: »Sie hat es getan und kein anderer. Sie hat es nicht länger ertragen, in ihrem Stolz, daß man sie verdächtigte, und dies dumpfe Nebeneinanderhinleben war ihr zum Ekel; sie hat ein Ende gemacht.«
Und dann fetzte er sich in seinen Gedanken Steinchen um Steinchen zusammen, bis ein Bild daraus wurde, eins, das er in greifbarer Wirklichkeit vor sich sah, – bei jedem Hammerschlage ein Steinchen mehr. Mit sich herumgetragen hatte sie es sicherlich schon lange, denn es mußte ihr zu Herzen gehn, daß sich an sie, die doch so hochfahrend und unnahbar dastand, der schimpfliche Argwohn und die widrige Verleumdung sollten wagen dürfen, und daß selbst Severo immer kälter und verschlossener wurde, weil er ihr nicht mehr traute oder ihn das alles, was man um ihn her zischelte und kuschelte, doch scheu und verdrossen machte. Vielleicht hatte sie sogar gewartet, daß er selber ein Ende machen werde, und erst als er es nicht tat, sich auch nicht mit ihr aussprach, hatte sie keinen anderen Ausweg gesehen. Gestern abend, als er ingrimmiger und schweigsamer, als je, heimgekommen war, war der Entschluß dann in ihr zur Reife gediehen. Und heute nacht, da sie so gut wußte, wie jedermann in Borgunko, Aristide Vomero pflege bis über Mitternacht hinaus in der Osteria zu sitzen und dann – häufig genug halb betrunken – durch die schmalen, steilen, stockfinsteren Gäßchen nach Hause zu wanken, hatte sie sich aufgemacht. Wahrscheinlich hakte sie zuerst Severo fortgehen sehen, und mochte wohl eine Weile gedacht haben, er plane das gleiche, wie sie; als sie ihn dann aber belauscht hatte, wie er unschlüssig vor der Haustür kauerte und den Weg ins Dorf nicht hinabging, sondern sich zu seinem Lager zurücktappte, war ihr vollends kein Zweifel mehr geblieben, daß es heut nacht geschehen müsse. Sein Zaudern hatte bei ihr den Ausschlag gegeben. Und nachdem sie sich überzeugt gehabt, er schlafe, war sie gegangen. Vielleicht hatte sie sein eignes Messer mitgenommen, da doch er selber den Mut nicht hatte, es zu gebrauchen. Und hatte sich in der dunklen menschenverlassenen Salita Santo Maria hinter einem Mauervorsprung niedergehockt, das blanke Messer im Mieder, um zu warten, bis Aristide Vomero kommen würde, denn hier mußte er vorüber. Da war er gekommen, und die Tochter der Berge wußte das Messer zu führen. Dort oben in ihrer Heimat verstanden sie es alle. Als er lautlos hingeschlagen war, hatte sie das Messer aus seiner Brust gezogen und war heimgekommen. Um es von den Blutflecken zu reinigen, die daran kleben mochten, war sie Wasser holen gegangen. Vielleicht hatte sie auch ihre Hände oder ihre Schürze und ihren Kleidrock von solchen reinigen müssen. Und sie war betroffen gewesen, als Severo sie beim Wasserholen überrascht hatte; ehe sie ihn wecken würde, würde er nicht aufstehn, hatte sie gemeint. Er begriff das alles.
Das Dröhnen und Hämmern, Knirschen und Krachen um ihn her im Steinbruch verschwamm für Severo in einen einzigen hallenden Laut, der vor seinen Ohren und in seiner Seele wach war: »Serafina hat Aristide Vomero getötet! Und sie hat ihn getötet, weil ihr Mann nicht den Mut dazu gefunden!« Ihm war's, als müsse er sich gegen die Steinwand lehnen, um zu rasten, so wirbelig war es ihm plötzlich im Kopfe und so laut sang ihm das Blut in den Schläfen. Aber er durfte ja nicht schwach werden, durfte sich nicht verraten. Kein Mensch durfte ahnen, daß er wußte, wer Aristide Vomero erstochen hatte. Serafina selber durfte es nicht wissen.
