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Viertes Kapitel.

Nicht ein Wort sprachen die beiden von dem Morde, als sie am anderen Morgen beieinander saßen. Sie saßen ganz dicht zusammen und redeten dies und jenes. Ihre Hände und Schultern berührten sich oft dabei, und ein Schimmer lag in ihrer Augentiefe. Sie lächelten auch wohl, aber sie sahen sich kaum einmal an, nur ganz selten gingen die Blicke des einen über den andern hin oder an ihm vorüber. Es war etwas Verschämtes in ihrer beider Wesen und Gehaben, ohne daß sie es selber wußten. Man hätte glauben können, daß sie gestern erst Mann und Frau geworden wären, und ein heißes aber doch scheues Glücksgefühl lag in ihnen. Einmal legte Serafina ihren Kopf an Severos Schultern und schloß die Augen. Und da schoß es ihr durch den Kopf: »Daß es nicht immer so hat sein können! Daß erst dies hat geschehen müssen!« Aber es war kein Bedauern und keine Reue in ihr, nur ein großes Erstaunen. Und sie war stolz auf Severo, sie bewunderte ihn. Er war für sie nun erst wieder zu dem geworden, den sie immer in ihm gesehen, als den sie ihn allein unter all' den Männern geliebt hatte, die je um sie geworben.

Severo war aufgestanden, er mußte fort. Kaum je war er so ungern gegangen, wie heute. Serafina ging eine Strecke weit mit ihm hinab. Als sie an Pietro Mariani's Anwesen vorbeikamen, sagte Severo: »Der ist auch einer von denen, auf die man Verdacht wirft.«

Sie verstand erst gar nicht. Dann begriff sie, daß es ihm genau so ging, wie ihr, und er sich innerlich ohne Aufhören mit dem Morde beschäftigte, – trotzdem er nichts davon sprach oder vielleicht gerade darum. Und sie begriff auch, daß es ihm Pein verursachte, wenn man einen andern verdächtigen wollte. »Der!« sagte sie in wegwerfendem Ton und machte eine verächtliche Armbewegung. Darüber sollt' er sich nicht grämen.

Dann trennten sie sich. Severo mußte stark ausschreiten, weil er sich etwas versäumt hatte. Er blieb aber unten, wo vor dem Dorfe der Weg links zu den Brüchen abbog, doch noch einen Augenblick stehen und blickte zu Serafina hinauf. Von hier konnte er sie zum letztenmal sehen. Und wie sich ihre hohe, stolze Gestalt auf dem sich emporwindenden Pfade vom Hintergrunde des lichtblauen Morgenhimmels abhob, war's ihm wunderlich und unbegreiflich, denken zu sollen: »Die da hat Blut vergossen, – die ist eine Mörderin!« Kopfschüttelnd, mit einem gelinden Grausen in der Seele schritt er rascher talab. Erst als er Hacke und Bohrer wieder rüstig drunten im Gestein handhabte, ward ihm leichter zu Mute, und ein Nachgefühl von genossenen Wonnen war in ihm.

Wenn man nur nicht auch heute wieder unablässig von dem Morde geredet hätte! Aber heute war es noch weit schlimmer damit als gestern, wo viele noch garnichts von dem Geschehenen gewußt hatten oder doch die näheren Umstände nicht kannten. Heute schwirrte es den ganzen Tag davon um ihn der. Zwischen dem Feilen und Sägen unterhielten sich zwei, die in seiner Nähe arbeiteten, über Aristide Vomero's Ermordung, und wenn er vor dem Explodieren einer Mine seinen Schutzwinkel aufsuchte, redete man ihn darauf an, wollte von ihm erfahren, ob er nichts Näheres berichten könne. Und nun sogar während der Mittagsrast! Wie das hin und herging!

Ein Dutzend unsicherer Gerüchte, aufgebauscht, entstellt und zurechtgeflickt, flog von Mund zu Mund. Die lebhafte Fantasie dieser großen Kinder erhitzte sich daran, schwelgte förmlich in dieser Bluttat. Es war zum Verzweifeln. Man mußte freilich denken, daß Aristide Vomero kein gewöhnliches Menschenkind sondern sozusagen eine Standesperson gewesen war, die jedermann geachtet und gefürchtet hatte und deren Einfluß weit reichte. Auch mußte man erwarten, daß um seinetwillen die Bluttat in Gerichtskreisen vielmehr Aufsehen machen werde, als sonst, und daß man sich die Entdeckung und Bestrafung des Mörders ganz besonders werde angelegen sein lassen. Severo hätte am liebsten kein Wort mehr über das Ereignis gehört. Es war geschehen, hatte geschehen müssen, – nun hätte man darüber fortgehen sollen, hätte versuchen sollen, es zu vergessen. Statt dessen wuchs das Interesse daran erst jetzt und bis in's Unabsehbare. Er sah auch ein, daß er nicht, wie bisher, sich schweigsam und ablehnend gegenüber all' den Fragen und Mitteilungen verhalten dürfe, die auf ihn einregneten, weil das Verdacht erregen müsse.

