Hermann Sudermann
Frau Sorge
Hermann Sudermann

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10

Es war im Monat Juni an einem sonnigen Sonntagnachmittag.

Aus dem Walde herüber erscholl leise Trompetenmusik. Dort wurde heut ein großes Fest gefeiert. Eine herumziehende Musikkapelle hatte sich anwerben lassen, ein Konzert zu geben. Von weit und breit waren die Landbewohner herbeigeströmt, selbst die Rittergutsbesitzer hatten nicht verschmäht, ihre Teilnahme zuzusagen, denn dergleichen ereignete sich nicht häufig in dem stillen Hinterwald.

Von Mittag an waren lange Wagenreihen an dem Heidehof vorübergezogen, und der alte Meyhöfer, der nicht gern zu Hause saß, wenn irgendwo was los war, hatte plötzlich einen Anfall von Güte bekommen und den Weibern zugerufen, sich schleunigst bereit zu machen, er wolle sich opfern und sie zum Feste führen.

Die Zwillinge, die schon lange mit begierig glänzenden Augen zum Fenster hinausgestarrt hatten, brachen in lauten Jubel aus, Frau Elsbeth lächelte still zu ihnen hinüber und wandte sich dann zu Paul, der in einer Ecke saß und ruhig an seinen Blumenstöcken weiterschnitzelte, als ob ihn das alles nichts anginge.

»Willst du nicht mit?« fragte sie.

»Paul kann kutschieren«, rief Meyhöfer nachlässig.

Er dankte und meinte, sein Rock sei zu schäbig, auch wolle er die Tagelöhner kontrollieren, die sich mit Sonnenuntergang einzufinden hatten. Morgen sollte die Heuernte beginnen.

Die Zwillinge sahen ihn an, steckten die Köpfe zusammen und kicherten dann, als er zur Tür hinausschritt, hängten sie sich an ihn, und Käthe zischelte: »Du, wir wissen was!«

»Na, was wißt ihr denn?«

»Was Schönes!« meinte Grete geheimnisvoll.

»Raus damit!«

»Elsbeth Douglas ist wieder zu Hause.«

Und in ein helles Gelächter ausbrechend, jagten sie von dannen.

Paul empfand zuerst einen großen Zorn, daß sie ihn zu verspotten wagten, dann seufzte und lächelte er und wunderte sich, daß sein Herz plötzlich so laut zu pochen begonnen.

Eine halbe Stunde später fuhren die Seinen ab.

»Komm bald nach!« rief ihm die Mutter vom Wagen zu, und Käthe raunte ihn beim Aufsteigen ins Ohr:

»Ich glaub', sie werden auch da sein.«

Nun stand er allein auf dem verödeten Hof... Die Mägde waren zum Melken auf die Weide gegangen – keine lebendige Seele weit und breit.

Die Enten in ihrem Tümpel hatten die Köpfe unter die Flügel gesteckt, der Kettenhund schnappte schläfrig nach Fliegen.

Paul setzte sich auf den Gartenzaun und starrte nach dem Walde hinüber, an dessen Rande der Schein von hellen Kleidern hin und her flirrte, während hie und da ein helles Leuchten aufblitzte, wenn die Sonnenstrahlen sich in dem Geschirr der harrenden Fuhrwerke widerspiegelten.

Der Abend kam. Noch war er unschlüssig, ob er es wagen dürfte, den Seinen nachzufolgen.

Tausend Gründe fielen ihm ein, die sein Zuhausebleiben dringend notwendig machten, und als es ihm vollständig klargeworden war, daß er ins Haus gehöre und nirgends anders hin, zog er sich seinen Sonntagsrock an und ging zum Feste.

Es fing an zu dunkeln, als er über die duftende Heide dahinschritt. Das Herz schnürte sich ihm zu in tiefgeheimer Angst. – Er wagte nicht nach den Gründen zu forschen, doch als er an dem Wacholderbusche vorbeischritt, unter dem er einst Elsbeth sein schönstes Lied gepfiffen, da zuckte ein Schmerz durch seine Brust, als hätte ein Stich ihn getroffen.

Er hielt an und überlegte, ob er nicht lieber umkehren sollte. – »Mein Rock ist viel zu schlecht«, sagte er sich, »ich kann mich in anständiger Gesellschaft nicht sehen lassen.« Er zog ihn aus und musterte ihn von allen Seiten. Die Nähte des Rückens zeichneten sich als graue Streifen ab, auf den Ellbogen saß ein mattsilberner Glanz, und die Kanten der Brustaufschläge wiesen sogar kleine Fransen auf.

»Es geht beim besten Willen nicht«, sagte er, und dann setzte er sich unter den Wacholderbusch und träumte davon, wie flott und elegant er aussehen würde, wenn er es erst bis zu einem neuen Rocke gebracht hätte. »Aber das wird wohl noch lange dauern«, fuhr er fort, »erst müssen Max und Gottfried fest in ihren Stellungen sitzen, und Grete und Käthe müssen die Ballkleider haben, die sie sich wünschen, und Mutters Lehnstuhl muß neu gepolstert sein« – – und je mehr er nachdachte, desto mehr Sachen fielen ihm ein, die den Vorrang hatten.

