Hermann Sudermann
Frau Sorge
Hermann Sudermann

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18

»Der junge Herr führt ja mit einem Male ein lustiges Leben«, sagten die Knechte, und da nun doch alles drunter und drüber ging, stahlen sie einen Scheffel Korn nach dem andern.

Paul aber trieb sich auf allen Lustbarkeiten und Tanzfesten umher, die in der Gegend stattfanden. – Wer ihn mit seinen finsteren Stirnfalten und dem scheuen, spähenden Blick in dem fröhlichen Gewühl auftauchen sah, der fragte sich wohl: »Was will der hier?« Und mancher ging im Bogen um ihn herum, als sei ein Schatten auf seine Freude gefallen.

Paul war sich wohl im klaren über den Weg, den er wandelte. – Er hatte gehört, daß die Erdmänner kein Fest vorübergehen ließen, ohne mitzufeiern – so toll, wie's eben anging. – »Ich werde sie zu treffen wissen«, sagte er, »die Nacht ist dunkel und die Heide einsam. Unter Gottes freiem Himmel sollen sie mir und dem Tod ins Antlitz sehn.«

Zwei Tage nach seinem letzten Besuch auf Lotkeim war er in die Stadt gefahren und hatte sich einen Revolver gekauft, einen schönen sechsläufigen mit langem, schlankem Lauf. Wie ein wildes Tier lauerte er nun nachts in den Büschen und Hohlwegen der Heide, wenn er glaubte, daß sie vorüberkämen.

Aber sie kamen nicht. Sie schienen mißtrauisch geworden und hielten sich deshalb im Haus, oder, was wahrscheinlicher, das Geld war ihnen ausgegangen. – »Ich kann warten«, sagte er und setzte sein Treiben fort.

Und wenn er eines Abends zu Hause blieb und mit den Schwestern gemeinsam am Abendbrottisch saß – ein schweigendes, trauriges Mahl –, dann erschrak er jedesmal, sobald er aufschaute und die Züge der Mutter in zwei bleichen, abgehärmten Gesichtchen wiederfand. – Dann jagte es ihn stets aufs neue hinaus. – –

Am Fastnachtabend war's, da wurde in dem Saal des Bürgervereins von den Landwirten der Umgebung ein großer Ball gefeiert.

»Dort werd' ich sie fassen«, sagte er sich, denn er hatte gehört, daß die beiden Brüder zum Vorstand des Festes gehörten.

Als die Dämmerung herannahte, ließ er den Schlitten anspannen, verbarg den Revolver im Gesäßkasten und machte sich auf den Weg zur Stadt.

Tagsüber hatte die Sonne geschienen, nun lohte der Himmel in den Flammen des Abendrots. In bläuliche Schleier eingehüllt lag die Heide, und durch die klare Winterluft sprühten leuchtende Eiskristalle.

Als er an Helenenthal vorüberfuhr, sah er zwei Schlitten mit Tannenzweigen beladen, die in den Gutsweg einbogen.

»Mir scheint, dort soll ein Fest gefeiert werden«, murmelte er, den Schlitten nachblickend, und mit einem düsteren Lächeln setzte er hinzu: »Ich brauch' nicht neidisch zu sein, ich feiere ja auch mein Fest heute!«

Um sechs Uhr kam er in der Stadt an, verschaffte sich eine Eintrittskarte und hockte bis zur neunten Stunde in dem Winkel einer Schenke, finster vor sich hin brütend.

Als er den Festsaal betreten hatte, in dem ein sinnbetäubender Wirrwarr leuchtend durcheinanderrauschte, verbarg er sich scheu in dem Schatten einer Säule, denn ihm war zumute, als stände lesbar für jedermann auf seiner Stirn der Mordgedanke geschrieben, der ihm die Seele erfüllte.

Und plötzlich fuhr es wie ein Messerstich durch seine Brust. – Er hatte die Brüder gefunden. – In der Mitte des Saales standen sie stolz und strahlend, seidene Schleifen auf den Achseln, Maiglöckchen im Knopfloch, und spähten mit siegesgewissem Lächeln die Reihe der weißgekleideten Mädchen entlang, welche die Wände schmückten.

