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XVII.

Beim Staatsanwalt.

Der Staatsanwalt von Quedenau studirte sinnend ein Aktenstück; er prüfte mit der größten Aufmerksamkeit die in demselben enthaltenen Protokolle über die nach dem Einbruch beim Präsidenten Wartenberg stattgefundene Untersuchung des Gartens und des Arbeitszimmers, über die Zeugenaussagen des Bedienten Johann und des Schlossers Bernard, sowie über die seitdem erfolgten Verhöre des angeschuldigten Weinert.

Quedenau war von der Schuld des früheren Zuchthäuslers überzeugt gewesen, als er die erste Anzeige von dem Einbruch und von den gegen Weinert vorliegenden schweren Verdachtsgründen empfangen hatte, und mit dem Eifer, der ihn bei jeder Arbeit rühmlich auszeichnete, bereitete er sich für die Anklage des Verbrechers vor.

Seitdem aber waren ihm peinigende Zweifel darüber gekommen, ob denn auch der Gefangene wirklich schuldig sei, den tiefsten Eindruck hatte Weinerts Benehmen im Gefängniß auf ihn gemacht. Der Angeschuldigte zeigte eine Ruhe, ja eine Würde, welche nur entweder aus dem Bewußtsein der Unschuld oder aus einer unerhörten, bei einem ungebildeten Arbeiter kaum glaublichen Selbstbeherrschung hervorgehen konnte.

Er antwortete einfach, klar und sachgemäß auf jede ihm vorgelegte Frage, niemals verwickelte er sich in Widersprüche und alle seine Aussagen stimmten auf das Genaueste mit den Ermittelungen überein, welche der Staatsanwalt anstellte. Seine Unterredung mit dem Präsidenten erzählte Weinert fast genau mit denselben Worten, welche der Zeuge Johann zu Protokoll gegeben hatte; aber er lächelte nur über die Deutung, welche der Bediente seinen Mienen und Blicken gegeben habe. Er behauptete den ganzen Abend und einen Theil der Nacht mit der Arbeit für den Präsidenten beschäftigt gewesen zu sein, und er berief sich hierüber auf das Zeugniß seiner Frau, die bei ihrer Vernehmung auch seine Aussagen bestätigte. Ihr Zeugnis konnte aber freilich nicht als ein vollgiltiges betrachtet werden, da sie ein zu hohes Interesse bei der Sache hatte, als daß ihre Vereidigung zulässig gewesen wäre. Auch auf den Präsidenten berief sich Weinert mit vollem Vertrauen, dessen Vernehmung aber war bei seiner schweren Krankheit unmöglich.

Der Umstand, welcher den Schlosser am meisten belastete, war die Auffindung des eisernen Geldkastens auf seinem Hofe. Weinert erklärte vor dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt, daß er etwas Bestimmtes über die Art, wie der Kasten in die Düngergrube gekommen sei, nicht wisse; er habe den Verdacht, daß der Einbruch von seinem Todfeinde, seinem früheren Zuchthausgenossen, dem jetzigen Polizei-Vigilanten Sentner verübt und von diesem der Kasten in die Grube geborgen sei, und die Kriminalpolizei irre zu leiten, aber er vermochte für diese Angabe gar keine weiteren Gründe anzuführen, und sie zerfiel in sich selbst, als Sentner vernommen wurde und sein Alibi an jenem Abend so überzeugend nachwies, daß nicht einmal seine Verhaftung möglich war.

Noch ein anderer Umstand sprach gegen Weinert. Die in die weiche Erde der Gartenbeete scharf eingedrückten Fußstapfen, deren Länge und Breite von den untersuchenden Polizisten gemessen worden waren, entsprachen ungefähr dem Maß der Stiefel des Schlossers. Nur erinnerte sich der Polizei-Kommissarius Habicht, daß die Fährten aus stark mit Nägeln beschlagene Stiefel schließen ließen, während das gesammte Schuhwerk Weinerts nicht einen stärkeren Nägelbeschlag zeigte, als er bei ordinärem Schuhwerk üblich ist. – Für Weinert sprach endlich sein bisheriges musterhaftes Leben und die Aussage des Schlossers Bernard, der fest bei seiner Behauptung blieb, eine so jammervolle Pfuscharbeit, wie jener ungeschickte Einbrecher, könne kein gelernter Schlosser liefern, selbst wenn er es wolle.