Wie langsam heute die Stunden schlichen und wie schwer ihm die Arbeit wurde! Er hakte freilich diese Nacht keinen ununterbrochenen Schlaf gehabt, wie sonst. Aber das war es nicht, das nicht. Die Gewißheit, die ihm geworden war, regte nur fein Blut so auf und nahm alle seine Kräfte in Anspruch. Aristide Vomero tot und Serafina hatte ihn getötet! Er konnte nichts weiter denken, es war wie ein dauerndes Summen und Surren um ihn her: er ist tot und sie ist seine Mörderin! Du bist der Mann einer Mörderin! Du hast sie in diesen Mord hineingetrieben, hineingehetzt, du hast sie gezwungen, Blut zu vergießen! Du, nur du! Denn an dir wär' es gewesen, das Messer zu führen, wenn deine Ehre es verlangte, nicht an ihr. Und sie mußte den Flecken von sich abwaschen, den dein schnöder Verdacht ihr anheftete, ohne daß du Beweise für ihre Schuld gehabt hättest, – sie mußte. Denn sie war stolz und rein und du hättest es wissen können. Wenn man die Täterin jetzt entdeckt, wirst du an ihrem Unglück schuld sein, und die Buße eines ganzen Lebens wird dann nicht ausreichen, an ihr gut zu machen, was du an ihr begangen hast!
Endlich die letzte Mine, endlich Feierabend. Der kalte Schweiß stand auf Severo Rocca's Stirn. Lange hätte er es nicht mehr so ausgehalten. Nun packte er feine Geräte zusammen, zog seine Zacke an, nahm seinen Rucksack zwischen die Schultern. Alles das ganz mechanisch, ohne zu wissen, was er tat. Dann ging man. Die von Borgunko waren oder doch vorläufig den gleichen Weg hatten, gingen zusammen. Sie ordneten sich paarweise, denn mehr als zwei von ihnen konnten auf den schmalen Wegen nicht gehen. Sonst hatten sie nie mit einander geredet, todmüde wie sie waren, und da sie ohnehin ihren Atem zum Bergangehen gebrauchten, heute redeten sie. Sie sprachen alle von Aristide Vomero's Ermordung.
Keiner hatte ein Wort des Bedauerns dafür, aber alle beschäftigte die Frage nach dem Täter. Wer es wohl gewesen sein mochte und ob die Gendarmen ihn Herauskriegen und fangen würden. Keiner wünschte es, aber es stachelte doch alle, zu denken, in Borgunko lebe jetzt einer unter ihnen, der Blut vergossen habe. Und allerlei Einzelheiten kamen zur Sprache, jeder wußte etwas anderes zu berichten. Ihrer vier waren es gewesen, mit denen Aristide Vomero gestern abend in der Osteria getrunken hatte und drei davon waren vor ihm fortgegangen, nachdem es Streik gegeben hatte, – Streik gab es immer, wo Aristide Vomero dabei war, wenn er erst einmal bei dem zweiten halben anfing. Diesmal hatte er mit all seinen Eroberungen geprahlt. Und da warm ein paar Namen gefallen, welche die anderen nicht hören mochten, die ihnen wie eine Beleidigung und Herausforderung klangen, – Namen einer Schwester, einer Braut oder Gott mochte wissen was für Namen. Aristide Vomero sollte die zurücknehmen, hatten sie verlangt, sollte zugestehen, daß er sich ohne Ursach' mit ihnen gebrüstet. Und das hatte er nicht gewollt. Dann hatten sie ihm ihre Gläser an den Kopf werfen wollen, andere Gäste hatten sich dazwischen gedrängt und Sor Desiderio, der Wirt, hatte die drei schließlich zum Weggehen gebracht, denn an Aristide Vomero hatte er sich natürlich nicht gewagt. Der war ruhig sitzen geblieben, hatte weiter getrunken, und weiter geprahlt, – trotz aller Drohungen und trotzdem man nun auch von den anderen Tischen her ihm zornige Worte zugerufen und Schweigen auferlegt hatte. Endlich war er hinausgewankt. Und einer von den dreien, die ihm vorher drinnen nicht hatten zu Leibe gehen können, hatte ihm dann draußen wahrscheinlich aufgelauert, – vielleicht auch alle drei zusammen. Es war kaum ein Zweifel. Und man kannte die drei, man nannte ihre Namen: Pippo Lamberti, Adriano Micca und Pietro Mariani. Der letztere, der ja bloß einen Arm hakte, kam am wenigsten darunter in Betracht. Aber Adriano Micca, dem jähzornigsten Burschen von Borgunko, der schon mehr als einmal das Messer bei viel geringeren Anlässen gezogen hatte, war die Tat recht wohl zuzutrauen. Es hatte denn auch schon heute Morgen geheißen, er werde bis zum Abend gefänglich eingezogen werden.