Hierauf sah er sich wieder mit einem funkelnagelneuen schwarzen Anzug angetan, Lackstiefel an den Füßen, eine modische Krawatte um den Hals geschlungen, wie er mit stolz emporgehobenem Haupte in nachlässig vornehmer Haltung den Ballsaal betrat, während Elsbeth ihm hochachtungsvoll entgegenlächelte.

Plötzlich fuhr er aus seinen Träumen empor. – »Pfui, ich bin ein rechter Geck geworden«, schalt er, »was hab' ich mit Lackstiefeln und modefarbenen Krawatten zu tun, und jetzt geh' ich grade in meinem alten Rock zum Walde. – – Zudem ist es ja auch schon fast dunkel geworden«, fügte er vorsichtig hinzu.

Heller schallten die Trompeten. Jubel und Gelächter drangen durch die Fichtenzweige an sein Ohr.

Eine runde Waldwiese war zum Festplatz umgewandelt worden. In der Mitte erhob sich ein Podium für die Musikanten, rechts davon stand die Bude des Schankwirts aus dem Dorfe, der saures Bier und süßen Kuchen verkaufte, und auf der linken Seite war ein Tanzplatz eingezäunt, dessen Betreten zehn Pfennig extra kostete, wie man auf einer großen weißen Tafel lesen konnte.

In weitem Bogen ringsum waren Tische und Bänke aufgeschlagen, wo die Familien sich an dem mitgebrachten Abendbrot gütlich taten, und mittendurch drängte sich eine jubelnde, kichernde, gaffende Menge, die nach Liebe oder Prügel lüstern war.

Das Konzert war bereits zu Ende, der Tanz hatte begonnen; auf dem festgestampften Moose drehten die Pärchen sich keuchend und stolpernd in die Runde.

Der Schein des verglühenden Abends lag auf der Lichtung, während das rings daran grenzende Waldesterrain schon im Dunkel vergraben war. Hier hausten die Knechte und die Mägde aus den umliegenden Ortschaften, selbst die Kutscher hatten ihre Fuhrwerke verlassen, da sie's nicht übers Herz brachten, dem Liebesspiel von ferne zuzusehen. Jeder Busch des Unterholzes schien lebendig, und aus dem Schoße der Nacht drang leises, verliebtes Gekicher.

Scheu wie ein Verbrecher schlich Paul sich rings um den Festplatz. Ein Bangen vor fremden Menschen war ihm schon immer eigen gewesen, aber noch nie hatte sein Herz sich so angstvoll zusammengekrampft wie in diesem Augenblicke.

»Ob Elsbeth da ist?« Nirgends im Getümmel war von den Bewohnern des »Weißen Hauses« eine Spur, aber auch die Seinen schienen spurlos verschwunden. Einmal war's ihm, als hörte er das girrende Gelächter der Zwillinge an sein Ohr schlagen, aber im nächsten Augenblicke hatte der Lärm es verschlungen.

Zweimal war er schon in die Runde gegangen, da plötzlich – das Herz drohte ihm stillezustehen in Schreck und Wonne – sah er ganz nah vor sich Vater und Mutter mit der Familie Douglas in friedlichstem Beieinander an einem Tische sitzen.

Der Vater hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und redete hochrot vor Eifer auf Herrn Douglas ein. Der breitschultrige Riese mit dem buschigen Graubart hörte ihm schweigend zu, nickte bisweilen und lächelte vor sich hin. Die hagere, kränkliche Gestalt mit den hohlen Wangen und den blauen Ringen rings um die Augen, welche das Haupt müde gegen einen Baumstamm gelehnt hatte und mit den mageren, weißen Fingern die Hand der Mutter umschlungen hielt, das war seine Patin, die ihm stets wie eine Botin aus dem Jenseits erschienen war. Aber neben ihr – neben ihr die Dame in dem schmucklosen, grauen Kleide, mit dem schlicht zurückgestrichenen Blondhaar...

»Elsbeth, Elsbeth«, jubelte eine Stimme in ihm, und dann plötzlich sank es wie eine Wolkenwand zwischen ihm und ihr hernieder und legte sich frostig um seine Seele und umflorte sein Auge mit feuchten Schleiern.

Ihr gegenüber saß ein Herr mit keckem, blondem Bärtchen und noch keckeren, blauen Augen, der sich vertraulich zu ihr hinüberneigte, während ein Lächeln über ihr stilles Antlitz glitt.

»Den wird sie heiraten«, sagte er sich mit einer Bestimmtheit, die mehr als eine eifersüchtige Ahnung war. Mit dem Hellsehertum der Liebe hatte er erkannt, daß diese beiden Naturen sich ergänzten und einander suchen mußten. – Und vielleicht, vielleicht hatten sie sich schon gefunden, dieweil er selber seine Tage in nichtigen Träumen vergeudete.