Der Staatsanwalt von Quedenau befand sich bei dieser Untersuchung in einer peinlichen Verlegenheit. Es lagen gegen Weinert schwere Verdachtsgründe, aber nicht ein einziger Beweis vor. Weinert wußte, daß der Präsident eine bedeutende Summe Geldes in seinem Schreibtisch aufbewahrte, dies aber war nicht ihm allein bekannt, der Bediente Johann war Zeuge der Unterredung mit dem Präsidenten gewesen, dieser hatte außerdem früher häufig bei Auszahlungen in Gegenwart der Handwerker, welche Geld zu erhalten hatten, den Geldkasten im Schreibtisch geöffnet – der Bediente Johann hatte auf Befragen hierüber eine sehr bestimmte Aussage gemacht. Auch war es schon vielen Leuten bekannt, daß der Präsident Schatzmeister der Kirchenbaukasse geworden sei und daher größere Geldsummen bei sich aufbewahrte.

Die Auffindung des Geldkastens auf Weinerts Grund und Boden war gewiß höchst verdächtig, möglich aber und selbst wahrscheinlich war es, daß ein fremder Einbrecher, um den Verdacht von sich abzuleiten, den Kasten dort versteckt habe. Sentner war es nicht, ein Anderer aber konnte denselben Gedanken gehabt haben. Dem widersprach freilich der Umstand, daß nur ein sehr geschickter Schlosser den Kasten, ohne das Kunstschloß zu sprengen, geöffnet haben konnte, und daß außer Weinert sich in M** kein Schlosser befand, gegen welchen ein Verdacht zulässig gewesen wäre. –

Der Staatsanwalt zog alle diese Verdachtsgründe in die ernsteste Erwägung; aber sie genügten ihm nicht, um die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten zu erhalten, ja nicht einmal; um an sie zu glauben. Es lag ein räthselhaftes Dunkel auf diesem seltsamen Einbruch, ein Dunkel, welches erhöht wurde durch die widerwilligen Aussagen, die der Präsident gemacht hatte, und durch dessen jetzige Krankheit.

War es unter solchen Umständen möglich, eine Anklage gegen Weinert zu erheben? Nein, es war unmöglich. Ernst von Quedenau würde niemals seine Hand dazu geboten haben, einen Mann, den er selbst für unschuldig hielt, dem ungewissen Ausspruch der Geschworenen zu überliefern.

Wie leicht konnte ein »Schuldig« den Unschuldigen für viele Jahre ins Zuchthaus senden und ihn für immer verderben. Bei Prozessen wegen Eigenthumsverletzungen sind ja die Geschworenen nur zu geneigt, Verdachtsgründe für Beweise anzusehen und das »Schuldig« auszusprechen, zumal wenn der Angeklagte ein Zuchthäusler ist.

Eine Anklage konnte der Staatsanwalt mit gutem Gewissen nicht erheben, aber war es auch nur gerechtfertigt, den Angeschuldigten vielleicht noch für lange Zeit in Untersuchungshaft zu halten? Wochen, vielleicht Monate konnten vergehen, ehe es möglich wurde, den Präsidenten zu vernehmen und dabei lag nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit vor, daß dessen Aussagen einen entscheidenden Einfluß auf den Gang der Untersuchung ausüben würden.

