Hermann Sudermann
Frau Sorge
Hermann Sudermann

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2

So wurde Frau Douglas Pauls Taufpatin.

Wohl war Meyhöfer nicht wenig ungehalten über die neue Freundschaft, denn »das Mitleid der Glücklichen brauche ich nicht«, pflegte er zu sagen, aber als die milde, freundliche Frau zum zweiten Male auf dem Hof erschien und ihm gut zuredete, wagte er nicht länger nein zu sagen.

Auch in den ferneren Verbleib auf der alten Heimstätte willigt er – freilich mit Widerstreben – ein. Die Wirtschaft Mussainen, die er in der Tat noch an demselben Tage käuflich erstanden hatte, war in so desolatem Zustande, daß ein Verweilen darin während der kalten Herbsttage für Weib und Kind gefährlich schien. Vor allem mußten die notwendigsten Reparaturen besorgt und Zimmermann, Maurer und Töpfer herbeigeholt werden, ehe an einen Umzug zu denken war.

Nichtsdestoweniger sah sich Frau Elsbeth durch den Eigensinn ihres Mannes gezwungen, lange bevor die Herrichtung der neuen Wohnung vollendet war, in dieselbe überzusiedeln.

Als nämlich eines Tages ein Inspektor des neuen Herrn mit einer Anzahl Arbeiter auf dem Hofe erschien und in seinem Auftrage bescheiden um Unterkunft bat, erklärte er dessen Handlungsweise für eine ihm geflissentlich angetane Schmach und war entschlossen, keinen Tag länger auf dem Boden zu verweilen, der einst sein Eigentum gewesen. –

Es war ein kalter, trüber Novembertag, als Frau Elsbeth mit ihren Kindern dem alten, lieben Hause Valet sagte. – Ein feiner Sprühregen rieselte, alles durchnässend, vom Himmel. In grauen Nebel eingehüllt, öde und trostlos lag die Heide vor ihren Blicken.

Das Jüngste an der Brust, die beiden älteren Kinder weinend um sich her, so bestieg sie den Wagen, der sie dem neuen und ach so düsteren Schicksal entgegenführte.

Als sie zum Hoftor hinausrollten und der kalte Heidewind ihnen mit eisigen Ruten ins Gesicht peitschte, da fing auch das Kleine, das solange still und friedlich dagelegen, kläglich zu weinen an. Sie hüllte es fester in ihren Mantel und beugte sich tief auf das kleine, zitternde Körperchen nieder, um die Tränen nicht zu zeigen, die ihr unaufhaltsam über die Wangen rollten.

Nach einer halben Stunde Fahrt auf den lehmigen, regendurchweichten Wegen erreichte der Wagen sein Ziel. Fast hätte sie laut aufgeschrien, als sie das neue Heimwesen in seiner Trostlosigkeit und seinem Verfalle vor ihren Blicken liegen sah.

Langgestreckte, aus Lehm und Heidekraut aufgeführte Wirtschaftsgebäude – ein sumpfiger Hof – ein niedriges, mit Schindeln gedecktes Wohnhaus, von dessen Wänden der Kalk stellenweise abgebröckelt war und die nackte Mauer bloßlegte – ein verwilderter Garten, in dem die letzten traurigen Reste des Sommers, Astern und Sonnenblumen, neben halbverwesten Küchenkräutern wucherten, ringsum ein grell angestrichener Zaun, dem man vor seinem Ende noch eine letzte Ölung gegeben zu haben schien – das war der Ort, an welchem die Familie des abgewirtschafteten Gutsbesitzers fortan zu hausen hatte.

Das war der Ort, an welchem der kleine Paul heranwuchs, welchem die Liebe seiner Kindheit, die Sorge seines halben Lebens galt... Er war in seinen ersten Jahren ein gar zartes, siechendes Geschöpf, und in mancher Nacht zitterte die Mutter, daß das matte Lämpchen seines Lebens verlöschen werde, ehe der Morgen graute. Dann saß sie in dem düsteren, niederen Schlafzimmer, die Ellbogen auf die Kante des Bettchens gestützt, und starrte mit brennenden Augen auf das magere Körperchen nieder, welches ein Krampf schmerzhaft zusammenzerrte.

Aber er überstand alle die Krisen der ersten Kindheit, und mit fünf Jahren war er, wenn auch schwächlich an Gliedern und blaß, fast welk im Gesicht – die alten Züge hatte er richtig beibehalten –, ein gesunder Knabe, auf dessen Emporkommen man Hoffnungen setzen konnte.