»So – jetzt sind sie mir verfallen«, murmelte er mit einem tiefen Aufseufzen. Er fühlte, daß es kein Zurück mehr für ihn gab. Und dann verkroch er sich in eine verschwiegene Ecke, von der aus er seine Opfer im Auge behalten konnte. Der Lichterglanz strahlte sonnenhaft auf ihn hernieder, aber er sah ihn nicht, die Musik rauschte in wohligen Akkorden um sein Ohr, aber er hörte sie nicht, alle seine Sinne waren untergegangen in wildem, blutigem Gelüste.

Wie er so in das Gewühl hineinstarrte, vernahm er dicht hinter sich ein Gespräch von zwei behäbigen Männerstimmen:

»Willst du auch morgen zum Begräbnis hinaus?«

»Ja, es soll eine große Feier werden. Dabei darf man nicht fehlen.«

»Ist sie lange krank gewesen?«

»Oh, sehr lange. Unser alter Doktor hatte sie schon vor Jahren aufgegeben. Dann war sie mit ihrer Tochter im Süden und hat sich nach ihrer Rückkehr – ich weiß nicht, wie lange noch – gehalten.«

Er horchte. – Ein dumpfe Ahnung dämmerte in ihm auf. Die Tannenzweige! Die Tannenzweige!

Und die eine Stimme fuhr fort:

»Sag mal: die Tochter muß doch in sehr heiratsfähigem Alter sein – hat sie sich noch immer nicht verlobt?«

»Sie ist ja bekannt wegen der Körbe, die sie austeilt«, erwiderte die andere Stimme, »die einen sagen, sie tat's, um die kranke Mutter nicht zu verlassen, die anderen, weil sie eine geheime Liebschaft mit ihrem Vetter hat, dem Leo Heller, du kennst ihn ja.«

»Oh, der Windhund«, sagte die erste Stimme wieder, »vorige Woche hat er im Tempeln 800 Mark verloren, bei den Wucherern sitzt er bis an die Kehle drin, und ein Liebchen hält er sich auch aus. Aber ein forscher, lustiger Kerl ist's, ganz dazu angetan, sich Goldfische zu kapern.« Und die beiden Stimmen entfernten sich lachend.

Paul hatte ein dumpfes Gefühl, als müßte er sich zu Boden werfen und das Antlitz in den Staub pressen – aus seiner Kehle schwoll es empor – rote Schleier wogten vor seinen Augen auf und nieder... Also sie hatte ausgelitten, die bleiche, freundliche Frau, die wie ein guter Engel über dem Heidehof gewartet hatte, an der sein eigen Herz gehangen, solange er lebte! Nun, da sie tot, war ja die Bahn frei für Niedergang und Verbrechen.

Und Elsbeth? Wie hatte sie gezittert vor dieser fürchterlichen Stunde, wie hatte er geschworen, ihr alsdann nah zu sein! Und statt dessen lauerte er hier wie ein reißendes Tier, blutige Gedanken in der Seele, er, der einzige, dem ihre reine Seele sich einst anvertraute...

Ein Frösteln überlief ihn. »Aber was tut's? Tröster hat sie ja genug – da ist der lustige Leo, mit dem sie ja eine ›geheime Liebschaft‹ haben soll – mag der nun seine Künste entfalten.« Er lachte laut und höhnisch auf, und nachdem er sich klargemacht, daß die Erdmanns ihm nicht entgehen konnten, wenn er am Wege auf sie wartete, verließ er den Saal.

Als er in das Schweigen der mondhellen Winternacht hinausfuhr, wurde es auch in seiner Seele stiller und stiller, und als über der silbernen Heide das weiße Haus wie ein marmornes Grabdenkmal langsam emporstieg, da fing er bitterlich zu weinen an.

»Plärre nur, plärre, altes Weib, du«, murmelte er und peitschte das Pferd an, daß die Glocken heller klangen. Die tönten ihm ins Ohr wie das Grabgeläute alles Guten.

In dem Wald, hinter welchem der Seitenweg nach Lotkeim sich abzweigte, machte er halt, band das Pferd an einen fernabgelegenen Baumstamm und schnallte die Glocken ab, damit ihr Klingen ihn nicht vor der Zeit verriet. Dann holte er den Revolver aus dem Gesäßkasten und prüfte die Patronen. – Sechs Schuß – für jeden zwei –, doppelt reißt nicht.