Severo hörte das alles mit an, ohne ein Wort dazwischen zu reden. Es machte auch gar keinen Eindruck auf ihn. Natürlich: was konnten die misten? Wie hätten die auf Serafina einen Verdacht werfen können? Und es war ja gut so, sie würde also nicht entdeckt werden. Nur durfte freilich auch kein Unschuldiger um sie leiden. Er vertiefte sich eben darin, was man wohl tun müsse, wenn das Gericht trotz aller Unschuldsbeteuerungen Adriano Miccas diesen für schuldig befinden werde, da hörte er hinter sich einen sagen. »Dann könnten sie Dich nur auch einsperren, Severo.«
»Mich? Er blickte sich wild um. »Wieso mich? Bist Du toll?« Er zitterte vor Wut und Betroffenheit.
»Ich meine nur, weil Santino sagt, sie werden alle einsperren, deren Weibern Aristide Vomero zu nahe gekommen ist, bis sie den Schuldigen heraus haben.«
»Warum nicht gar!« Die anderen lachten. »Man könnte alle jungen Ehemänner von Borgunko einsperren!«
Severo hatte sich entfärbt. Er biß sich auf die Lippen. Wie töricht, so aufzufahren! Es fehlte bloß noch, daß er hinausschrie: »Meine Frau hat ihn nicht erstochen, – die nicht!« Man mußte ihn ja verdächtigen, wenn er sich so aufregte. Aber sagen lassen konnte er sich's doch auch wieder nicht, daß Serafina –
»Wer hat Dir denn gesagt, daß Aristide Vomero meiner Frau je zu nahe gekommen ist, he?« schrie er den hinter ihm an.
»Das weiß doch alle Welt. Darum brauchst Du Dich nicht zu grämen.«
Severo griff nach seinem Messer. »Dann lügt alle Welt.« Sein Kinn bebte.
Der andere zuckte die Achseln. Man ging weiter, man schwatzte durcheinander, bald dieser, bald jener trennte sich von dem großen Haufen, die ersten Häuser des Dorfes waren erreicht. Auch der, welcher von Serafina gesprochen hatte, war gegangen. Severo hatte finster und schweigend seinen Weg fortgesetzt. Die anderen kümmerten sich nicht um ihn. Zuletzt blieb er ganz allein, weil er am weitesten vom Dorfe ab wohnte. Die Gedanken gingen irr in ihm um während dieser letzten Wegstrecke. Sollte er Serafina etwas davon verraten, daß er wisse, was sie getan hatte? oder sollte er warten, ob sie ihm ein Geständnis machen werde? Und wie, wenn sie es nicht tat? Wahrscheinlich würde sie es nicht tun. Schon um ihn nicht zu beschämen. Also wollte auch er schweigen. Am besten wär's, wenn überhaupt zwischen ihnen beiden nie die Rede von diesem Mord war. Nur weicher und zärtlicher wollte er gegen sie fein, als bisher. Ihr lohnen wollte er's, was sie getan hatte, denn sie sollte es nicht umsonst getan haben. Es war ja nun alles gut, es war ja nun alles wieder klar zwischen ihnen. Nur wurmte es ihn, ging ihm nahe, daß Michele Manzi vorher gesagt hatte, unter den jungen Weibern, denen Aristide Vomero zu nahe gekommen, sei auch Serafina. Die Faust gegen die Zähne hätt' er ihm schmettern mögen.