Sie wunderten sich jetzt schon alle, daß er so mürrisch war, wenn sie ihn auf den Mord anredeten, daß er lieber etwas anderes gesprochen hätte. Und er war sogar unbedachtsam genug gewesen, einem, der ihm seine Vermutungen über die Täterschaft Adriano Micca's auseinandersetzen wollte, zuzurufen: »Laßt doch endlich Aristide Vomero ruhen! Er ist ja gar nicht wert, daß man soviel über ihn schwatzt. Tot ist tot. Wer's getan hat, kann uns gleich sein.« Nein, er durfte so nicht weiter sprechen, er mußte vorsichtiger sein. Aber es verdroß ihn. Als ob ihrer aller ewiges Seelenheil davon abhinge, herauszubringen, wer Aristide Vomero erstochen hatte! Nein sie sollten es nicht herausbringen!

Nun sollte Adriano Micca wieder nachweisen können, daß er von der Osterie direkt nach Hause gegangen war und also den Mord nicht verübt haben könne. Als ob er nicht nach seiner Heimkehr noch einmal fortgegangen sein konnte – und diesmal, um die Tat zu begehen! Das war's, was Severo plötzlich in das Gespräch der andern einwarf, das ihn umschwirrte. Und nun wurden alle aufmerksam, alle sahen ihn an. Ja, natürlich: Severo Rocco hatte Recht. Daß man darauf nicht eher verfallen war! Sicherlich war's so gewesen. Adriano Micca war nur nach Hause gegangen, um nachher seinen Unschuldsbeweis zu haben, hatte sich aber heimlich wieder fortgeschlichen, um seinen Racheakt auszuführen. Und mit dieser Überzeugung gingen die Männer wieder an ihre Arbeit.

Severo war aber unzufrieden mit sich selber. Wozu hatte er einen Unschuldigen noch mehr verdächtigt, als er ohnehin in der Meinung der Leute war? Gewiß sollte der wahre Täter nicht entdeckt werden, aber auch kein Unschuldiger sollte für ihn leiden. Wenn man doch endlich dieses Nachforschen hätte aufgeben wollen! Mit einer wahren Wut hieb er auf das splitternde Gestein. Aber es war schon nicht anders: er machte es gerade so, wie die übrigen. Seine Gedanken wühlten ohne Ende mit einer wahren Wollust in der Tat umher, die alle Gemüter erregte. Und wenn er sich klarmachte, daß sein Weib – es war eigentlich gar nicht auszudenken. Es war doch etwas ungeheuerliches, daß sie sich dazu hatte fortreißen lassen. Und er hatte also nun in den Armen einer gelegen, die Blut vergossen hatte, – Menschenblut.

Das ließ ihn gar nicht los, er mochte hämmern und hämmern, soviel er wollte. Es war so töricht, daran zu denken. Er schimpfte auf die andern und machte es selber nicht besser. Und dann fiel ihm plötzlich auch wieder ein, daß gestern einer gesagt hatte, wenn man alle die Ehemänner einsperren wollte, deren Frauen Aristide Vomero zu nahe gekommen sei, müsse man ihn, Severo Rocco, gleichfalls einsperren. Dies freche Geschwätz! Serafina hatte es getan, weil sie Ruhe haben wollte, weil sie diesem Getuschel und Gewisper ein Ende machen wollte, weil alles zwischen ihr und Severo wieder werden sollte wie früher. Weil er es nicht getan hatte, hatte sie es getan, tun müssen. Das machte ihn mitschuldig, das band ihn an diese Tat. Aber nicht, daß sie sich vor ihm hätte retten wollen, daß sie schwach gewesen wäre, sich schwach gefühlt hätte vor diesem Verführer! Wer wagte ihr das nachzusagen? Hatte ihr das jemand nachgesagt?

