Hermann Sudermann
Frau Sorge
Hermann Sudermann

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Am nächsten Vormittag stand er hinter dem Schuppen im Schnee und sah nach Helenenthal hinüber, wo ein dunkler Leichenzug zum traurigen Gang sich rüstete. – Zweimal war er in den Stall gegangen, den Knechten zu sagen, daß sie den Schlitten anspannen möchten, und beide Male war ihm das Wort in der Kehle steckengeblieben.

Nun stand er da, hielt die Hände gefaltet und sah zu, wie auf der weißschillernden Heide eine lange schwarze Schlangenlinie dahinkroch, welche kleiner und kleiner ward und schließlich hinter dem Wald verschwand, denn der Kirchhof von Helenenthal lag weitab auf dem Weg zur Stadt hin.

»Wie schön wär's«, dachte er, »wenn sie sich auch unter den drei Fichten begraben möchten! – Dann würde die Mutter gute Nachbarschaft haben und...«

Er schrak zusammen, denn blitzschnell hatte sein Hirn sich ausgemalt, wie er dann an einem schönen Frühlingsabend alldort mit Elsbeth hätte zusammentreffen können, welche käme, an dem Grab zu sitzen, das ihr gehörte, wie er zu dem seinen.

»Aber es ist gut so, wie es ist«, sprach er vor sich hin, »wie könnte ich je den Mut finden, ihr wieder ins Auge zu sehen? – Ich, der ich des Nachts am Wege lagere, um meinen liederlichen Schwestern Männer zu besorgen!«

Da plötzlich kamen die Zwillinge atemlos dahergelaufen – sie zitterten am ganzen Leibe und rangen nach Worten. –

»Was habt ihr, Kinder?«

Grete verbarg den Kopf an seiner Schulter, und Käthe zog die Luft durch die Nase aus und ein wie ein Kind, welches das Weinen verbeißt.

»Sie sind da«, stammelte sie, und dann fingen beide zu schluchzen an.

»'s ist gut«, erwiderte Paul und küßte sie.

»Kommst du nicht ins Haus?« fragte Käthe, an ihrer Schürze saugend.

»Wo habt ihr sie denn gelassen?«

»Sie reden mit dem Vater.«

»Aha – das hört sich schon anders an. – Lauft in eure Kammer – ich komme gleich.«

»Und das um welchen Preis?« murmelte er, indem er ihnen nachschaute, dann warf er noch einen Blick nach Helenenthal hinüber und schritt in den Schuppen, wo die schwarze Suse stand. – »Es ist Zeit, daß du lebendig wirst«, sagte er, ihren schwarzen Leib streichelnd, »wir werden wacker schuften müssen, du und ich, wenn wir den Margellen die Mitgift schaffen wollen.«

Als er das Haus betrat, hörte er die lautschallende Stimme des Vaters sich entgegendringen.

»Bin doch neugierig, wie sie sich benehmen«, sagte er und lauschte.

»Ja, ein Pinsel ist er und ein Pinsel bleibt er, meine Herren! Was ich im großen ausgedacht habe, vollführt er nun in seiner kleinlichen, krämerhaften Manier. Mir hat sich das Herz im Leibe umkehren wollen, wenn ich ihn an der Maschine herumbasteln sah, als wär' es eine Weidenpfeife. Und dabei geht die Wirtschaft immer weiter rückwärts. – Oh, meine Herren, Sie sehn mich hier als Krüppel, als elenden, zugrundegerichteten Krüppel, aber wenn ich noch das Zepter führte, meine Herren, Tausende wollt' ich aus der Erde stampfen, nicht minder wie Vanderbilt, der Amerikaner, dessen Lebenslauf in diesem Kalender so lehrreich beschrieben steht.«

»Können Sie die Leitung der Geschäfte nicht von ihrem Stuhl aus besorgen?« fragte die Stimme Ulrichs.

