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Neuntes Kapitel.

Serafina hatte den Vormittag bei ihrer Flechtarbeit in allerlei sich bunt durcheinanderwirrenden Gedanken verbracht. Sie war so stolz auf Severo gewesen, daß er die Tat begangen, sie hätte sich trotz allem immer wieder gern daran gehalten. Denn er hatte es doch nur ihretwillen getan, und sie hatte diese Tat von ihm gefordert, – nicht mit Worten, aber in ihrem Innern. Warum zeigte er sich nun darnach so schwach und feig? Und warum kam nun sein schmählicher Argwohn, aus dem heraus er allein gehandelt hatte, gegen sie so wild und widrig zum Vorschein, daß sie ihn verachten, statt bewundern und gleichzeitig vor ihm auf ihrer Hut sein mußte, damit er sich nicht an ihr vergriff, wie er gestern abend schon getan? Nicht, weil er sie verdächtigte, nicht aus Eifersucht, aus gekränkter Ehre oder aus Rache hatte er Aristide Vomero niederstechen sollen, sondern einzig um den frechen Eindringling und Störenfried zu beseitigen, durch den ihrer beider bis dahin so friedliches Eheglück vernichtet wurde. Das hatte sie von ihm erwartet und das hätte sie beide zueinander zurückgeführt. Statt dessen war Severo nun zum Mörder geworden aus Gründen, die hinfällig und für sie schimpflich waren, und sie beide standen sich schroff und feindselig gegenüber. Es war schlimmer geworden, als früher. Sogar nach dem Leben trachtete er ihr. Bloß weil sie nicht gestehen wollte, was sie doch nicht gestehen konnte. Und wenn sie selbst bekannt hätte, daß sie sich wirklich mit Aristide Vomero vergangen, nur um seinen quälenden Zweifeln ein Ende zu machen, und weil er ihr ja doch wohl nicht geglaubt hätte, daß sie unschuldig war, – sie hätte auch wohl dann schwerlich Frieden gehabt, sondern dann erst vollends hätte er das Leben an ihrer Seite nicht mehr ertragen, hätte er sie in seiner eifersüchtigen Raserei erwürgt. War das alles die Strafe dafür, daß sie gewollt hatte, es solle Blut fließen? Wurden ihre sündigen Wünsche so an ihr heimgesucht? Sie hätte sich zu Severos Füßen niederwerfen und ihn anflehen mögen, doch seinen unseligen Argwohn aufzugeben, der sie entehre und sie beide unglücklich mache, hätte ihm beim Blut des Gekreuzigten zuschwören mögen, daß sie unschuldig sei und nie ihre und seine Ehre aufs Spiel gesetzt habe; aber ihr Stolz litt das alles nicht. Soweit konnte sie sich nicht vor ihm demütigen, – nach dem, was gestern geschehen war – und auf die Gefahr hin, daß er ihr nicht glaubte! Seit sie sich klar darüber war, warum er Aristide Vomero getötet hatte, war jeder Rest von Bewunderung für ihn um deswillen in ihr erstorben und kaum mehr ein schwächliches Mitleid konnte neben ihrer harten Erbitterung bestehen. Sie sich mit so einem vergessen! Wenn man Severo Roccas Frau war! Daß er so wenig Selbstgefühl besaß und so wenig wußte, wie sie ihn liebte! Den Severo, der gestern in Sor Niccolòs Weinwirtschaft halb berauscht unzüchtige Lieder gesungen hatte, freilich nicht, – den nicht mehr. Er hatte es überhaupt meisterlich verstanden, ihr in kurzem ihre Liebe zu ihm aus der Brust zu reißen. Wenn es ihm darum zu tun gewesen war –

Serafina hatte den Platz vor der Haustür verlassen müssen, weil ein Regenschauer niedergegangen war. Auch nachher blieb es kühl und windig draußen, und sie setzte sich drinnen ans Fenster, um weiter zu flechten und ihren Gedanken nachzuhängen. Sie fühlte sich einsam, – heute eigentlich zum ersten Male. Früher war ihr's immer recht gewesen, daß ihr Haus abseits vom Dorfe und droben am Hügelhang lag. Sie liebte das ewige Schwatzen mit den Gevatterinnen von Haustür zu Haustür, von Stiege zu Stiege nicht, sie mochte auch nicht, daß ihr die andern in alles hineinsahen und von allem Bescheid wußten. Auf den Bergen war man kürzer angebunden gewesen, weil die härtere Lebensfron wortkarg und verschlossen machte, und jeder hielt dort eifersüchtig auf seine Freiheit. Heut kam's ihr, daß sie doch merkwürdig verlassen und schutzlos hier oben sei, förmlich wie abgeschnitten von allem Leben. Früher, in der guten Zeit, bevor Aristide Vomero ins Haus gekommen war, war sie manchmal, wenn die Flechtarbeit nicht drängte, unter Tags in die Steinbrüche hinuntergegangen, um Severo eine Weile bei seiner Arbeit zuzusehen und nachher während der Mittagsrast bei ihm zu sitzen und mit ihm zu schwatzen. Sie hatte dann oft etwas Besonderes für ihn zu essen mitgebracht, und die andern Arbeiter hatten Severo unter allerlei Scherz- und Stichelreden um solch eine Frau beneidet. Es waren glückliche Stunden gewesen. Solche würden nie wiederkommen. Und doch war nichts, nichts anders geworden. Nur Blut war geflossen. Das war's, was keinen Frieden mehr zwischen ihnen gedeihen ließ. Und sie hatte gewünscht, daß es fließen solle. Das war ihre Strafe jetzt!