Er blickte wild um sich, er wußte es nicht. Es wär in ihm selber aufgestiegen und er sprach es zur Ruhe, – er hämmerte es zur Ruhe. Nein, nein, nicht deshalb, nicht deshalb hatte sie es getan! Oder gar, weil sie schon schuldig geworden war und den Zeugen und Mitwisser ihrer Schuld deshalb vernichten wollte, – sich an ihm rächen, ihren Zorn, ihre Reue, ihre Empörung in seinem Blut auslöschen und abwaschen wollte. Was das alles für wilde, wahnsinnige Gedanken waren!

Es lag ja ganz offenkundig vor seinen Augen da, warum sie es getan hatte. Aus demselben Grunde, der auch ihn bestimmt hatte, ein Ende zu machen, ihm das Messer in die Hand gedrückt hätte, wenn er Aristide Vomero am nächsten Tage noch einmal hätte von Serafina sich davonschleichen sehen. Sie hatte ihn davor bewahrt, war ihm zuvorgekommen, die Madonna hatte es so gewollt. Wahrscheinlich, weil Serafina als Täterin viel eher unentdeckt bleiben konnte, als er hätte bleiben können. Kein Mensch traute ihr jetzt die Tat zu, kein Mensch dachte bei dieser Tat an sie, während man ihn wahrscheinlich früher oder später ebenso verdächtigt hätte, wie jetzt die andern. Und das hatte die himmlische Jungfrau nicht gewollt, damit nicht auch nach dieser Tat, die sie doch zugelassen hatte, sein und Serafina's Glück zerstört blieb. So war's, so durfte er sich's zurechtlegen und ruhig sein.

Aber doch blieb aus all' diesen Grübeleien ein Stachel in ihm zurück. Bis eine Frau sich zu so etwas entschloß, wovor ein Mann zurückgeschreckt war, mußte doch etwas Gewaltiges in ihr vorgehen, mußte sie doch erkannt haben, daß es nichts anderes mehr gab, geben konnte, als das. Denn ein Weib trachtete nicht nach Blut, – auch Serafina nicht, trotzdem sie eine der stärksten und kraftvollsten ihres Geschlechts war. Eine Todsünde blieb es doch immer. Und er, Severo, mußte ihr nun helfen, sie zu tragen. Viel beten, viel gutes tun, sanft und nachgiebig sein und seine Natur bezwingen, – das würde seine vornehmlichste Pflicht fortan sein.

Er war froh, als die Tagesarbeit zu Ende war. Hier bei dem Hämmern und Bohren für sich allein summten einem die törichten Gedanken durch den Kopf, wie aufgescheuchte Bienen. Es macht einen ganz verrückt. Wenn er nur erst wieder bei Serafina war! Und er würde heute noch zärtlicher und milder gegen sie sein als gestern. Denn mit um ihn hatte sie es doch getan und weil er selber gezögert hatte. Und nun wagte sie es nicht einmal, sich gegen ihn auszusprechen. Was sie für eine Last mit sich herumtragen mußte!

Auf dem Heimweg wurde von den Steinarbeitern wieder allerlei über den Mord und die vermutliche Täterschaft geredet, aber Severo hörte gar nicht mehr zu. Er hatte es satt und genug zu tun mit seinen eigenen Gedanken. Endlich rief ihm einer zu: »Du bist so griesgrämig, Severo, als tät's Dir leid, daß Aristide Vomero hin ist!« Nun lachte er hell auf. Es war ja auch wirklich zum Lachen und unglaublich töricht von ihm, daß er sich mit Grübeleien, die doch sonst nicht seine Art waren, das freudige Bewußtsein trübte, jetzt frei aufatmen zu können.

Das Lachen hatte ihm den Kopf plötzlich klar gemacht. Er beteiligte sich jetzt am Gespräch der andern, wenn auch nur in überlegen spottender und scherzender Weise, mit der er ihre selbstzufriedenen Behauptungen bezüglich des Mörders abtat und langte endlich in gehobener Stimmung zu Hause an. Auch der morgige Sonntag wirkte belebend voraus; morgen würde man einmal rasten und in Ruhe seines Lebens froh werden können. Im Grunde war es ja auch lustig, alle diese Menschen sich um die Entdeckung des Mörders mühen zu sehen und sie ihre wichtigsten Gründe für die Täterschaft des einen oder anderen vorbringen zu hören, während man doch selber wußte, daß sie alle in die Irre liefen. Es gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und reizte ihn fast, diese Leute, die so klug sein wollten und sich auf ihre Entdeckungen so viel einbildeten, zu foppen. Er mußte sich schließlich noch in acht nehmen, daß er nicht in seinem Übermut sich hinreißen ließ, ihnen einen Streich zu spielen und sich so zu verraten.