Es war bitterkalt, und seine Füße erklammten. Er kauerte sich auf dem Boden des Schlittens nieder, so daß die Pelzdecke ihn ganz umhüllte. Darunter war es warm und wohlig, und allgemach fühlte er eine große Ermattung seiner Herr werden, als ob er einschlafen könnte. Aber dann raffte er sich wieder empor.

»Es ist dir ja gar nicht ernst«, murmelte er, »daß du sie töten willst. Sonst müßte dir anders zumute sein.«

Da sprang er empor und rief in die Nacht hinein: »Ich will, ich schwör dir's, Mutter... ich will.« – Und zur Bekräftigung schoß er eine Kugel in die Lüfte, daß das Echo schauerlich durch die Stille hinrollte und die Raben krächzend aus ihren Nestern emporfuhren...

Je mehr die Stunde sich näherte, in welcher die Brüder heimkehren mußten, desto mehr wuchs seine Angst; aber diese Angst galt nicht der blutigen Tat – er bebte davor, daß im letzten Moment seine Hand erschlaffen, sein Mut verfliegen würde, denn man hatte ihn ja stets einen »Feigling« genannt.

Es mochte gegen vier Uhr morgens sein, und der Mond war schon im Untergehen, da ließ ein Glockengeläut in der Ferne sich hören, leise und immer lauter und lauter. Er sprang in den Hohlweg, welchen der wehende Schnee aufgeschüttet hatte, und warf sich platt auf den Boden. Der Schlitten nahte dem Waldesrand, zwei in Pelze gehüllte Personen saßen darauf – sie waren's. – Aber wie lange das dauerte!

Der Schlitten fuhr langsamer von Schritt zu Schritt, Die Glocken klirrten träge, und die Zügel hingen schlaff über den Bug des Pferdes herab. Die Brüder schnarchten... wehrlos waren sie ihm preisgegeben.

Rasch sprang er vor, fiel dem Pferd in die Zügel und löste die Stränge der Deichsel. Der Schlitten stand – und seine Herren schliefen weiter.

Er stellte sich vor sie hin und starrte auf sie nieder. Die Hand, welche die Pistole hielt, zitterte heftig.

»Was tu' ich nun mit ihnen?« murmelte er. »Im Schlaf kann ich sie doch nicht niedermachen? – Betrunken werden sie auch sein, sonst wären sie schon längst aufgewacht! – Das beste ist, ich lasse sie ziehn und warte auf das nächste Mal.«

Eben wollte er das Pferd wieder in die Stränge legen, da schoß es ihm durch den Kopf, daß er ja der Mutter geschworen habe, sie umzubringen.

»Ich wußt's ja, daß ich ein elender Feigling bin«, dachte er bei sich, »und nimmermehr die Courage dazu haben würde. – Nicht einmal zum Morden bin ich gut genug.«

»Aber jetzt tu' ich's doch!« murmelte er, trat zwei Schritt zurück und zielte scharf auf Ulrichs Brust, aber den Hahn spannte er nicht, denn innerlich fürchtete er, er könnte den Schlafenden verletzen.

»Ob ich's doch wohl tun werde?« dachte er, als er eine Weile in dieser Stellung gestanden hatte. Und darauf begann er sich auszumalen, was geschehen würde, wenn er's getan hätte und die beiden da tot vor ihm lägen. »Entweder ich erschieße mich dann selber und lasse den Vater und die Schwestern im Elend zurück, oder ich erschieße mich nicht, sondern liefere mich morgen den Gerichten aus, dann ist das Elend zu Hause ebensogroß.

Wahnsinn ist es auf alle Fälle«, so schloß er seine Überlegungen – »aber ich tu's doch –.«

Und plötzlich gewahrte er unter dem Pelze Ulrichs, der sich über der Brust ein wenig zurückgeschlagen hatte, einen funkelnden Panzer von Ordenssternen, wie sie beim Kotillontanz die Damen den Herren anzuheften pflegen.

