Hermann Sudermann
Frau Sorge
Hermann Sudermann

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Mit dumpfem Rauschen grüßten die Fichten zu ihm hernieder, und ein Rabe, der im Schnee gehockt, flog schwirrend auf und umkreiste ruhelos die Kronen, wie eine arme Seele, die keinen Frieden findet.

Als er die eingeschneite Fläche in ihrem bleichen Einerlei vor seinen Blicken liegen sah, durchfuhr ihn ein Schreck, denn er sah kein Zeichen, an dem er das Grab der Mutter entdecken konnte. Ein Kreuz stand nicht an dem Hügel, denn er hatte noch kein Geld gehabt, eines anzuschaffen, der Hügel selbst aber lag tief in dem alles ebnenden Schneegefilde.

Eine quälende Angst erfaßte ihn, ihm war zumute, als hätte er nun auch das letzte verloren, was er auf der Welt besaß.

Und mit zitternden Händen begann er den Schnee aufzuwühlen, von einem Hügel zum andern – ein langer Pfad, aus dem hie und da die Ecke eines Grabes, ein Kranz oder ein Lebensbäumchen in der Dämmerung zum Vorschein kam.

»Hier schläft«, dieser, »hier schläft« jener – er wußte fast von jedem Grab, wer darunter die Ruhestatt gefunden.

Und endlich ritzte sich seine wühlende Hand an einem Glasscherben, der aus der Tiefe emportauchte... Er hielt inne und tastete vorsichtig in der Runde... Der Scherben war wohl der, den Grete im Frühherbst hinausgetragen hatte, um Astern dareinzusetzen; ein grüner Flaschenscherben mit scharfen, spitzen Kanten – ja, er war's. Noch staken die welken Stengel darin. Und daneben der Kranz, der Erikakranz, der steifgefroren wie ein steinerner Ring zum Vorschein kam, den hatte er selbst hierhergelegt, als er zum letzten Mal draußen gewesen.

Wie er nun das Häuflein Schnee, welches sein Teuerstes barg, so weiß und ruhig daliegen sah, fiel er auf die Knie und barg sein glühendes Gesicht in dem kühlen, weichen Flockenschaum.

»Ich bin an allem schuld, Mutter«, klagte er, »ich hab' nicht auf sie achtgegeben, ich hab' sie verwildern lassen. Richte sie nicht, Mutter, sie wußten nicht, was sie taten!... Aber ich flehe zu dir, Mutter, laß du mich wissen, wie ich handeln soll!... Sende mir ein einziges Wort übers Grab zurück,... sieh, ich knie hier und weiß nicht ein noch aus.«

Und dann war's ihm plötzlich, als hätte auch er nicht das Recht, an dieser Stätte zu liegen, als wäre auf ihn die Schande abgewälzt, welche die Schwestern betroffen, er schalt sich feige, selbstsüchtig und faul, daß er so lange untätig geruht hatte, ohne ein Äußerstes zu wagen.

»Ich will's tun, Mutter, noch diese Nacht«, rief er aufspringend. »Auf mich soll's nicht ankommen, mein letztes Restchen Stolz will ich darangehen, wenn nur die Schwestern gerettet werden.« – Er schwor es mit erhobenen Armen, und dann eilte er auf die Heide hinaus. – – –

Wohl drei Stunden lang jagte er auf den eingeschneiten Wegen dahin. Acht Uhr mochte es sein, als er müde und atemlos vor dem Hoftor von Lotkeim haltmachte.

»Heute sollen sie nicht entwischen«, sagte er, und da er das Tor wiederum verschlossen fand, so kroch er auf dem Bauch unter den Staketen hindurch – wie er es sonst bei Hunden gesehen.

Die Fenster des Herrenhauses waren hell erleuchtet, aber da man die Vorhänge herabgelassen hatte, ließ sich von dem Innern nichts erkennen; nur abgerissener Gesang und kurzes Gelächter drangen ins Freie.