Stürmisch schloß er im Hause Serafina in seine Arme. Sie hatte ihn an der Schwelle schon erwartet, aber es kam ihm vor, als ob sie nicht ganz so rückhaltslos und unbefangen hingebend gegen ihn sei, wie diesen Morgen noch. Fing jetzt bei ihr die Furcht vor der Entdeckung an, die er selber schon überwunden hatte? Oder drückte es sie, daß sie nicht wußte, wie er über ihre Tat dachte? Es war etwas Ernstes und Verhaltenes in ihrem Wesen, das heute Morgen noch nicht dagewesen war, gerade als wäre sie sich über etwas innerlich nicht ganz im klaren, was sie lebhaft beschäftigte. Er aber verdoppelte nur seine Zärtlichkeiten gegen sie, um ihr zu zeigen, daß er alles wisse und begreife, und daß nun alles gut sei und sie sich nicht ängstigen solle. »War jemand hier?« fragte er dann in dem Gedanken, daß sie einen unliebsamen Besuch gehabt haben könne, der ihr bange gemacht habe wegen der Entdeckung ihrer Tat.

Sie faßte seine Frage aber falsch auf oder mochte daran denken, daß er früher – noch vorgestern – immer so gefragt hatte, um zu hören, daß Aristide Vomero dagewesen sei. Ihre Stirn faltete sich. Wollte er sie daran mahnen, wie es sonst gewesen war und was er getan hatte, um ihr und sich Frieden zu schaffen? Es war wahrlich nicht vonnöten. Nur zu viel hatte sie heute tagsüber daran denken müssen, daß er es getan hatte und daß er keinen andern Ausweg gesehen. Nach einer Weile erst erwiderte sie: »Sora Gioconda ist von Siriano heruntergekommen und hat bei mir gesessen.«

»Was die wieder alles zu schwatzen gehabt haben wird!«

Serafina zuckte die Achseln. »Zum einen Ohr hinein, zum andern hinaus. Zornig ist sie ja immer auf mich. Auf wen freilich nicht! Schon weil wir keine Kinder haben, sind wir ihre Todfeinde. Aber schwatzen muß sie, wenn sie vorbeikommt.«

»Und nun gar jetzt, wo der Mord verübt ist!« sagte Severo.

Sie erwiderte nichts und sah ihn auch nicht an. »Davon hat sie doch gewiß eine Stunde lang schwatzen müssen,« fuhr er fort, in dem Wunsche beharrend, zu hören, ob jemand Serafina Angst gemacht habe. Als sie auch nun nichts entgegnete, brach er aus: »Wen gibt denn die als den Mörder aus, die alte Schwatzbase?«

»Die verdächtigt das halbe Dorf,« sagte Serafina gleichmütig.

»Hätt' ich mir denken können! Aber sie machen es ja alle nicht viel anders. Den Mörder bringen sie diesmal nicht heraus, – diesmal nicht. Jeder ist verdächtig.«

Serafina nickte. »Glaub' ich auch. Und es ist ja auch gut so. Der soll nicht bestraft werden, der Aristide Vomero erstochen hat.« Sie hatte erregt gesprochen und stand jetzt auf.

»Du hast Recht,« sagte Severo. »Wer ihn erstochen hat, ist kein Mörder. Dem ist's nur geworden, wie er's verdient hat.«

Serafina war in die Küche gegangen, ohne noch etwas zu erwidern. Nach einer Weile aber kam er ihr dorthin nach, was ganz gegen seine Gewohnheiten war und legte ihr von rückwärts her, während sie, vom Feuer angestrahlt, in dem brodelnden Dreifuß rührte, die beiden Arme um den Leib, um sie so sacht an sich zu ziehen. »Du Serafina!«

»Was ist's?«

»Meinst Du nicht, wir sollten Sora Gioconda versöhnen?« flüsterte er.

Sie verstand ihn nicht gleich. »Wie? Was hat denn sie –?«

Er küßte sie auf den Nacken. Dann lachte er, – seltsam heiß und leise. Nun verstand sie.