In dieselbe Zeit fallen seine frühesten Erinnerungen.

Die erste, die er sich in späteren Jahren vielfach zurückrief, war folgende: Das Zimmer ist halbdunkel. An den Fenstern blühen die Eisblumen, und rötlich dringt der Schein des Abendrots durch die Gardinen. Die älteren Brüder sind Schlittschuhlaufen gegangen, er aber liegt in seinem Bett, denn er muß früh schlafen gehen, und neben ihm sitzt die Mutter, die eine Hand um seinen Hals gelegt, die andere auf der Kante der Wiege, in welcher die beiden kleinen Schwesterchen schlafen, die der Storch vor einem Jahr gebracht, beide an ein und demselben Tage.

»Mama, erzähl mir ein Märchen«, bittet er.

Und die Mutter erzählte. Was, daran erinnert er sich nur dunkel, aber es war darin von einer grauen Frau die Rede, welche in allen trüben Stunden die Mutter besucht hatte, eine Frau mit bleichem, hagerem Gesicht und dunkeln, verweinten Augen. Sie war wie ein Schatten gekommen und wie ein Schatten gegangen, hatte die Hände über der Mutter Haupt gebreitet, ungewiß, ob zum Segen oder zum Fluche, und allerhand Worte gesprochen, die auch auf ihn, den kleinen Paul, Bezug hatten. Es war darin von einem Opfer und einer Erlösung die Rede gewesen, aber die Worte vergaß er wieder, wahrscheinlich, weil er noch zu dumm war, sie zu verstehen. Aber einer Sache erinnerte er sich ganz genau: Während er, schier atemlos vor Grauen und Erwartung, den Worten der Mutter lauschte, sah er plötzlich die graue Gestalt, von der sie sprach, leibhaftig an der Tür stehen – ganz dieselbe mit ihren erhobenen Armen und ihrem blassen, traurigen Gesicht. Er verbarg den Kopf im Arm der Mutter – sein Herz pochte, der Atem fing an, ihm zu fehlen, und in Todesangst mußte er aufschreien: »Mama, da ist sie, da ist sie!«

»Wer? Die Frau Sorge?« fragte die Mutter.

Er antwortete nicht und fing zu weinen an.

»Wo denn?« fragte die Mutter weiter.

»Dort in der Tür«, erwiderte er, sich aufrichtend und ihren Hals umklammernd, denn er hatte große Angst.

»O du kleiner Dummrian!« sagte die Mutter. »Das ist ja Papas langer Reisemantel.« Und sie holte denselben her und hieß ihn Futter und Oberzeug betasten, damit er's ganz genau wüßte, und er gab sich darein, aber innerlich war er nur um so fester überzeugt, daß er die graue Frau von Angesicht zu Angesicht gesehen.

Und nun wußte er auch, wie sie hieß.

»Frau Sorge« hieß sie.

Aber die Mutter war nachdenklich geworden und ließ sich nicht bewegen, das Märchen zu Ende zu erzählen. Auch in späteren Zeiten nicht. Mochte er sie noch so flehentlich bitten.

Von dem Vater hatte er aus jenen Jahren nur eine dunkle Erinnerung bewahrt. Ein Mann mit großen Wasserstiefeln, der die Mutter schalt und die Brüder prügelte und ihn selbst zu übersehen pflegte. Nur bisweilen fing er einen scheelen Blick auf, der ihm nichts Gutes zu bedeuten schien. Manchmal, besonders wenn er in der Stadt gewesen war, hatte sein Gesicht eine dunkelrote Farbe wie ein überheizter Kessel, und sein Gang lief kreuz und quer von einer Diele auf die andere. Dann spielte sich immer dieselbe Geschichte ab:

Zuerst liebkoste er die beiden Zwillinge, die er ganz besonders in sein Herz geschlossen hatte, und schaukelte sie auf seinen Armen, während die Mutter dicht dabeistand und mit angstvollem Blick alle seine Bewegungen verfolgte; dann setzte er sich zum Essen, stöckerte ein wenig in den Schüsseln herum und schob sie dann beiseite, indem er den »Fraß« pauvre und unschmackhaft nannte, riß auch wohl Max oder Gottfried eins mit der Gerte über den Nacken, war auf die Mutter böse und ging schließlich hinaus, um mit den Knechten Händel anzufangen. Weithin hallte dann seine wetternde Stimme über den Hofraum, so daß selbst der Karo an seiner Kette den Schwanz zwischen die Beine kniff und sich in den hintersten Winkel seiner Bude zurückzog. – Kehrte er nach einer Weile in das Zimmer zurück, so war seine Stimmung meistens von Zorn in Verzweiflung umgeschlagen. Er rang die Hände, klagte über das Elend, in dem er hier hausen müßte, und sprach zu sich selber von allerhand großen Dingen, die er unternommen haben würde, wenn nicht dies oder das ihn verhindert hätte, und wenn Himmel und Erde nicht miteinander verschworen wären, ihn zugrunde zu richten. Dann trat er wohl ans Fenster und schüttelte die Faust nach dem weißen Hause hin, das aus der Ferne so freundlich herüberblickte.