Die Haustür stand offen. In dem dunklen Flur hielt er für einen Augenblick inne, um sein Herzpochen zu beschwichtigen, dann klopfte er.

Ulrichs Stimme rief:

»Herein.«

Da lagen die beiden Brüder ausgestreckt auf dem langen Sofa, die Füße des einen neben dem Kopf des andern, ein Bild vollkommenster Gewissensruhe und Seelenheiterkeit. Jeder von ihnen balancierte ein großes Grogglas in der hohlen Hand, und vor ihnen auf dem Tisch stand eine dampfende Punschterrine.

Bei seinem Anblick waren sie so erschrocken, daß sie das Aufstehen vergaßen. Ganz versteinert blieben sie liegen und starrten ihn an.

»Nanu!« rief Ulrich, der zuerst die Sprache wiederbekam, und Fritz ließ sein Glas klirrend zu Boden fallen. Darauf bückte er sich und sammelte mit großem Eifer die Scherben.

»Ihr könnt euch wohl denken, warum ich komme«, sagte Paul, in seinen beschneiten Kleidern langsam vor den Tisch hintretend.

»Nein«, sagte Ulrich, der sich langsam aufrichtete.

»Keine Ahnung«, bestätigte Fritz, der sich wohlweislich hinter den Rücken des Bruders zurückzog.

»Ihr habt meinen Brief doch wohl erhalten?« fragte Paul.

»Wir wissen von keinem Brief«, erwiderte der Ältere, ihm frech ins Auge schauend.

»Er wird wohl auf der Post verlorengegangen sein«, fügte der Jüngere eilends hinzu.

»Besinnt euch nur. Es war am 16. November«, sagte Paul.

Da erinnerten sie sich dunkel, daß ein Brief an sie abgeliefert worden war.

»Aber wir konnten aus ihm nicht klug werden und haben ihn ins Feuer geworfen«, sagte Ulrich.

»Laßt die Winkelzüge«, erwiderte Paul. »Ihr wißt ganz gut, was ihr zu tun habt.«

Sie zuckten die Achseln und sahen sich an, als ob er spanisch redete.

»Ich bin nicht gekommen, mit euch Komödie zu spielen«, fuhr Paul fort. »Ihr habt meinen Schwestern die Ehre genommen und müßt sie ihnen wiedergeben. –

Ulrich kratzte sich den Kopf und sagte:

»Lieber Meyhöfer, das ist 'ne böse Geschichte – und so mir nichts, dir nichts läßt sich die nicht abhandeln. – Setz dich mal hin und trink ein Glas Punsch mit uns – dabei werden wir rascher zum Ziel kommen.«

»Ja, rasch und gemütlich«, fügte Fritz hinzu, indem er aufstand, zwei neue Gläser herbeizuholen.

»Ich danke«, sagte Paul, »ich habe keinen Durst.« In ihm bohrte ein dumpfes Gefühl, als ob die Brüder ihn, wie sein Lebelang, auch jetzt mit Hohn überschütteten.

Um seine Glieder legte es sich wie eiserne Klammem. Ganz schlaff, ganz wehrlos erschien er sich nun.

»Ja, wenn du uns so kommst«, erwiderte Ulrich, scheinbar gekränkt, »dann reden wir gar nicht mit dir. Ich habe keine Lust, mir den Weihnachtsabend zu verderben.«

»Und den Punsch kalt werden zu lassen«, fügte Fritz hinzu.

Paul maß mit starrem Blick bald den einen, bald den andern. Wie war es möglich, daß die, welche schwere Schuld auf sich geladen, stolz und übermütig vor ihm standen, während er, der nur sein gutes Recht begehrte, zitterte und bebte wie ein Verbrecher?

»Und wenn du ohne Trost heimkehrst«, schrie eine angstvolle Stimme in ihm. – »Erzürne sie nicht – denk daran, was du der Mutter geschworen hast! Auf dich selbst darf es nicht ankommen. Na – trinkst du nun oder trinkst du nicht?« rief Ulrich ärgerlich.

