Hermann Sudermann
Frau Sorge
Hermann Sudermann

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Es war an einem trüben, stürmischen Nachmittag im Monat November. Es fing schon an, dunkel zu werden, als er die Schule verließ und langsam die Dorfstraße entlangwanderte, um heimzukehren. Da drangen aus einer Branntweinschänke, in welcher das Gesindel der Gegend zu verkehren pflegte, gar seltsame Töne an sein Ohr. Er hatte sie nie gehört, aber er wußte sofort: das muß ein Flötenspieler sein. Horchend blieb er vor der Tür der Schenke stehen. Sein Herz klopfte ganz laut, seine Glieder zitterten. Die Töne waren ähnlich wie sein Pfeifen, aber weit voller und weicher. »So müssen die Engel an Gottes Thron musizieren«, dachte er sich.

Nur eines war ihm unerklärlich, wie dieses Flötenspiel, das so klagend und sehnsüchtig klang, an einen so verrufenen Ort geraten konnte. Das Schreien und Johlen und Gläserklirren, das zwischendurch erscholl, tat seiner Seele weh, ein plötzlicher Grimm packte ihn; wenn er groß und stark gewesen wäre, er würde hineingesprungen sein und würde die Lärmenden und Trunkenen samt und sonders auf die Straße hinausgeworfen haben, damit die heiligen Töne nicht entweiht würden.

In diesem Augenblicke wurde die Tür aufgerissen, ein trunkener Arbeiter taumelte an ihm vorüber – übelriechender Qualm drang ihm entgegen... Lauter noch wurde das Lärmen... Kaum war das Flötenspiel imstande, es zu übertönen.

Da faßte er sich ein Herz, und ehe noch die Tür geschlossen wurde, drängte er sich durch den schmalen Spalt in das Innere der Schenke... Hinter ein leeres Branntweinfaß gedrückt, stand er da... Niemand achtete auf ihn.

In den ersten Augenblicken unterschied er nichts... Dunst und Lärm hatten seine Sinne ganz benommen, und die Töne der Flöte wurden schrill und mißtönig, so daß sie seinem Ohre weh taten.

Inmitten der Schreienden und Stampfenden saß auf einem umgestülpten Fasse ein zerlumpter Kerl mit einem aufgequollenen, finnigen Gesicht, einer Schnapsnase und schwarzen, fettigen Haaren – eine Gestalt, deren Anblick Paul einen Schauder über den Leib jagte... Der war es, welcher die Flöte blies.

Wie versteinert vor Entsetzen starrte der Junge ihn an. Ihm war zumute, als sänke der Himmel ein, als ginge die Welt zugrunde. – Nun setzte der Spieler seine Flöte ab, stieß mit rauher, heiserer Stimme ein paar schmutzige Worte hervor, goß gierig den Branntwein hinunter, der ihm von den Umstehenden gereicht wurde, und begann, mit den Füßen den Takt schlagend, einen Gassenhauer zu spielen, den die Zuhörer mit Brüllen begleiteten.

Da floh Paul zur Schenke hinaus und lief und lief, daß ihm Hören und Sehen verging, als hätte er Angst, zur Besinnung zu kommen. –

Als er allein auf der Heide war, über welche die Stürme dahinsausten, und von deren Rande ein schwefelgelber Streifen abendlichen Lichtes ihm entgegenleuchtete, da hielt er inne, schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. – – –

In dem Winter, der nun folgte, stellte Paul sein Pfeifen gänzlich ein, und noch mehr war ihm das Flötenspielen verleidet. Wenn er daran dachte, stand das Bild jenes Verworfenen vor seinen Augen, der ihm seine Sehnsucht entheiligt hatte.

Elsbeth sah er fortan nicht mehr. Mit Beginn der kalten Jahreszeit war die Religionsstunde aus der Kirche in das Pfarrhaus verlegt worden, und da sich in demselben kein Raum vorfand, welcher sämtliche Konfirmanden hätte fassen können, so wurden Knaben und Mädchen gesondert unterrichtet. Bisweilen zwar sah er Elsbeths Wagen an sich vorüberfahren, aber sie selbst war so sehr in Pelze und Tücher vermummt, daß von ihrem Gesicht nichts zu erkennen war. Er wußte nicht einmal, ob sie ihn bemerkt hatte.