Sie fuhr plötzlich zusammen, denn ein Finger hatte draußen ans Fenster geklopft. So schreckhaft war sie sonst auch nie gewesen. Pietro Mariani stand draußen. Sie zwang sich zur Ruhe, öffnete das Fenster und fragte kurz: »Was wollt Ihr?« Aber ihr Herz schlug so laut, daß sie meinte, er könne es unter ihrem Mieder zucken sehen.

»Ich hab' Euch nur sagen wollen, Sora Fina, daß sie Severo Rocca nicht dabehalten haben. Ihr braucht Euch nicht zu ängstigen um ihn!«

»Ich dank' Euch, Sor Pietro.« Mehr aus Ärger über ihr eigenes, sinnloses Herzklopfen, als über seine immer lauernden Blicke, in denen heute wieder etwas merkwürdig Überlegenes war, fügte sie gleichmütig hinzu: »Ich habe mich aber nicht geängstigt.« Sie log und sie begriff sofort, daß er das merkte. Das verdroß sie immer mehr.

Er zuckte leicht mit der einen Achsel, mit der, welche sich nicht in einen Arm fortsetzte. Es war das Zeichen bei ihm, daß er es der Mühe nicht für wert hielt, einer Sache näher zu treten. »Ja,« sagte er gleichmütig und gedehnt, »es ist auch nichts zu ängstigen, wenn kein Zeuge da ist.« Serafina zuckte wieder zusammen, biß aber die Lippen aufeinander, um nicht zu antworten. Sie fühlte, daß Pietro Marianis Augen auf ihr hafteten. »Der Brigadier ist wieder zurück,« fuhr er langsam fort »Er hat nichts herausgebracht. Alle Verhörten haben sich frei geredet. Ich traf ihn eben im ›Silbernen Mond‹ und er sagte mir's. Ja, wenn kein Zeuge da ist, wird der Mörder Aristide Vomeros wohl in aller Ewigkeit unentdeckt bleiben.«

Er hatte den Ellenbogen aufs Fenster gelegt, als ob er hier länger stehen bleiben und in aller Gemächlichkeit mit ihr schwatzen wollte. Serafina hätte ihn für ihr Leben gern durch eine brüske oder herrische Bemerkung verjagt; aber sie fürchtete sich vor ihm, sie begriff, daß sie es nicht durfte. Auch war ein bohrender Trieb in ihr, endlich ins Klare darüber zu kommen, was es mit seinen geheimnisvollen Andeutungen über die Gefahren einer etwa vorhandenen Zeugenschaft eigentlich auf sich hatte, ob da bloß Großtuerei und Lust am Quälen im Spiele war, oder er wirklich etwas von der Tat Severos wußte oder doch ahnte. So sagte sie, ohne von ihrer Flechtarbeit aufzusehen, scheinbar leichthin: »Einen Zeugen wird der doch schwerlich gehabt haben, der Aristide Vomero erstochen hat.«

»Warum meint Ihr das, Sora Fina?«

»Weil der Zeuge sich doch längst gemeldet hätte.«

»Hm. Man kann doch nicht wissen« –. Pietro Mariani rieb sich kopfschüttelnd mit der Hand das stoppelbedeckte Kinn, was einen eigentümlich knirschenden Ton gab. »Er kann Gründe haben, – Gründe –. Man verrät doch nicht gern einen, der vielleicht seine Gründe hatte, das Messer zu gebrauchen. Es gibt da allerlei. Und das Schweigen – wer kann wissen, wozu dem Zeugen das Schweigen wieder gut ist, – wozu er es nötig hat? Nein, Ihr solltet das nicht so bestimmt sagen, Sora Fina. Einen Zeugen kann es recht wohl geben, wenn er sich auch noch nicht gemeldet hat.«