»Wenn die heilige Jungfrau es will!« sagte sie nach einer kleinen Weile ernst, beinahe feierlich. »Aber jetzt laß mich los, ich muß die Hände frei haben.«

Er ließ sie los und ging in die Stube hinüber. Er wußte nicht, daß sie ihre Kinderlosigkeit schon lange als einen Fluch empfand und daß sie die Madonna gebeten hatte, ihr jetzt dadurch, daß sie ihr ein Kind schenkte, zu bezeugen, daß Severos Tat ihm verziehen werden solle. Serafina fürchtete, als sie mit dem Abendessen kam, daß Severo weiter auf das gleiche zurückkommen werde, was er ihr in der Küche zugeraunt hatte. Und sie wollte davon nicht reden, – davon so wenig, wie von dem Morde. Es war ihr wie etwas Heiliges, an das man nicht tasten durfte. Aber Severos Gedanken schienen schon längst wieder davon abgelenkt zu sein, denn er fragte während des Essens plötzlich: »Ist er schon begraben?«

Sie zuckte leicht zusammen. Immer und immer wieder kam er auf diesen Toten zurück. Er konnte nicht davon los, all' sein Denken kreiste um dies eine. Wer nicht gewußt hätte, daß er der Täter war, wie leicht hätte er es dem gemacht, es zu erraten! »Aristide Vomero wird heute abend begraben,« sagte sie.

Ja, natürlich. Es war töricht, daß er gefragt hatte. In Borgunto begrub man die Toten immer erst nach Beginn der Dunkelheit. Er aß weiter, aber er sagte dabei: »Das wird ein Begräbnis geben!«

Darauf entgegnete sie nichts. Er würde doch wohl endlich von diesem Toten loskommen. Aber nein. Richtig fing er nach einer Weile wieder an: »Haben sie Adriano Micca schon verhaftet?«

Serafina hatte von Sora Gioconda gehört, daß dies nicht der Fall sei. Nur verhört hätten sie ihn, ihn und Pietro Mariani und Pippo Lamberti. Aber man hatte sie vorläufig alle drei wieder laufen lassen, denn es sei ihnen nichts nachgewiesen, sie sollten sogar Zeugen dafür genannt haben, daß sie aus der Osterie alle drei geraden Wegs nach Hause gegangen waren. Es sollten nun noch zahlreiche andere verhört werden, hieß es. Die Untersuchung werde mit ungewöhnlichem Eifer und großem Nachdruck betrieben. Wahrscheinlich werde der Sindaco von Borgunto eine namhafte Belohnung aussetzen für die Entdeckung des Täters. Man hatte von fünfhundert Lire gesprochen. Serafina hatte alle diese Nachrichten von Sora Gioconda. Und mit einem Mal sagte sie: »Vielleicht verhören sie Dich auch noch, Severo.«

Er fuhr vom Tisch zurück, die beiden Hände um die Platte desselben geklemmt. »Mich?« Seine Brauen furchten sich. »Wieso mich? Wie kommst Du darauf? Wer sagt das?«

»Das braucht Dich doch nicht zu erschrecken,« sagte sie begütigend. »Dem entgeht kaum einer diesmal.«

»Hat Sora Gioconda das gesagt?« fragte er zornbebend.

»Ja,« sagte sie. Aber es war nicht wahr, sie hatte es aus sich selber. Sie begriff auch seine Empörung nicht recht. Darauf mußte er doch gefaßt sein! Und was konnte man ihm denn beweisen? Oder hatte er einen Zeugen seiner Tat? Gab es Spuren, die auf ihn deuteten? Das wäre furchtbar gewesen.

Severo schüttelte seine Faust drohend in der Luft. »Der werd' ich's eintränken.« Erst nach einiger Zeit konnte er weiteressen und hatte sich soweit beruhigt, um zu knurren: »Mich sollen sie in Ruh' lassen.«

Nun strich sie ihm mit der Hand über die Stirn hin. »Du, wenn's aber doch nicht anders ist, nachher mußt Dich nicht durch Deine Wut unnötig in Verdacht bringen. Das ist eine Gefahr. Denk' Du d'ran!«

Wie sie klug war! Klug und bedacht. Er sah sie voller Bewunderung an. Ja, sonst hätte sie diese Tat auch nicht begehn können, ohne sich verdächtig zu machen. Er – er hätte es nicht gekonnt, er würde sicher entdeckt werden. »Hast recht,« sagte er. »Was können sie mir auch? Aber ich glaub' garnicht einmal daran.« Dann beendeten sie ihre Mahlzeit.