Ja, dieses weiße Haus!

Der Vater schalt darauf, er runzelt die Brauen, wenn nur sein Blick nach jener Richtung hinschweifte, und er selbst, er hatte es so lieb, als wenn ein Stück seiner Seele dort weilte. Warum? Er wußte es selbst nicht. Vielleicht nur, weil die Mutter es liebte. Auch sie stand ja gar oft am Fenster und schaute darauf hin, aber sie runzelte nicht die Brauen, o nein! – ihr Gesicht wurde weich und wehmütig, und aus ihren Augen strahlte eine Sehnsucht, so inbrünstig, daß ihm, der still daneben stand, gar oft ein Schauer heiß über den Nacken lief.

War doch sein kleines Herz von ganz derselben Sehnsucht erfüllt! Erschien ihm doch, so lange er denken konnte, jenes Haus als der Inbegriff alles Schönen und Herrlichen! Stand es doch, wenn er die Lider zudrückte, allezeit vor seinen Augen, schlich es sich doch selbst in seine Träume hinein!

»Bist du schon einmal in dem weißen Hause gewesen?« fragte er eines Tages die Mutter, als er seine Wißbegier nicht länger zügeln konnte.«

»O ja, mein Sohn«, erwiderte sie, und ihre Stimme klang traurig und unsicher.

»Oft, Mama?«

»Sehr oft, mein Junge. Deine Eltern haben einmal dort gewohnt, und du bist dort zur Welt gekommen.«

Seitdem war ihm das »Weiße Haus« dasselbe, was dem Menschengeschlecht das verlorene Paradies...

»Wer wohnt denn jetzt in dem weißen Haus?« fragte er ein andermal.

»Eine schöne, freundliche Frau, die alle Menschen liebhat und dich ganz besonders, denn du bist ja ihr Patenkind.«

Ihm war zumute, als ergösse sich eine unendliche Fülle von Glück über sein Haupt. Er war so aufgeregt, daß er zitterte.

»Warum fahren wir denn nicht zu der schönen, freundlichen Frau?« fragte er nach einer Weile.

»Papa will's nicht haben«, erwiderte sie, und ihre Stimme hatte einen eigentümlichen scharfen Klang, der ihm auffiel.

Er fragte nicht weiter, denn des Vaters Wille galt als ein Gesetz, dessen Gründen niemand nachzuforschen hatte, aber an diesem Tage knüpfte das Geheimnis des weißen Hauses ein neues Band zwischen Mutter und Sohn. – Öffentlich durfte nicht von ihm gesprochen werden. Der Vater wurde wütend, sobald man seine Existenz nur andeutete, und auch die Brüder mochten mit ihm, dem Jüngsten, nicht gern darüber reden; wahrscheinlich fürchteten sie, daß er's in seiner Dummheit wiedersage. Aber die Mutter, die Mutter vertraute ihm!

Wenn sie miteinander allein waren – und sie waren während der Schulzeit fast immer allein –, dann öffnete sich ihr Mund und mit dem Munde das Herz, und das weiße Haus stieg aus ihren Erzählungen immer höher und leuchtender vor seinen Augen empor. Bald kannte er jedes Zimmer, jede Laube im Garten, den grünumbuschten Weiher mit der spiegelnden Glaskugel davor und die Sonnenuhr auf der Terrasse; man denke, eine Uhr, auf welcher die liebe Sonne selbst die Stunden anzeigen mußte. Welch ein Wunder!

Er hätte mit geschlossenen Augen auf Helenenthal umhergehen können und sich dennoch nicht verirrt.

Und wenn er mit Klötzchen spielte, dann baute er sich ein weißes Haus mit Terrassen und Sonnenuhren – zwei Dutzend auf einmal! –, grub Teiche in den Sand und befestigte Murmelsteine auf kleinen Pfählen, um die Glaskugeln anzudeuten. Aber freilich, spiegeln taten sie nicht.


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