Er sagte das alles mit so langsamer, scharfer Betonung, daß es Serafina durchfuhr. Er wußte also wirklich etwas! Severo hatte ihr zwar erwidert, es habe ihn niemand gesehen, aber wie konnte er das so sicher wissen? Und was wollte Pietro Mariani damit andeuten, daß der Zeuge sein Schweigen zu etwas nötig haben könne? War das eine Drohung? Wollte er etwa gar damit ihr sagen, er habe Macht über sie, er könne Severo verderben, es koste ihn ein einziges Wort? Es flog ihr kalt über den Leib hin. Macht über sie? Dieser da? Es wehrte sich alles in ihr dagegen. Und noch wollte, konnte sie es auch nicht glauben. Aber nun mußte sie wieder fragen, nun mußte es vollends heraus. Mit einer heißen Schreckempfindung kam's ihr, Severo könne heut im Verhör ausgesagt haben, daß er in jener Nacht sein Haus nicht verlassen. Und auch das würde Pietro Mariani wissen. Sie hatte Severo genugsam gewarnt. »Wenn einer in jener Nacht überhaupt nur draußen war,« sagte sie plötzlich, »ist's schon gefährlich für ihn.«

»Das will ich meinen,« versetzte Pietro Mariani ruhig.

»Also wird jeder sagen, er wär' im Hause und im Bett gewesen,« fuhr Serafina fort, die Augen auf ihrer Strohflechterei.

»Warum sollt' er das auch nicht sagen?« klang es gemächlich zurück. »Wenn es wahr ist – oder wenn er wenigstens keinen Zeugen hat, der das Gegenteil beschwören kann –«

Es versetzte Serafina beinahe den Atem. Immer kam er auf diesen Zeugen zurück! Es stachelte sie so, daß sie ihm am liebsten entgegengeschrien hätte: »Und Ihr – habt Ihr Severo in jener Nacht draußen gesehen oder nicht?« Wie sie das erleichtert hätte, wenn sie endlich die Wahrheit hätte erfahren können! Lieber, tausendmal lieber die, als diesen qualvollen, peinigenden Zweifel weiter in sich wühlen zu lassen. Wenn er ihr aber dann entgegnet hätte: »Ja, ich habe ihn gesehen,« – was würde sie weiter tun? Dann waren sie ja in seine Hand gegeben. Und hatte er Severo nicht gesehen, so gab sie sich und ihn durch solche unbesonnene, verräterische Frage geradezu preis, erweckte zum mindesten einen Verdacht in Pietro Mariani, der Severo verhängnisvoll werden konnte. Aber schweigen konnte sie auch wieder nicht. Schweigen hätte sie toll gemacht. »Ich weiß nicht, was Severo ausgesagt hat,« fing sie nach einer kleinen Weile wieder an, während ihre Finger sich fleißig regten. Ihr Herz klopfte fast atemberaubend.

»Oh,« machte er, den Kopf wiegend, »wer das glaubt, Sora Fina!«

»Wieso glaubt Ihr das nicht?« Sie blitzte ihn jetzt mit ihren finsteren Augen an.

»Man weiß doch, daß Ihr ein Herz und eine Seele mit ihm seid, Sora Fina. Also werdet Ihr auch wohl eingehend mit ihm besprochen haben, was er heute ausgesagt hat.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wißt Ihr, was er gesagt hat?« fragte sie ablenkend. – »Natürlich, Ihr wißt ja alles!« Es klang bitter und herausfordernd gegen ihren Willen.

Er ließ sich das aber offenbar nicht anfechten, sondern verharrte immer in seiner kühlen, überlegenen Ruhe, gerade weil er merkte, daß die ihr peinlich war und sie aufbrachte. »Alles weiß bloß der da oben,« sagte er und hob seine hellen, ins Grünliche schimmernden Augen auf. »Aber was Severo Rocca heute vor dem Brigadier ausgesagt hat, das weiß ich freilich, das zu wissen, ist eben kein Kunststück.«

Serafina zwang sich, nicht weiter zu fragen. Was sollt' er davon denken? Sie mußte sich durch ihre Aufregung ja verraten. Und doch hätte sie für ihr Leben gern gewußt, ob Severo die Wahrheit insoweit bekannt hatte, daß er zugegeben, in der Mordnacht draußen gewesen zu sein, wie sie es ihm angeraten hatte. Aber natürlich hatte er es gerade deshalb nicht getan und weil er auch zu viel Furcht hatte und nicht einsehen wollte, daß gerade diese Lüge ihn verderben konnte, ihn selbst dann hätte verderben können, wenn er garnicht schuldig gewesen wäre. Und daß sie ihn nicht gleich als verdächtig zurückbehalten hatten, wußte sie ja nun. Weiter, als daß sie Pietro Mariani gesagt hatte, sie wisse nicht, was Severo im Verhör geäußert, konnte sie nicht mehr gehen, schon das hatte verdächtig genug geklungen.