Als er noch einmal vor die Tür hinaustrat, um seine Pfeife zu rauchen, die er sich am Abend vor Sonntag gönnen durfte, weil er morgen schlafen konnte, solange er wollte, hörte er drunten im Dorf die Glocken gehn. Er nahm den Hut vom Kopf und bekreuzte sich. Es fiel ihm ein, daß es mit dem vielen Beten, das er sich vorgenommen, bisher noch nichts geworden war. Beinahe scheu blickte er zu dem Madonnenbildnis in der Mauernische hinüber. Noch nicht einmal gedankt hatte er ihr, daß sie ihn davor bewahrt hatte, Blut zu vergießen. Freilich: um den Preis, daß nun Serafina es vergossen hatte. Es war eine merkwürdige Schickung. Und wenn er es recht bedachte –

Der Wind trug die langgezogenen Töne der Litaneien zu ihm herauf. Dann sah er Fackelschein durch das Dunkel sprühen und ein dumpfes Summen und Surren drang empor. Jetzt begruben sie Aristide Vomero. Es würde sicherlich ein großes Begräbnis werden, alle Welt auf den Beinen, die Brüderschaften aller umliegenden Orte mit ihren Fackeln im Zuge, alle Priester im Ornat und eine feierliche Einsegnung der Leiche in der uralten, romanischen Kathedrale unter Assistenz aller hundert oder mehr Priesterzöglinge aus dem daneben befindlichen Seminar. Man sollte doch das mit ansehen, so etwas bekam man nicht alle Tage zu sehen. Das wachsende Geräusch, das von unten heraufscholl, machte ihn unruhig und trieb ihn gleichsam mit fort. Serafina freilich konnte wohl nicht – sie würde es ihm sogar verübeln, wenn er ging. Aber – und nun machte er schon ein paar Schritte talab und so leise wie er konnte.

Aber sie hörte ihn doch. Sie war in die Tür getreten und sah ihn und erriet, wohin er wollte. »Severo!« rief sie, »Du willst zum Begräbnis hinab?«

Es lag ein solches Entsetzen im Klang ihrer Stimme, daß es ihn durchfuhr. Aber es ließ auch seinen Trotz wachsen. Warum sollte er denn nicht? »Ja, ich gehe hinunter,« rief er zurück. »Es wird sehr schön sein.«

Sie verharrte einen Augenblick lautlos auf der Türschwelle. Sie begriff nicht gleich, was das bedeute, wie er das tun konnte. Dann fuhr es ihr durch den Kopf: er muß das tun, weil man sonst Verdacht schöpfen könnte, er allein darf sich nicht ausschließen, alle werden da sein. Und nun rief sie ihm nach: »Wart' doch, ich komme mit.« Wenn er denn schon einmal ging, sollte er nicht allein gehn. Sie gehörte zu ihm, jetzt und immer. Und im Grunde bewunderte sie ihn nicht wenig, daß er das über sich vermochte, jetzt zu Aristide Vomeros Begräbnis zu gehn, daß es ihm gar nicht davor zu grausen schien. Sie bewunderte ihn, aber es rann ihr auch etwas kalt dabei über den Nacken hin, es entfremdete ihn ihr um etwas. Sie hatte das nicht von ihm gedacht, sie fand ihn anders, als er hätte sein müssen nach dem, wie sie sich ihn vorgestellt. Denn ein Mord war es ja doch immerhin gewesen, den Severo begangen hatte. Ein notwendiger Mord, ja, – aber wenn man fragte, was Aristide Vomero denn eigentlich getan und warum er den Tod verdient hatte, wußte man keine Antwort.

»Du! Du willst mit?« Severo war stehn geblieben. Er war eher verlegen, als erschrocken. Was sollte das? Wozu zwang sie sich dazu? Sie wollte doch nicht etwa gar vor ihm selber Komödie spielen? Sie dachte doch nicht, weil er nie etwas zu ihr von dem Ungeheuerlichen sprach, was sie getan, er wisse es nicht! Beinahe wäre er wieder umgekehrt, nur um ihr den Zwang zu ersparen, den sie sich antat. Aber dazu war er doch zu trotzig. Warum ließ sie ihn auch nicht allein gehn? »Du, – Du bist aber neugierig!« sagte er mit dem Versuch, zu scherzen, fühlte aber selber, daß dieser Versuch plump ausfiel. Serafina erwiderte nichts.


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