»Oh, meine Herren, sehen Sie meine Tränen! – Ich vergieße sie über das undankbarste, ungeratenste Kind, welches die Erde trägt. In diesem Kalender ist die Geschichte eines Sohnes geschrieben, der seinen in der Wüste verschmachtenden Eltern mit Gefahr seines Lebens einen Trunk Wasser aus Räuberhänden holt... aber was tut er? Wie ich hier sitze, meine Herren, bin ich nicht imstande, Ihnen auch nur ein Schnäpschen anzubieten, ein Kümmel- und Ingwerschnäpschen, wie ich es so gerne trinke.«

»Wir werden es Ihnen künftig mitbringen«, versicherte Fritz.

»Oh, warum hat Gott mir nicht zwei solche Söhne geschenkt, wie Sie es sind? Und denken Sie, nie fragt er mich, die Küche verschließt er vor mir – es wundert mich, daß ich nicht schon Hungers gestorben bin. – Nun, Sie kennen ihn ja von Kindesbeinen an – war er nicht immer ein roher, tückischer Patron?«

»O ja, er hatte stets etwas Gewalttätiges an sich«, meinte Ulrich. »Und mit Pistolen und Peitschen hantierte er besonders hinterrücks«, fügte Fritz hinzu.

»Besonders hinterrücks – hahaha, das trifft ihn, das ist seine Art. Oh, meine Herren, ›Geheime Tücke führt nimmer zum Glücke‹, so heißt ein Sprüchlein in diesem Kalender, und wenn der Himmel mich noch einmal gesund werden läßt, dann sollen Sie sehen, wie ich Rache nehme, zuerst an dem Schurken, dem Brandstifter, dem gemeinen Kerl, dem ich mein ganzes Elend verdanke, und dann auch an dem Herrn Sohn, der seinen Vater so schlecht behandelt. Enterben tu' ich ihn! Vom Hof jag' ich ihn! – Hab' ich recht, wenn ich das tue, meine Herren?«

»Ganz recht«, erklärten beide.

»Guten Tag auch«, sagte Paul, hervortretend. – – –

Die drei schraken zusammen. Der Vater duckte sich scheu in seinem Sessel, wie ein Hund, der Schläge fürchtet, die Brüder streckten ihm sehr verlegen und sehr demütig die Hände entgegen und baten, er möchte alles vergessen sein lassen.

»Warum nicht«, erwiderte er, seinen Widerwillen bezwingend. »Ihr wißt ja nun den richtigen Weg.«

Als die beiden ihre Werbung vorbrachten, erwachte in dem Alten die Großmannssucht stärker denn je. »Meine Herren«, sagte er, die Stimme in der Kehle quetschend, damit sie würdiger klinge, »Ihr Antrag ehrt mich selbstverständlich, aber ich bin nicht in der Lage, ihn mit ja zu beantworten. Erst bitte ich um vollgültige Bürgschaft, damit ich weiß, welches die Zukunft meiner Töchter ist, welche durch Schönheit und Liebenswürdigkeit wie auch durch fleckenlose Tugend für ein glänzendes Schicksal geschaffen sind. Ich habe sie so sorgfältig erzogen und so liebevoll über sie gewacht, daß mein väterliches Herz sich nicht entschließen kann, sie ohne weiteres fortzugehen.«

In diesem Ton schwadronierte er weiter, bis Paul ruhig sagte: »Laß nur, Vater, die Sache ist bereits abgemacht.« – Da schwieg er, innerlich hochbefriedigt, eine so glänzende Rede an den Mann gebracht zu haben. – – –

Nachmittags ging Paul in die Kammer der Schwestern und sagte: »Kinder, betet ein Vaterunser – Frau Douglas wurde heute begraben.«

Sie sahen ihn mit großen, freudeglänzenden Augen an, und um ihre Lippen glitt ein verträumtes Lächeln.

»Habt ihr mich nicht verstanden?«

»Ja«, sagten sie leise und erschrocken und drückten sich aneinander, als fürchteten sie die Rute. – Er ließ sie allein in ihrem Glück und schritt in den klaren, kalten Wintertag hinaus. »Wie kommt es nur«, dachte er, »daß jetzt ein jeder Angst vor mir hat und keiner versteht, wie ich's meine?«

An demselben Tag jagte er die Knechte davon und schrieb an den Meister, er möchte morgen kommen, die Arbeit wiederaufzunehmen. – – –

 

Noch in derselben Woche trat Tauwetter ein, rasch ward nun das Werk gefördert, und eines Freitagabends, zu Anfang März, stand die schwarze Suse blitzblank in ihrem neugeflickten Gewande da. – Am nächsten Morgen sollte der Kessel probiert werden, und Holz und Kohlen lagen bereits aufgeschichtet an den Wänden des Schuppens.