Draußen hatte es wieder leise zu regnen angefangen, und Pietro Mariani bat um die Erlaubnis, für einen Augenblick ins Haus treten zu dürfen, es werde bald vorübergehen. Serafina mußte wohl oder übel zustimmen, aber sie sah garnicht dabei auf und bewegte sich auch nicht von ihrem Platze. Sie tat, als wenn er garnicht da wäre.

Was wollte er denn eigentlich? Warum ging er nicht? Die hundert Schritte bis zu seinem Hause würd' er im Regen ja doch wohl machen können. Und wenn er bloß gekommen war, ihr zu sagen, Severo Rocca sei aus dem Verhör unangefochten wieder entlassen worden, – das hatte sie ja nun erfahren, deshalb hätt' er nun längst wieder fort sein können. Aber sie begriff ganz wohl: er hatte noch etwas auf dem Herzen. Es war ja auch nicht schwer, zu ahnen, was es war. Und er wollte diesen Trumpf nicht gleich aus der Hand geben, wollte sie vielmehr langsam damit quälen, in Atem erhalten, sich gefügig machen. Das war's! Wie hatte er neulich abend schon gesagt, als sie durch ihr Stummbleiben ihn ihren Haß wieder einmal hatte deutlich fühlen lassen und fühlen lassen wollen? »Ihr werdet Eure Sprache schon wiederfinden, Sora Fina!« Es klang ihr immer noch in den Ohren. War jetzt die Stunde da, wo sie sie wiederfinden sollte? Und welche Sprache war das? Die der Bitte ihm gegenüber, er solle Severo Rocca nicht verraten? Und um welchen Preis denn nicht verraten? Umsonst tat doch Pietro Mariani nichts. Dieser Preis also würde sie sein. Ein unsäglicher Ekel stieg in ihr auf. Und um Severo zu retten, der ihr mißtraute, der Aristide Vomero nur aus Eifersucht erstochen hatte und der ihr selber in seiner Raserei nach dem Leben trachtete? Nein, wahrlich nein! Diesmal würde Pietro Marianis Rechnung nicht stimmen.

Der Einarmige war ein paarmal in dem kleinen Raume auf- und niedergegangen und hatte vom Wetter und der Olivenernte, vom Streik der toskanischen Stroharbeiterinnen und vom Hagelschaden in den Gärten gesprochen, ohne daß Serafina ihm etwas anderes, als »Ja, ja« und »Ist schon so« erwidert hätte. Nun sah er kurz zum Fenster hinaus, vor dem der Regen wie ein graues Gitter niederhing, rückte sich einen Schemel ihr gegenüber, setzte sich rittlings darauf und sah sie, leicht mit den Fingern ihr Strohgewebe betastend, an. Eine drückende Stille entstand. Plötzlich fragte er: »Ihr wißt also wirklich nicht, was Severo Rocca im Verhör ausgesagt hat?«

»Wie soll ich das wissen? Er wird gesagt haben, daß er in jener Nacht zu Hause war und schlief. Was sonst?«

»Ja, das hat er gesagt. Das haben sie alle gesagt. Natürlich.«

»Nun also.« – Ein ganz leises Zittern war in ihrer Stimme.

»Es wird doch auch wahr sein, Sora Fina?«

»Was soll wahr sein?«

»Was er gesagt hat.«

Sie zuckte in erheucheltem Unmut die Achseln, sagte aber kein Wort. Sie dachte nur: »Jetzt wird es kommen. Jetzt ist er so weit, mir zu sagen, daß Severo gelogen hat, daß er ihn dieser Lüge überführen kann, und daß er das nur unterlassen wird, wenn ich –« Aber Pietro Mariani sprach das nicht, sondern schwieg. Nur seine Augen ließen nicht von ihr. Und nach einer Weile erst sagte er: »Es ist gut, wenn es wahr ist. Nur keinen Zeugen darf es geben, der etwas anderes aussagen kann – und beschwören kann.« Er hatte eine kurze Pause vor den letzten Worten gemacht.

Serafina erbebte leise. Nun war's also klar, daß er sie verderben konnte. Aber sie ließ sich nichts merken von dem, was in ihr vorging. Nur die Frage beschäftigte sie, warum er jetzt nicht losbrach, warum er ihr noch diese Galgenfrist gewahrte. Geschah das nur, um sie auf die Folter zu spannen und so ihren Widerstand, den er ahnte, um so sicherer zu brechen?