»Also von andern lassen sie sich mit Orden zieren«, dachte er, »und die Schwestern sitzen derweilen im Elend!«

Da fing es in ihm an zu kochen, und er begann zu fühlen, daß er's doch am Ende tun würde.

»Aber erst will ich ein Wort Deutsch mit ihnen reden«, murmelte er, packte Ulrich, der an seiner Seite saß, bei der Schulter und schüttelte ihn heftig, so daß sein Kopf hin- und herflog.

Ulrich fuhr sofort aus dem Schlaf empor, und als er die dunkle Gestalt Pauls mit dem Revolver in der Hand dicht vor sich stehen sah, fing er laut und jämmerlich zu schreien an. Auch der andere erwachte nun, und beide streckten ihm in kläglicher Abwehr die Arme entgegen.

»Was willst du tun?« schrie der eine.

»Morde uns nicht!« schrie der andere.

»Steck den Revolver fort. Erbarm dich unser – erbarm dich!« Sie falteten die Hände und wären auf die Knie gefallen, wenn die Pelzdecken sie nicht gehindert hätten.

Paul maß sie voll Verwunderung. Er hatte sie sein Lebelang nur keck und kampflustig gesehen, so daß sie ihm jetzt in ihrem Jammer wie wildfremde Leute erschienen. Im Innern wünschte er, daß sie die Messer gegen ihn ziehen möchten, damit er in ehrlichem Kampf von seinem Revolver Gebrauch machen könnte. Und dann plötzlich kam ihm der Gedanke: »Hättest du sie als Junge ein einzig Mal so behandelt wie heute, dir wäre manche schwere Kränkung erspart geblieben – und den Schwestern vor allem.«

Ulrich suchte inzwischen seine Knie zu umklammern, und Fritz schrie in einem fort: »Erbarm dich unser – erbarm dich!«

»Ihr wißt sehr gut, was ich von euch will«, erwiderte Paul, der sich nun von allem Schwanken erlöst fühlte und mit kalter Entschlossenheit sein Ziel verfolgte.

»Was willst du, sag, was willst du? Wir tun alles, was du willst«, rief Ulrich, und Fritz, der sich hinter dem Bruder zu verstecken suchte, schien plötzlich ganz der Sprache beraubt.

»Ihr sollt euer Wort halten, wie ich das meine halten werde«, sagte Paul. »Ich wollte, ihr fändet den Mut, euch zu wehren, damit wir endlich einmal miteinander ins reine kämen... Aber vielleicht ist es besser so... und jetzt sprecht mir nach, was ich euch vorsprechen werde: ›Wir schwören bei Gott und dem Andenken unserer Mutter, daß wir binnen drei Tagen das Versprechen einlösen werden, das wir deinen Schwestern gegeben haben.‹« –

Zitternd und lallend sprachen sie ihm die Worte nach.

»Und ich schwöre euch bei Gott und dem Andenken meiner Mutter«, erwiderte er, »daß ich euch niederschießen werde, wie und wo ich euch treffe, falls ihr euren Eid nicht heilighalten wolltet. So, jetzt könnt ihr fahren – bleibt sitzen! Ich werde das Pferd selber ansträngen... Sitzen bleiben!« wiederholte er, als sie ihm trotzdem hilfreiche Hand leisten wollten.

Sie rührten sich nicht mehr, so gehorsam waren sie nun. Und als er fertig geworden war, sagten sie ihm mit großer Höflichkeit »Guten Abend!« und fuhren von dannen.

»Also so wird's gemacht!« murmelte er, indem er die Pistole in den Schnee warf und dem Schlitten mit gefalteten Händen nachschaute. »Baust du auf Recht und Ehrgefühl und willst im Guten alles zum Guten wenden, so nennt man dich feige, und du wirst behandelt wie ein Hund. – Behandelst du aber die andern wie Hunde, gleich von vornherein, ohne zu bedenken, ob du im Recht bist oder nicht, so nennt man dich mutig, und alles gelingt dir, und du wirst ein Held. Also so wird's gemacht – so wird's gemacht!«

Und er schüttelte sich, und ein Ekel erfaßte ihn vor sich und der ganzen Welt. So schmutzig erschien er sich, als ob nichts auf Erden ihn wieder reinwaschen könnte.


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