Zu derselben Zeit hatte er vielen Ärger mit den Brüdern Erdmann, die ihn bis aufs Blut zu quälen wußten. Er war vollständig wehrlos ihnen gegenüber, denn jeder einzelne hatte doppelt soviel Kraft als er; auch griffen sie ihn immer zu zweien an, und während der eine ihn festhielt, zwackte ihn der andere. Nicht, daß die beiden von Grund aus boshafte Geschöpfe gewesen wären, im Gegenteil, gegen die anderen wußten sie Wohlwollen und Großmut zu üben, aber gerade seine stille, in sich versunkene Natur war ihnen in tiefster Seele verhaßt. Sie schalten ihn einen Mucker, einen Kopfhänger, und wenn sie ihn geprügelt hatten, sagten sie: »So, nun zeig' uns an, das würde prächtig zu dir passen.«

Sein Groll gegen die Widersacher schwoll höher und höher. Oft machte er sich Vorwürfe, daß er sich feige und ehrlos betrüge, und beschuldigte sich niedriger, knechtischer Gesinnung. Eines Tages, als er auf dem beschneiten Hofe hin und her lief, redete er sich so sehr in Zorn hinein, daß er beschloß, sich jener bösen Brüder zu entledigen, und wenn es sein eigen Leben kostete. – Er lief in den Stall, wo der Schleifstein stand, taute das in der Bütte gefrorene Wasser auf und schärfte sein Taschenmesser, bis es einen Streifen dünnsten Seidenpapiers durchschnitt. Als er aber am nächsten Montag aufs neue durchgeprügelt wurde, fand er nicht den Mut, es aus der Tasche zu ziehen, und mußte sich aufs neue ob seiner Feigheit Vorwürfe machen. Er verschob es auf das nächste Mal – aber dabei blieb es.

Auch von dem Vater hatte er vieles zu erdulden. Derselbe trug sich neuerdings wieder mit großen Plänen, und wenn er das tat, fühlte er sich stets sehr erhaben und war auf Paul, den er um seines kleinlichen Sinnes willen verachtete, besonders schlecht zu sprechen.

»Warum ist auf den Jungen nicht der leiseste Funken meines Genies übergegangen?« sagte er. »Wie schön könnte ich ihn dann zum Handlanger für meine Pläne erziehen! – Aber – er ist zu stupide – Hopfen und Malz sind an ihm verloren.

Er hatte jetzt die Absicht, zur Ausbeutung seines Moores eine Aktiengesellschaft zu gründen, große Kapitalien aufzubringen und sich selbst zum Direktor mit soundsoviel tausend Talern Gehalt ernennen zu lassen. Er fuhr allwöchentlich zwei- bis dreimal zur Stadt und war oft am zweiten Tage noch nicht zu Hause. »Es hält schwer«, sagte er dann, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, »aber ich werde die Filze schon 'rankriegen. Auch der Douglas, der Protz, muß mir bluten. Wenn ich nur wüßte, wie ich ihn mir einmal greifen könnt'? Helenenthal betrete ich nie wieder, schon um nicht zu sehen, wie der Kerl es hat verwahrlosen lassen – denn das hat er jedenfalls –, und in der Stadt bekomme ich ihn nie zu sehen. Aber bluten – bluten muß er. Wenn er nicht einen Scheffel Aktien zeichnet, soll ihn der Teufel holen.«

Frau Elsbeth hörte das alles traurig an, ohne ein Wort zu sagen, Paul aber pflegte hinterher heimlich den Schlüssel des Schuppens vom Brette zu nehmen, um mit der »schwarzen Suse« stumme Zwiesprache zu halten. Er hatte nun einmal den Glauben, daß von ihr die Rettung käme.

Als die Osterfeiertage vorüber waren, wurde der Religionsunterricht aufs neue in die Kirche verlegt. Knaben und Mädchen kamen nach halbjähriger Trennung wieder zusammen.

Elsbeth hatte sich während des Winters sehr verändert. Sie sah nun beinahe aus wie eine erwachsene Dame. Sie trug ein halblanges Kleid und hatte das Haar über der Stirn in Löckchen aufgelöst.

Paul grüßte sie sehr beklommen; ihm war zumute, als paßte er nicht mehr zu ihr – aber sie stand von ihrem Sitze auf, ging ihm drei Schritte entgegen und drückte ihm vor aller Augen herzlich die Hand.