Eben als sie ihm eine Erwiderung geben wollte, rief eine Stimme zum offenen Fenster hinein: »Guten Tag, Sora Fina. Darf man einen Augenblick eintreten? Es regnet, als ob es nie wieder aufhören wollte. Und verdient hätten's die Menschen ja. Wenn ich der liebe Gott wäre – Ach so, so – Ihr habt Besuch. Dann will ich natürlich nicht stören. Bitte vielmals um Entschuldigung. Das konnt' ich ja nicht wissen.«

Es war Sora Gioconda, die ihren dicken Kopf mit den vorquellenden Augen zum Fenster hineingesteckt hatte, den heraufgeschlagenen Kleidrock bis in die Stirn gezogen. Pietro Mariani war – absichtlich oder unabsichtlich – ein wenig von Serafina abgerückt und ließ jetzt, aufstehend, ein leises, spöttisches Lachen hören. »Ihr dürft schon hereinkommen,« sagte Serafina, »es ist Sor Pietro.« Sie hatte sich gezwungen, einen unbefangenen Ton anzuschlagen, aber sie begriff, was diese Begegnung bedeutete: Heute Abend wußte man in ganz Borgunto, daß Pietro Mariani während der Abwesenheit ihres Mannes bei ihr in der Stube saß – und nahe, auffallend nahe. Ohnehin waren er und Sora Gioconda sich spinnefeind. Pietro Mariani konnte das alles freilich nur gelegen kommen, es trieb sie ja vollends in seine Arme.

»Ich hoffe nicht, daß ich Euch vertreibe, Sora Gioconda,« sagte der Einarmige mit einem gezierten Bückling. »Überdies räume ich Euch das Feld. Ich habe Sora Fina genug gelangweilt und bis zu mir herunter komme ich schon im Regen. Ihr natürlich –«

Aber Sora Gioconda war nicht zu bewegen, einzutreten. Es gab noch allerlei spitze Redensarten hinüber und herüber, bis Pietro Mariani endlich erklärte, er werde sich ein Vergnügen daraus machen, Sora Gioconda zu begleiten, zumal er einen Schirm mit sich führe; übrigens würde es ja wohl nicht weit sein, da jedes Haus, an dem sie vorbeikämen, unglücklich sein würde, wenn Sora Gioconda nicht einträte, und bekanntlich bringe sie solche Hartherzigkeit ja auch niemals über sich. Und dann ging er wirklich mit ihr, obgleich Sora Gioconda rot geworden war wie eine Päonie, vor Zorn und Empörung, bot ihr sogar vor dem Hause mit einer grotesken Verbeugung seinen Arm, den sie aber mit einer Flut von schnippischen und anzüglichen Redensarten ausschlug. Von Serafina hatte Pietro Mariani sich ganz harmlos und freundlich verabschiedet. Und draußen hörte sie ihn sagen: »Keine schönere Frau in ganz Borgunto, als meine Nachbarin Sora Fina, findet Ihr nicht, Sora Gioconda?«

Mit einem Ruck warf sie das Strohgeflecht zur Erde und stand auf. Ihre Brust hob sich ein paarmal schwer, wie unter einer drückenden Last. Es war ihr, als müßte sie fort, jetzt gleich auf der Stelle zu Severo hinunter, um ihm zu sagen, eine ungeheure Gefahr drohe ihm und er müsse fliehen, Pietro Mariani habe ihn damals in der Nacht gesehen und werde jetzt nur den günstigsten Augenblick abwarten, um ihn an's Messer zu liefern. Aber Severo würde ihr ja doch wohl nicht glauben. Und dann? wohin fliehen? Und allein? Sie hatte ihn ja genugsam gewarnt. Warum hatte er nicht auf sie gehört? Jetzt hatte sie keine Verpflichtung mehr gegen ihn.

Und doch war ihr so eng um die Kehle geworden, daß sie zu ersticken meinte und mit beiden Händen sich vorn in's Kleid griff, um sich Luft zu schaffen. Wie sie diesen Pietro Mariani, den heimtückischen Schleicher, haßte, der jetzt um seine Beute kreiste, bis er ihr – im günstigsten Augenblick – die Tatze ins Genick schlagen würde! Aber noch war es nicht soweit, – noch nicht. Wilde, blutgierige Zorngedanken stiegen jäh in ihr auf. Wer war sie denn, daß sie widerstandslos und ratlos sich dem überliefern sollte, was ihr drohte? Hatte sie nötig, zu warten, ob und wann es diesem Marder, der ihr Haus umschlich, gefallen würde, seine Zähne zu weisen? Gab es nicht auch für sie ein Mittel, dem vorzubeugen, das zu verhindern? Severo hatte Aristide Vomero niedergestochen, der den Frieden seines Hauses gestört hatte! Warum stach nicht sie diesen da nieder, der das Gleiche wollte und plante und von dem ihnen Schlimmeres drohte, als von jenem, weil er Gewalt über sie hatte? Was Severo gekonnt und gemußt hatte, konnte und mußte doch auch sie, wenn das Gleiche auf dem Spiel stand. Nieder – nieder mit ihm!