Schlaflos wälzte sich Paul in seinem Bett. Träge schlichen die Stunden dahin – eine Ewigkeit qualvollster Erwartung lag zwischen Mitternacht und Morgengrauen...

»Wird sie lebendig werden? Wird sie...?«

Die Uhr schlug eins – da hielt er sich nicht länger, kleidete sich an und schlich, die flackernde Laterne in der Hand, in die naßkalte Märznacht hinaus. Der Wind fing sich in seinen Kleidern, und der eisige Sprühregen schlug ihm seine Geißeln ins Gesicht.

Aus dem dunkeln Schuppen glotzte die schwarze Suse ihm mürrisch entgegen, als wolle sie nicht dulden, daß man ihre letzte Nachtruhe störe... Die Laterne warf einen gespensterhaften Schein über den unwirtlichen Raum, und die Schatten der Maschine tanzten bei jeglichem Flackern in grotesken Sprüngen auf der gelben Bretterwand.

»Ob ich den Meister wecke?« dachte Paul. »Nein, mag er schlafen, ich will den Schmerz oder die erste Freude für mich allein haben.«

Prasselnd flogen die Kohlenhaufen in den schwarzen Schlund... Ein blaues Flämmchen zuckte auf, züngelte ringsumher, und bald erfüllte rötliche Glut den finsteren Raum... Trübe blinzelte die Laterne von der Wand hernieder, als sei sie neidisch auf den warmen, frohen Feuerschein.

Paul setzte sich auf einen Kohlenhaufen und schaute dem Spiel der Flammen zu... Die Tür der Feuerung begann sich rötlich zu färben, und durch den Rost sanken, funkensprühend, halbausgeglühte Schlacken.

Paul hörte sein Herz klopfen, und wie er seine Hand beruhigend daraufpreßte, fühlte er in der Brusttasche Elsbeths Flöte. Er hatte sie an dem Tag, da die Arbeit wiederaufgenommen wurde, auf der Lokomobile liegend gefunden und seitdem bei sich getragen.

»Ob ich auch das wohl noch lernen werde?« fragte er in banger Freudigkeit über das bisher Errungene. – Er setzte die Flöte an den Mund und versuchte zu blasen – die Minuten schlichen langsam, er mußte sich die Zeit vertreiben. – Aber die Töne, die er hervorrief, klangen hohl und gequetscht – eine Melodie ließ sich noch weniger zusammensetzen.

»Ich lern's doch nicht mehr«, dachte er. »Was ich für mich selber tue, mißlingt – das ist nun einmal Gesetz in meinem Leben. Für andere muß ich säen, wenn ich ernten will.«

Aber trotzdem setzte er die Flöte wiederum an die Lippen. »Es wäre schön«, dachte er, »wenn ich ein Künstler geworden wäre, wie Elsbeth es mir prophezeite, anstatt daß ich hier Maschinen anheize.« – Ein Schauer der Erregung durchrieselte ihn.

»Wird sie lebendig werden? Wird sie...?«

Ein neuer quäkender Ton entrang sich der Flöte. »Brr«, sagte er, »das geht durch Mark und Bein. Lieben und Flötespielen werd' ich wohl anderen überlassen müssen.«

Und in diesem Augenblick erhob sich im Innern der schwarzen Suse jenes geheimnisvolle Singen, das ihm all die Jahre hindurch treu in der Erinnerung geblieben. Es klang, als sängen die Schicksalsschwestern unter dem Eschenbaum.

»Hei, das ist 'ne schönre Musik!« rief er aufspringend und schleuderte die Flöte von sich... Die eiserne Tür klirrte... Neue Kohlenhaufen verschlang der glühende Rachen... Die Schaufel flog rasselnd auf den Boden.