In der darauffolgenden Stunde wurde unter den Knaben ein Blatt herumgereicht, welches viel Heiterkeit erregte. Dasselbe trug die von allerhand Schnörkeln umgebenen Worte:

»Als Verlobte empfehlen sich:
PAUL MEYHÖFER,
ELSBETH DOUGLAS«

Die Schrift war die des jüngeren Erdmann. Pauls Hand suchte nach seinem Messer; für einen Moment war ihm zumute, als könnte er es hier mitten in der Kirche gegen seinen Nachbarn zücken; er zerrte ihm das Blatt aus der Hand und riß es in Fetzen. Elsbeth sah verwundert zu ihm herüber, und der Pfarrer rief ihn zur Ruhe. Nun erschrak er über seine eigene Kühnheit. Die Erdmänner mußten ihm wohl angemerkt haben, daß er in diesem Punkt nicht mit sich scherzen ließe, und machten keinen ferneren Versuch, ihn mit Elsbeth aufzuziehen...

Am letzten Sonntag vor Pfingsten war die Einsegnung. Paul hatte die Nacht über nicht schlafen können, vor Sonnenaufgang stand er leise auf, zog die neuen schwarzen Tuchkleider an, welche die gute Tante ihm zu diesem Feste geschenkt hatte, und machte einen Rundgang über den stillen Hof und die tauigen Felder, bis zu dem Moore hin, das mit seinem Blumengewande gar feiertäglich vor ihm lag.

Im Angesicht der aufgehenden Sonne faltete er seine Hände und sprach ein inbrünstiges Gebet. Mit diesem Tage wollte er ein neues, besseres Leben beginnen, alle Unbill vergeben und seine Feinde lieben, wie es Jesus Christus befohlen... Da fiel ihm das Messer ein, das er einst für die Erdmänner geschliffen, er riß es aus der Tasche und schleuderte es mitten in das Moor hinein, wo es mit einem gurgelnden Laute im Brachwasser versank. – Heiße Tränen stürzten aus seinen Augen. Schlecht und verworfen erschien er sich und gänzlich unwürdig, vor Gottes Altar zu treten... Kaum wagte er auf den Hof zurückzukehren, erst als die Zwillinge in ihren nagelneuen Mullkleidchen jubelnd auf ihn zustürzten, ward ihm freier und leichter... Er umarmte die Schwestern und gelobte sich im Stillen, ihnen ein treuer Helfer und Freund zu werden.

Dann kam die Mutter, mit einem verschossenen Seidenkleide angetan, küßte ihn auf Stirn und Wangen und hielt sein Gesicht lange zwischen ihren beiden Händen, indem sie ihm unverwandt in die Augen schaute. – Sie wollte etwas sagen, aber sie brachte nichts weiter zum Vorschein als: »Mein Junge, mein lieber Junge.«

Selbst der Vater war heute in rosigster Laune. Er faßte seine beiden Hände und hielt ihm eine lange Rede, wie er lernen müßte, auf das Große im Menschenleben seinen Blick zu heften und ihm, dem Vater, nachzueifern, der zwar stets vom Unglück verfolgt und von der Schlechtigkeit der Menschen ausgeplündert worden sei, der sich aber nie habe entmutigen lassen, zu den Sternen emporzustreben, selbst aus diesem elenden Loche heraus, in dem ein feindliches Schicksal ihn habe versinken lassen. Und er runzelte seine Brauen und wühlte sich in seinen Haaren, Zoll um Zoll Erhabenheit und Geistesgröße.

Paul küßte seine beiden Hände und versprach alles.

Um acht Uhr sah er auf dem Fahrweg, der über die Heide führte, eine Karosse vorbeirollen, deren silberner Zierat im Morgensonnenstrahle glitzerte.