Sie hatte unwillkürlich eine Armbewegung gemacht, als ob sie das Messer gegen irgendeinen zöge. Dann besann sie sich wieder. Noch einen Mord! Noch einmal Blut vergießen! Und welch' Segen war denn aus der ersten Bluttat geflossen? War es besser seitdem geworden? Oder nicht vielmehr schlimmer, – viel schlimmer? Ja, wenn Severo sie noch geliebt hätte, wenn er noch der Severo von einst gewesen wäre! Um den – um dessen Rettung hätte sie auch das noch, hätte sie alles getan. Aber jetzt – da er Aristide Vomero nur erstochen hatte, weil er sie, Serafina, für schuldig gehalten, und da er sich nun feig und furchtsam zeigte, – auch vor ihr – und sich an ihr vergriffen hatte – nein, jetzt nicht, jetzt nicht mehr. Was nun freilich werden sollte, wußte sie nicht. Es hätte alles noch gut werden können, wenn Severo der alte gewesen wäre; nun war das Unglück da, nun würde es weiter gehen, immer weiter. Und wenn sie sich Pietro Mariani's Schweigen nicht erkaufte, war er verloren. Sie würde es nicht erkaufen. Eher – Und wieder zuckte es in ihrer Hand. Wenn Severo nur schon dagewesen wäre! Wenn sie mit ihm das alles hätte besprechen können! Warum sprachen sie sich nicht aus, wie früher, sondern gingen umeinander herum, als fürchte jeder sich vor dem andern? Diese Heimlichkeit hatte sie auseinander gebracht. Sie hatten es beide gut damit zu machen gedacht und es war zum Üblen ausgeschlagen. Wenn sie jetzt noch den Mut hätten, einander die Wahrheit zu sagen, einander die Wahrheit tragen zu helfen –

Serafina hatte sich mit ihrer Flechtarbeit wieder am Fenster niedergelassen und verbrachte dort in düsterem Grübeln den Rest des Tages. Severo kam heute spät, später als sonst. Sie zitterte seiner Ankunft entgegen, aber sie war sich noch immer nicht klar über das, was werden sollte, sie wußte nicht einmal, ob dies Zittern eins der freudigen Erwartung, der Angst oder des Grauens war. Ein paarmal ging sie vor die Tür hinaus, um den Weg hinabzuspähen, und wunderte sich dann über sich selber, daß sie so aufgeregt war. Das war gerade, wie in der allerersten Zeit nach ihrer Verheiratung, wo sie es auch immer nicht hatte erwarten können, bis Severo heimkam. Und doch wußte sie nicht, wie sie ihn empfangen sollte. Als sie ihn endlich kommen sah, lief sie schnell ins Haus.

Er kam mit schweren, wuchtigen Tritten über die Schwelle und schrie gleich nach ihr. Roh lachte er ihr ins Gesicht, als sie kam. Das waren ja schöne Geschichten, die er da eben zuhören bekommen hatte! Kaum war der eine Liebhaber tot, so hatte sie den zweiten. So war's recht, da zeigte sich doch gleich, was für eine sie eigentlich war. Die Zeit, wo er fern war, wurde ihr auf diese Art natürlich nicht lang. Aber dieser Einarmige! Warum hatte sie sich denn keinen besseren ausgesucht? Und hatte ihm, Severo, noch gar eingeredet, sie hasse den, und hatte sich in seiner Gegenwart geschämt, mit ihm zu reden. Welch' ein Komödienspiel! Bezahlte er sie denn wenigstens gut? Denn das hatte Aristide Vomero doch sicher nicht getan. Und Pietro Mariani galt ja auch als ein Geizhals. Oder tat sie alles nur aus gutem Willen und um einen Zeitvertreib zu haben? Solche Umarmungen mit einem, der nur über einen Arm verfügte, mußten wohl von ganz eigenartigem Reiz sein.