»Sie werden im Haus erwachen«, dachte er, für einen Augenblick erschrocken, »aber mögen sie, mögen sie!« fuhr er fort. »Es gilt ja ihr Glück, ihre Zukunft.«

Lauter und lauter wurde das Singen, da faßte ihn plötzlich der Übermut, daß er hell zu pfeifen begann. – »Wie gut das klingt! Ja, wir verstehen uns auf das Musikmachen – wir sind stramme Musikanten, Suse – was?«

Der Schlot gab mächtige Wolken schwarzen Qualmes von sich, die wie ein Baldachin sich unter der Decke verbreiteten, wogend und schwellend, als führe ein Sturmwind durch die Falten... Das eine der Ventile ließ einen leisen, zischenden Ton vernehmen, und ein weißes Dampfwölkchen spritzte empor, das sich rasch mit dem schwarzen Rauch vermischte... Lauter und lauter wurde das Zischen, weiter und weiter rückte der Zeiger im Manometer...

»Jetzt ist's Zeit...!«

Mit zitternden Händen tastete er nach dem Hebel... ein Ruck... ein Schwung... und wirbelnd, wie von Geisterhänden gejagt, kreiste das Rad in die Runde.

»Viktoria – sie lebt – sie lebt!«

Nun mögen sie hören, mögen kommen! Seine Hand zerrt an der Klappe der Dampfpfeife, und gellend ruft ihr Schrei in die Nacht hinaus: »Ich leb', ich lebe!«

Da faltete er die Hände und murmelte leise: »O Mutter, das hätt'st du noch erleben müssen.« Und wie er das sagte, kam es plötzlich über ihn, als wäre auch dieses vergebens, als säße auch ihm der Tod im Nacken und schrie ihm ins Ohr:

»Du stirbst, du stirbst – ohne gelebt zu haben.«

»Noch hab' ich zu schaffen«, sagte er mit feuchtem Auge, »erst will ich die Schwestern glücklich wissen – denn bleiben sie arm, so werden sie roh behandelt – erst will ich den Hof in Pracht erstehn sehn, dann mag er kommen.« –

Und wie die schwarzen Wolken ringsum, so türmten sich aufs neue Jahre der Knechtschaft, Jahre des Ringens, des Sorgens vor seinem Blick empor.

Mit verschlafenen Gesichtern tauchte die Hausgenossenschaft im Tor des Schuppens auf, auch die Schwestern fanden sich ein und standen in dem Qualm und dem Feuerschein ängstlich aneinandergeschmiegt, in ihren weißen Nachtkleidchen anzuschauen wie zwei blasse Rosen an demselben Stengel.

»Hier wird eure Zukunft bereitet, ihr armen Dinger«, murmelte er, indem er ihnen zunickte.

Als der Meister zur Stelle war, ging Paul in das Schlafzimmer des Vaters, der ihm aus dem Bett verstört entgegenstarrte.

»Vater«, sagte er bescheiden, wiewohl sein Herz vor Stolz sich schwellte, »die Lokomobile ist instand gesetzt; sobald der Grund aufgetaut ist, können die Arbeiten auf dem Moor beginnen.«

Der Alte sagte: »Laß mich in Ruh!« und drehte den Kopf nach der Wand.

 

Als am andern Morgen die Lokomobile ins Freie gezogen wurde, ertönte auf der Schwelle des Schuppens ein eigentümlich prasselnder, quetschender Laut.

»Es ist etwas unter die Räder gekommen«, sagte der Meister.

Paul sah nach. Da lag als ein Häuflein Trümmer, mitten durchgebrochen und plattgedrückt – Elsbeths Flöte.

Ein bitteres Lächeln zog über sein Gesicht, als wollte er sagen: »Nun hab' ich dir auch mein Letztes geopfert, nun kannst du doch zufrieden sein, Frau Sorge?«

Seit diesem Tage war ihm zumute, als sei das letzte Band zwischen ihm und Elsbeth zerrissen. Er hatte sie verloren wie sein Träumen, sein Hoffen, seine Würde, sein Selbst...

Mit Hallo wanderte die schwarze Suse ins Moor hinaus. –


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