»Auf dich selbst darf es nicht ankommen!« rief die Stimme wieder, da senkte er den Kopf und sagte mit heiserer Stimme:

»Also – bitt' schön.«

Die beiden Brüder warfen einander einen lächelnden Blick zu, und Fritz hob das Glas und sagte:

»Prost Fest!«

»Prost Fest!« stammelte er und würgte das heiße Getränk hinunter, wiewohl der Ekel ihm bis zur Kehle schwoll.

Nun saß er wie ein guter Kumpan mit den beiden Brüdern an einem Tisch, er, der als Rächer hätte kommen müssen.

»Also, um die Geschichte zu beendigen, lieber Meyhöfer«, begann Ulrich aufs neue. »Was geschehen ist, ist geschehen und läßt sich nicht mehr ändern. Ich will hier nicht mehr untersuchen, wer den andern mehr nachgelaufen ist, wir deinen Schwestern oder deine Schwestern uns, jedenfalls haben sie ebensoviel Schuld wie wir! Wir lieben sie von ganzem Herzen, sie sind die niedlichsten Mädchen in der ganzen Gegend, und es tut uns aufrichtig leid, wenn wir denken, daß wir sie verloren haben, aber – daß wir sie nun heiraten sollen, das wirst du doch nicht verlangen.«

Paul warf ihm einen scheuen Blick zu und sagte kleinlaut: »Das ist das mindeste, was...«, weiter kam er nicht, ihm war, als stockte das Blut in seinen Adern.

»Sei nicht komisch«, meinte Fritz, und Ulrich fuhr fort:

»Sieh mal, wir würden es ja auch tun, wir halten große Stücke von ihnen, obwohl sie sich viel vergeben haben« – in Pauls Hirn zuckte es, aber er bezwang sich –, »wir würden dir auf der Stelle zu Willen sein, aber zuerst sag uns mal, was gibst du ihnen mit?«

»Ich habe – nichts«, stammelte Paul.

»Siehst du wohl«, erwiderte Fritz.

»Und wir brauchen Geld – viel Geld«, fuhr Ulrich fort. »Ich bin der Ältere, und wenn ich das Gut für mich allein übernehme, muß ich dem Fritz so viel auszahlen, daß er sich ein eigenes kaufen kann.«

»Ich – will – arbeiten«, preßte Paul hervor und schaute in demütiger Bitte zu den Brüdern hinüber.

»Du hast schon zehn Jahre gearbeitet und hast nichts hinter dich gebracht.«

»Der Brand ist dazwischen gekommen«, stammelte Paul, als ob er um Entschuldigung bäte für das Unglück, das ihn betroffen.

»Und nächstes Jahr kommt was anderes dazwischen. Nein, lieber Freund, darauf können wir uns nicht einlassen.«

Die Angst, daß er ohne Trost zu den Schwestern würde heimkehren müssen, schwoll höher und höher in seiner Seele. So sehr übermannte sie ihn, daß seine Zunge sich löste, und er rief. »Aber mein Gott, so nehmt doch Vernunft an!... Ich kann doch nicht mehr wie arbeiten... Arbeiten will ich wie ein Stück Vieh... arbeiten Tag und Nacht... ich will sparen und will hungern, und alles, was ich erwerbe, soll euch gehören... Seht mal... ich habe wirklich schöne Aussichten... die Lokomobile wird bald in Ordnung sein... und das Moor ist sehr einträglich... fünfzehn Fuß geht's in die Tiefe... wirklich, ihr könnt messen!... Das Fuder Torf bringt zehn Mark... und eure Mitgift soll euch jährlich in Teilzahlungen auf Heller und Pfennig zugeschickt werden.«

Er sah ihnen mit aufgerissenen Augen ins Gesicht, denn er erwartete, daß sie jetzt sofort zugreifen würden. Und als sie schwiegen, strich er sich ganz fassungslos mit der Hand über die Stirn, von welcher der kalte Schweiß herniederlief, und murmelte:

»Ja – was kann ich denn noch?... Richtig – noch mehr will ich tun:... Ich will mir den Hof vom Vater übergeben lassen und ihn dann euch zuschreiben, so daß wenn der Vater – stirbt, einer von euch Herr darauf wird... Ich will ausziehen und nicht mehr wie Schwarz unterm Nagel mit mir tragen. – Ist euch das nun genug?«

Aber sie schwiegen.