Er sprudelte das alles heraus mit heiserer Stimme, mit höhnisch-bitterem, unnatürlichen Lachen, während er breitbeinig vor ihr stand, die Hände in den Hosentaschen, und sie mit zusammengekniffenen Augen in einem flammend roten Gesicht anzwinkerte. Serafina glaubte eine zeitlang, er sei wieder betrunken. Aber das schien nicht der Fall zu sein. Nur unnatürlich erregt war er, und sein Kinn bebte. Er wußte offenbar garnicht, was er alles für häßliche, widrige, schmutzige Dinge da vorbrachte, und daß er sie sich dadurch für immer entfremdet und ihr Inneres gegen ihn verhärtet hätte, selbst wenn er einen Schimmer von Berechtigung besessen hätte zu seiner schimpflichen, hohnvollen, von Bitterkeit triefenden Verdächtigung, die sich würdig an jene andere anschloß, um die er einen Unschuldigen gemordet und sie selber gestern Abend mit dem Tode bedroht hatte, – die ebenso niedrig und ebenso grundlos war, als jene, und den letzten Rest von Mitleid und Weichheit in ihr ersticken mußte. Wie betäubt hörte sie ihn eine Weile mit an. Daß er schon heute von Pietro Marianis Besuch bei ihr erfahren würde, hatte sie nicht gedacht, auf solch' einen Ausbruch war sie daher auch nicht vorbereitet gewesen. Und wenn er wenigstens nur seinen heißen Groll, die ganze Eifersuchtsraserei, derer er fähig war, wie sie gestern erst an seinen würgenden Fingern gespürt, über sie ergossen hätte, das hätte sie begreifen, das hätte sie verzeihen können. Man konnte ihm ja Ungeheuerliches zugetragen haben, entstellt und verdreht, solange, bis es ihm das Blut in Siedehitze brachte, bis er nicht mehr wußte, was er sprach und was er tat. Und aus dem allen hätte sie ja immer noch ersehen, daß er sie liebte, denn für ein Weib, das ihm gleichgültig geworden, hätte er sich nicht so aufgeregt. Aber dies, was sie nun erlebte, machte sie stumm und starr. Sie funkelte Severo mit Augen voll tödlichen Hasses an, als er geendet hatte. Dann wandte sie sich wortlos um und wollte gehen.

Das brachte ihn aus seiner Rolle. Mit dem Wutschrei eines verwundeten Tieres fuhr er auf und griff nach ihr. Seine Faust packte ihr üppiges Haar und riß sie daran herum. Heiser vor Wut keuchte er ihr ins Ohr: »Dirne! Dirne!«

Sie empfand einen so wilden Schmerz, daß sie laut hätte aufschreien mögen, aber sie biß die Zähne zusammen, und stieß ihn nur mit beiden Fäusten von sich. Als er zurücktaumelte, floh sie in die Stube und schob von innen den Riegel der Tür vor. Nun war sie geborgen. Und nun warf sie sich an den Boden nieder und schluchzte lautlos vor herzbrechender Verzweiflung, – ihre Schürze in den Mund gestopft, damit er sie draußen nur ja nicht hörte. Denn er sollte nicht glauben, daß er ihr auch nur eine Träne noch wert war. Das ihr! Sie fühlte sich so erniedrigt, daß sie kaum mehr Empörung oder Widerwillen gegen ihn empfand, sich nur selber so besudelt vorkam, daß sie fast Mitleid mit sich hatte. Ihr Stolz war wie zerbrochen. Und ihr Stolz war von je ihr wertvollstes Besitztum gewesen.

Severo hatte eine zeitlang an der Tür gerüttelt und mit Fäusten daran geschlagen, dann war er mit einem Fluch gegangen. Sie hörte seinen Schritt draußen auf der Straße, er ging nach Borgunto hinab. In die Osterie natürlich. Dort würde er sich austoben und dann, halb oder ganz berauscht, in der Nacht zu ihr zurückkommen, – um entweder in sein brutales Schimpfen von vorhin zurückzufallen oder aber weich und zärtlich zu werden, – je nach dem Grade seiner Betrunkenheit, und eins war so widrig, wie das andere, – das letztere vielleicht noch widriger. Widrig und unaushaltbar. Sie würde nicht warten, bis er zurückkam, und sie konnte mit ihm zusammen hier nicht mehr hausen. Jetzt nicht und nie mehr. Es war alles aus, heute hatte Severo das Band zwischen ihnen zerrissen mit der Beschimpfung, die er ihr ins Gesicht geschleudert, – einer Beschimpfung, die sich nicht wieder vergessen und nie mehr gut machen ließ. Sie hatte ihm wahrlich genug verziehen, – nun war's zu Ende. Fort also! Fort! Oder sie hätte sich selber nicht höher achten müssen, als ein Tier.

Sie raffte sich vom Boden auf, wo sie bis dahin, in Qualen sich windend, gelegen hatte, sie schleppte sich müde, mit Haltung und Geberden einer Schwerkranken, bis an die Tür. Soweit war's also. Denn nun, wenn sie blieb, hätte es einen dauernden Kampf zwischen ihnen beiden gegeben, – einen Kampf bis zur Vernichtung. Wie die wilden Tiere würden sie über einander hergefallen sein. Davor ekelte ihr. Denn seine Beschimpfungen widerstandslos ertragen konnte sie ja doch nicht, – sie, die nichts hatte, als ihren Stolz und ihre Ehre, – ihre makellose Frauenehre. Vergriffen hatte er sich ja ohnehin schon gestern an ihr. Und nun würd' er sie umbringen, – oder sie ihn.