Lange blickte er dem Wagen nach. Ihm war alles wie ein Traum... Er fühlte sich so unendlich wohl, daß ihm ganz beklommen wurde vor lauter Glück. »Womit hab' ich das verdient?« fragte er sich, und darauf fing er an nachzugrübeln, wie wohl der erste Kummer beschaffen sein werde, der ihn dieser Seligkeit entreißen würde. – Als die Zwillinge ihm ankündigten, daß der Wagen zur Kirchenfahrt bereitstände, fühlte er sich traurig und bedrückt. In dem Pfarrgarten, in welchem Jasmin und Flieder blühten und auf dessen Rasen die Sonnenstrahlen glitzerten, standen zwei Menschenhäuflein, ein schwarzes und ein weißes, gesondert voneinander. Das erste waren die Knaben, das zweite die Mädchen. Elsbeth in ihrem schneeigen Mullkleidchen, mit einem Spitzentüchlein über dem Busen, sah weiß und duftig aus wie eine Schlehdornblüte.

Ihre Wangen waren sehr blaß, sie hielt die Augen fortwährend gesenkt und spielte bald mit dem Gesangbuch, bald mit dem Fliederbüschel, welches beides sie in der Hand hielt.

Paul schaute lange zu ihr hinüber, aber sie sah ihn nicht. Sie mochte sich wohl in ihrer Andacht durch keinen weltlichen Gedanken stören lassen.

Und dann kam der Pfarrer. Die Glocken läuteten – und die Orgel rauschte –, und langsam schritt der Zug, paarweise geordnet, nach dem Altar.

Paul ging dicht hinter den beiden Erdmännern, die in ihren schwarzen langen Tuchröcken gar ernst und ehrbar dreinschauten. Plötzlich kam das Bewußtsein seiner Schuld mit erneuter Gewalt über ihn. Er beugte sich ein wenig vor, stieß sie leise in den Nacken und flüsterte mit nassen Augen:

»Vergebt mir! Ich habe euch viel Übles getan!«

Sie bohrten sich gegenseitig die Ellbogen in die Hüften und schmunzelten spitzbübisch. Einer drehte sich mit halber Wendung um und flüsterte mit einem Leidensgesichte, das ganz erfüllt war von verkannter und gekränkter Unschuld:

»Mein Sohn, wir vergeben dir.«

Paul fühlte wohl, daß sie sich über ihn lustig machten, aber sein Herz war so voll von Andacht und Liebe, daß ihm kein Hohn der Welt etwas anhaben konnte.

Zu beiden Seiten des Altars ordneten sich die Kinderscharen.

Paul warf einen schüchternen Blick in das Kirchenschiff hinunter, das gedrängt voll von Menschen war, aber er vermochte niemanden zu erkennen.

Die Stunde der Predigt verging. Er starrte vor sich nieder. Alles war ihm wie ein Traum.

Eine Weile später fühlte er seine Knie auf einem weichen Polster ruhen und die Hand des Pfarrers auf seinem Haupte... Was er zu ihm sprach, vernahm er nicht. Er sah Elsbeth drüben still in ihr Taschentuch weinen und dachte:

»Weine nur, weine nur, wirst bald wieder lachen.«

Und dann fragte er sich, warum die Menschen wohl alle so viel lachten, während es doch im ganzen so wenig Lächerliches auf Erden gäbe.

Die Orgel stimmte das Lied: »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren« an – hellauf jauchzte der Chor der Gemeinde –, da wanderte sein Blick zur Sonne empor, die in regenbogenfarbenen Lichtern durch die bemalten Kirchenfenster brach.

Und wie er in das Farbenspiel hineinstarrte, erschrak er plötzlich. Gerade jenseits des Kreuzes, welches den Altar krönte, stand in ungeheurer Größe eine düstere, in Grau gekleidete Frau und blickte aus großen, hohlen Augen auf ihn nieder... Die Büßerin Magdalena war's.

Er fühlte, wie es ihn kalt durchschauerte.

»Frau Sorge«, murmelte er und beugte das Haupt, als wollte er in Demut empfangen, was sie ihm fürs Leben bescherte.

Und als er das Auge wieder erhob, strahlte die Sonne noch herrlicher denn zuvor.

Glührot und smaragden gleißten und glimmten die Flammen und woben eine Strahlenglorie um das Haupt der grauen Frau.

Die aber stand traurig inmitten der farbenfrohen Pracht und starrte aus großen, hohlen Augen auf ihn nieder

Da setzte mit einem rauschenden Akkorde die Orgel zum Nachspiel ein... ein freudiges Beben ging durch die Gemeinde... die Schar der Kinder eilte, sich in die Arme der Ihren zu werfen... und aus Elsbeths tränennassen Augen traf ihn ein freundlich grüßender Blick.


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