Wie erstarrt blieb er stehen und musterte den Mann, der ihm plötzlich klarmachte, was er verloren – verloren freilich, ohne es je besessen zu haben.

Wie hätte er sich auch jemals mit diesem messen können! So – auf ein Haar so – war ja das Mannesideal beschaffen, von dem er stets geträumt hatte.

Keck, energisch, siegesbewußt – so wollte auch er einst werden – genauso wie der fremde junge Mann, der mit leichtsinnigem Lächeln zu Elsbeth hinüberschaute. – Auch trug er Lackstiefel und einen modefarbenen Schlips, und sein Anzug war vom feinsten, schwarzen Glanztuch.

Wohl eine Stunde lang stand Paul da, ohne daß er wagte, sich vom Platze zu rühren, Elsbeth und ihr Gegenüber mit den Augen verschlingend. Es wurde Nacht. Er merkte es kaum.

Lange Reihen von Lampions wurden angezündet und entsendeten einen ungewissen Dämmerschein auf das bunte Menschengewühl. »Wie schön bin ich geborgen«, dachte Paul und freute sich des Dunkels, in dem er sich verkrochen hatte. Er achtete nicht darauf, daß zwei Männer auf ihn zuschritten und sich in seiner Nähe am Boden zu schaffen machten. – Da plötzlich flammte, kaum drei Schritte von ihm entfernt, ein purpurrotes bengalisches Feuer auf, das alles ringsum in ein Meer blendenden Lichtes tauchte.

Rasch wollte er sich in den Schatten eines Baumstammes flüchten, aber es war zu spät.

»Steht da nicht Paul?« rief die Mutter.

»Wo?« fragte Elsbeth, sich neugierig umwendend.

»Junge, was lungerst du im Finstern rum?« schrie der Vater.

Da mußte er wohl oder übel hervortreten, und hochrot vor Scham, die Mütze in der Hand, stand er vor Elsbeth, welche den Kopf in die Hand gestützt hatte und lächelnd zu ihm aufsah.

»Ja – so ist es immer – der richtige Schleicher«, sagte der Vater, ihm einen Schlag auf die Schulter gebend, und der fremde junge Herr strich sich das Haar aus der Stirn und lächelte halb gutmütig, halb ironisch.

Da stand der alte Douglas auf, trat auf ihn zu und ergriff seine beiden Hände. »Kopf hoch, junger Freund, und Brust raus!« rief er mit seiner Löwenstimme. »Sie haben keine Ursache, die Augen niederzuschlagen – Sie am wenigstens auf der ganzen Welt. Wer mit zwanzig Jahren das leistet, was Sie leisten, der ist ein ganzer Kerl und braucht sich nicht verkriechen. Ich will Sie nicht eitel machen, aber fragen Sie mal, wer Ihnen das nachtäte! Etwa du, Leo?« wandte er sich an den jungen Stutzer, der mit lustigem Auflachen erwiderte:

»Muß eben verbraucht werden, wie ich bin, Onkelchen.«

»Wenn nur etwas an dir zu verbrauchen wäre, du Taugenichts«, erwiderte Douglas. – »Dies ist nämlich mein Neffe, Leo Heller, ein Fritz Triddelfitz in neuer Auflage...«

»Onkel, ich seng' dir auf!«

»Ruhig, du Schlingel.«

»Onkel – zwanzig Glas – wer zuerst unterm Tisch liegt...«

»Das nennt der Respekt.«

»Onkel – du kneifst.«

»Ruhig – sieh dir mal hier diesen jungen Landwirt an – zwanzig Jahr alt und hält die ganze Wirtschaft am Schnürchen.«

»Na, Herr Douglas, ich bin ja auch noch da«, rief Meyhöfer mit etwas langem Gesicht.

»Ohne Ihnen zu nahetreten zu wollen«, erwiderte dieser, »aber Sie haben ja so viel mit Ihrer Aktiengesellschaft zu tun – Sie können sich um solche Lappalien natürlich nicht bekümmern.«

Meyhöfer verbeugte sich geschmeichelt, und Paul schämte sich für ihn, denn er verstand die Ironie dieser Worte gar wohl.

Frau Douglas winkte ihn lächelnd zu sich heran, ergriff seine Hand und streichelte sie. »Groß und hübsch sind Sie gewordenes, sagte sie mit ihrer matten, freundlichen Stimme, »und einen schönen Bart haben Sie bekommen...«

»Aber nennen Sie ihn doch du«, fiel die Mutter ein, die heute weit freier schien als sonst. »Paul, bitte deine Patin...«

»Ja, ich – bitte darum«, sagte Paul stammelnd, indem er aufs neue errötete.

»Gott wird dich segnen, mein Sohn«, sagte Frau Douglas. »Du hast es dir verdient« – und dann sank ihr Kopf aufs neue gegen den Baumstamm.


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