Da ward ihm zumute, als ginge alles unter, woran sein Glaube sich sonst festgehalten, als wiche der Boden unter seinen Füßen, als würde er selbst ins Leere hinausgeschleudert. Er faltete die Hände – seine Zähen klapperten – und wie entgeistert starrte er sie an. – »Ist es denn möglich? Ihr wollt nicht? Wollt wirklich nicht? – Faßt ihr denn gar nicht, daß es eure Pflicht und Schuldigkeit ist gutzumachen, was ihr gesündigt habt?... Sagt euch euer Ehrgefühl nicht, daß ihr andere nicht ehrlos machen dürft?... Läßt euch euer Gewissen denn schlafen?«

»Höre auf«, sagte Ulrich, dem ein Gefühl des Unbehagens fröstelnd über den Nacken lief.

»Nein, ich höre nicht auf! Ich kann nicht so nach Hause gehen... Wirklich, ich kann nicht!... Habt ihr denn gar keine Ahnung, was ihr angerichtet habt..., welch ein Elend bei mir zu Hause herrscht?« Und er schauderte zusammen in der Erinnerung an das, was er zurückgelassen. – »Wenn ihr das wüßtet, ihr würdet so hart nicht sein!... Seht, Fritz und Ulrich..., ich kenn' euch nun schon lange Zeit... wir haben schon zusammen auf der Schulbank gesessen und sind zusammen... vor den Altar getreten... Ihr habt mir schon immer übelgewollt, und ich hab' viel von euch zu erdulden gehabt, aber... ich will alles vergessen, wenn ihr nur das eine gutmacht. Ihr seid leichtsinnig, aber schlecht seid ihr nicht... ihr könnt es ja nicht sein... ihr habt ja auch eine Mutter gehabt... ich hab' sie gesehen... sie hat bei der Einsegnung am dritten Pfeiler links gestanden und hat... geweint, wie meine Mutter weinte. – Und meine Mutter – pfui doch«, unterbrach er sich, denn ihn überwältigte die Scham, daß er den Namen der Verklärten vor diesen Verführern in den Mund genommen hatte, aber seine Angst, ohne Trost heimkehren zu müssen, steigerte sich bis zum Wahnwitz, er schluckte auch das hinunter, und von neuem fing er an, während seine Gedanken schon irr durcheinanderschossen: »Denkt euch mal, ihr geht jetzt raus zum Kirchhof... und habt Schwestern... die sind verführt... und ihr, habt nicht gut achtgegeben auf die Schwestern... und ihr wagt nicht, den Schnee zu berühren, der auf dem Grabe liegt... und ich bin der Verführer... was... was würdet ihr tun?«

»Totschlagen würden wir dich«, sagte Ulrich, ihm einen verächtlichen Blick zuwerfend.

Er stieß einen gellenden Schrei aus, denn jetzt kam das Bewußtsein, wie tief er sich erniedrigt, wie er seinen Stolz, seine Ehre im Kot gewälzt hatte, mit ganzer Gewalt über ihn... Mit geballten Fäusten stürzte er auf Ulrich los. Der aber verschanzte sich hinter dem Tisch, und Fritz lief nach dem Nebenzimmer, um das Gesinde herbeizurufen.

Da taumelte er hinaus.

Das Hoftor war geschlossen wie vorhin. – Er wagte nicht zurückzukehren, um es öffnen zu lassen, und auf dem Bauche kroch er hinaus – wie ein Hund. – –

Wie ein Hund! – – –

- – –


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