Drüben saß wieder Pietro Mariani, der Einarmige, auf seiner Weinbergsmauer und schmauchte. Den schien es nicht sonderlich anzufechten, daß man ihn unter denen nannte, die am meisten belastet erschienen, Aristide Vomero umgebracht zu haben. Mit gekreuzten Beinen saß er da, wie ein Türke, ganz in graublaue Dampfwolken gehüllt, seinen Fez schief auf dem Hinterkopfe; denn in jüngeren Jahren war er von Livorno aus mit einem Kauffahrer als Leichtmatrose nach Konstantinopel gegangen, wobei er auch seinen linken Arm verloren hatte, ohne daß man genau wußte, wie? und seitdem spielte er sich gern auf den Muselmann hinaus. Seit er unerwartet einen wohlhabenden Onkel beerbt hatte, dem alle Kinder jäh fortgestorben waren, galt er als geizig, hochfahrend und unverträglich, und trotz seines Geldes konnte er keine Frau finden. Auch heute rief er Severo wieder an. »Dein Besuch kommt nun nicht mehr, Severo! Wird Dir leid sein, he?« Er lachte hohl.
Severo zuckte die Achseln und ging vorüber. Als er seinem Hause nahe kam, sah er, daß Serafina, die in der Tür gestanden hatte, in's Haus zurückwich, nachdem sie ihn gewahrt hatte. Er begriff, daß sie sich vor dem ersten Zusammentreffen mit ihm scheute, aber es gab ihm doch einen Stich durch die Brust. Dann, als er über die Schwelle getreten war, wunderte er sich, daß sie ihm aus der Küche sogleich entgegen kam und ihm die beiden Hände hinstreckte. Ihre Augen leuchteten, und ein Zittern war in ihrer Stimme, als sie sagte: »Willkommen, Severo!« Gestern hatte sie ihm gar keinen Gruß gegönnt, heute schien sie ihm sagen zu wollen: »Du darfst eintreten, diese Schwelle wird niemand mehr entweihen.« So deutete er sich's, und voller Ergriffenheit faßte er ihre Hände. Aber er sah ihr nicht in's Gesicht dabei, er schämte sich plötzlich. Es kam ihm vor, als ob ihre Augen ihn fragten: »Warum hast Du es nicht getan? Warum überließest Du es mir?« »Gieb mir zu essen,« sagte er, »ich bin hungrig.« Und er ging in die Stube hinüber.
Eine ganze Weile hatten sie dort schon schweigend beim Essen zusammengesessen, als Severo plötzlich losbrach:
»Weißt Du, daß Aristide Vomero tot ist?«
»Ja,« sagte sie, »ich weiß.« Nichts sonst, und das ohne jede Erregung.
Nach einer Pause fragte er kauend: »Man weiß nicht, wer es getan hat?«
»Nein. Sie haben viele im Verdacht, heißt es, aber keinen sicheren Anhalt.«
Wieder schwiegen sie. »Adriano Micca soll es getan haben,« sagte er dann unsicheren Tons.
Sie gab darauf keine Antwort sondern bewegte nur die Schultern, als ob sie sagen wollte: »Was kann mir daran liegen, wen man verdächtigt?« Und ohne ein weiteres Wort beendeten sie ihre Mahlzeit.
Als Serafina dann den Tisch abräumte, saß Severo immer noch da, als ob er so nicht gehen könnte, als ob erst etwas zwischen ihnen zu Ende gesprochen werden müßte. Und doch war er jetzt noch fester entschlossen als vorher, nie Serafina gegenüber zu verraten, daß er ihre Tat kenne. Auch bedurfte es dessen ja nicht; es war sogar besser, wenn sie sich beide stellten, als wüßten sie von dieser Bluttat nichts und hätten keinen Teil daran. Nur dann konnte alles wieder zwischen ihnen werden, wie es früher gewesen war, und Serafina selber schien es so zu wollen. Er wußte daher gar nicht, was er ihr eigentlich sagen wollte, nur meinte er, er müsse ihr irgendwie zu verstehen geben, daß sie nun wieder die alten sein wollten. Das hatte sie ihm freilich durch ihr Willkommen schon selber zu verstehen gegeben. So sagte er denn nur, als sie zurückkam und ihn fragte, ob er nicht schlafengehen wolle, in so sanftem Ton, wie er ihn lange nicht mehr von ihr gehört: »Ja, jetzt kann ich ja ruhig schlafen.« Dann ging er auf sie zu und legte ihr seinen Arm um den Nacken und zog sie an sich. Sie sträubte sich nicht, sie zitterte ganz leise. Und auch sein anderer Arm umschlang sie.