Sie horchte einen Augenblick mit angehaltenem Atem zur Haustür hinaus, ob er auch nicht wieder zurückkam, sie nur hatte sicher machen wollen, wohl gar von Reue heimgetrieben wurde. Aber sie hörte nichts und atmete ein paarmal tief auf. Dann ging sie und wusch sich Gesicht und Hände. Sie wußte nicht, warum sie das tat, es geschah instinktmäßig. Die Schmach, die sie hier in diesem Hause erfahren hatte, das sein Haus war, wollte sie von sich abwaschen, ehe sie es verließ. Als sie damit fertig war, packte sie ein paar Habseligkeiten in ein Bündel zusammen, warf ein Tuch um den Kopf und ging. Alles das hatte sie ruhig, fast mechanisch getan, ohne sich einen Augenblick zu besinnen. Nun kehrte sie von der Tür noch einmal um, suchte in der Küche nach einem Messer, wählte das schärfste von allen aus, die da lagen, und steckte es zu sich. Das hätte sie fast vergessen gehabt und doch würde sie es brauchen können, – vielleicht nötiger, als alles andere sonst. Sorgfältig löschte sie nun noch den letzten, glimmenden Feuerrest auf dem Herde, dann schritt sie über die Schwelle und zog die Tür hinter sich zu. In diesem Hause war keine Stätte mehr für sie.

Drüben vor dem Madonnenbildnisse kniete sie eine kleine Weile nieder, betete, bekreuzigte sich und erhob sich wieder. Dann schritt sie bergan. Sie hatte sich nicht einen Augenblick überlegt, wohin sie eigentlich gehen sollte. Es gab keinen Zweifel für sie, daß sie in die Berge müsse. Dort war sie heimisch gewesen, dorthin gehörte sie. Wenn irgendwo, würde sie dort wieder gesund werden, – denn es kam ihr vor, als sei sie jetzt krank. Eine Last drückte auf ihre Schultern, ihr Atem ging mühsam und ihr Gang war schleppend: Sie mußte sich zwingen, vorwärts zu kommen. Erst als sie höher gelangt war und die Furcht nicht mehr in ihr war, verfolgt zu werden, von der sie sich anfangs nicht hatte freimachen können, wurde ihre Haltung aufrechter und ihr Gang leichter. Sie blieb einmal stehen und sog mit zitternden Nasenflügeln die Luft der Höhe ein, wie ein lange entbehrtes Labsal. Ihre volle Kraft schien ihr unter diesem Anhauch zurückzukommen.

Die Nacht war sehr dunkel. Kaum daß hin und wieder ein Stern durch das jagende Geschiebe grauer Wolken durchbrach. Und manchmal trieb der Wind einen Sprühregen ihr entgegen. Aber nichts von Bangen wandelte Serafina an. Sie schritt so sicher aus, als läge der helle Tag um sie her, und dachte an keine Gefahren. Nur an das, was hinter ihr lag, dachte sie, nicht an Gegenwart oder Zukunft. Eine feucht-schwüle Duftwoge zog ihr manchmal um die Stirn, aber sie achtete nicht darauf! auch wenn irgendwo ein Hund anschlug oder ein Schritt von Menschen hörbar wurde, verlangsamte sie ihren Gang weder noch lauschte sie darauf. Unermüdlich setzte sie ihren Berggang fort, und nur in ihr waren viele Stimmen wach. Sie dachte an Pietro Mariani. Auch um seinetwillen war es gut, daß sie gegangen war! das war der Ausweg gewesen, den sie vor ein paar Stunden noch vergeblich gesucht hatte, als sie sich klar gemacht, daß sie diesem Einarmigen verfallen sei oder Severo in sein Verderben rennen lassen müsse. Die heilige Gottesmutter mochte das alles so gefügt haben. Serafina bekreuzigte sich abermals. Fromme Ruhe und Klarheit zogen in ihre Seele ein. Die ganze Nacht hindurch ging sie, ohne zu rasten und ohne zu ermüden. Als das Zwitterlicht des grauen Frühlingsmorgens zögernd und mürrisch über die kahlen Felshänge der Apenninen heraufkroch, sah sie ihr Heimatsdorf wie einen Haufen ineinander geschobener und übereinander getürmter, bräunlicher Steinwürfel von nackter Höhe herübergrüßen. Da warf sie sich auf die Kniee und betete.


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