Das Gefühl des redlichen Mannes empörte sich gegen den Gedanken, daß ein vielleicht, ja wahrscheinlich Unschuldiger noch für lange Zeit der Freiheit beraubt, daß der Ernährer seiner Familie entzogen würde, nur weil ein überdies zweifelhafter Zeuge schwer erkrankt war. Ebenso bedenklich aber erschien es, bei den vorliegenden, immerhin schweren Verdachtsgründen, Weinert zu entlassen und es ihm dadurch, wenn er der Schuldige war, möglich zu machen, für die sichere Unterbringung des geraubten Geldes zu sorgen und die Spuren seines Verbrechens, noch mehr als schon geschehen war, zu verwischen.

Ernst von Quedenau wurde in dem tiefen Sinnen über einen Ausweg aus dem Labyrinth, in welchem er sich bewegte, durch das Geräusch der sich öffnenden und schließenden Zimmerthür gestört; als er sich unwillig darüber umwendete, erblickte er seine Braut.

So hatte er sie noch nicht gesehen. Sie war geisterhaft bleich. Ihr dunkles Auge leuchtete in einem fast unnatürlichen Feuer, und als sie ihm die Hand reichte, brannte diese in der seinigen.

»Was ist Dir, Marie?« rief er erschreckt. »Was ist geschehen? Ist der Vater kränker oder vielleicht gar – –«

»Der Vater ist nicht kränker,« erwiderte Marie mit erzwungener Ruhe, aber Ernst hörte sehr wohl aus dem leichten Zittern der Stimme, daß seine Braut nur mühsam ihre Aufregung unterdrückte.

»Sprich, Marie, meine liebe, theure Marie,« sagte er, sie zärtlich umfangend und sie nach dem Sopha führend, – »Du hast eine schwere Sorge auf dem Herzen. Vertraue sie rückhaltslos mir an. Wir sind ja eins für das Leben. Dein Schmerz ist mein Schmerz; ich habe ein heiliges Recht auf Dein Vertrauen.«

Sie schmiegte sich an ihn. Jetzt endlich fand sie die erleichternden Thränen. Lange, lange Zeit schwieg sie, dann aber richtete sie sich auf und die Thränen trocknend sagte sie: »Habe Dank für Deine Liebe, Ernst; sie hat mich stark gemacht zur Erfüllung der Pflicht, die mich fast erdrückte. Du verlangst Vertrauen von mir! Ja, ich schulde es Dir, nicht nur Dir, meinem Verlobten, sondern Dir, dem Staatsanwalt, dem Diener des Gesetzes. Mag, nachdem der Staatsanwalt von Quedenau mich gehört hat, Ernst von Quedenau beurtheilen, ob er sein Gelöbniß, welches ich ihm zurückgebe, erfüllen darf.«

»Kein Wort weiter, Geliebte, ehe ich Dir versichert habe, daß nichts mich je von Dir trennen wird. Was Du mir auch mittheilen magst, ich verspreche Dir – –«

»Ich nehme kein Versprechen von Dir an, ehe Du mich gehört hast. Wenn ich die Rücksichten, die ich meinem Rufe schulde, verletze, – wenn ich Dich hier in Deiner Wohnung besuche, – so geschieht es, weil eine höhere Pflicht mich zwingt, weil ich ein Werk zu vollbringen habe, welches fast meine Kräfte übersteigt. Nicht zu meinem Verlobten bin ich gekommen, sondern zum Staatsanwalt. Er möge es mir verzeihen, wenn ich für kurze Zeit meine Pflicht vergaß, um mich in den Armen meines Geliebten auszuweinen und dadurch zu stärken für mein schweres Werk. Jetzt aber bin ich stark und gefaßt und so erkläre ich denn Ihnen, Herr Staatsanwalt von Quedenau, daß ich zu Ihnen komme, um meinen Vater, den Präsidenten Wartenberg, der Unterschlagung, des Diebstahls und der falschen Anklage gegen einen Unschuldigen zu bezichtigen und Ihnen zu sagen: thun Sie ohne Rücksicht Ihre Pflicht!«

»Welche entsetzliche Anklage! Du bist krank, Geliebte! Deine Hand brennt. Dein Auge glüht. Beruhige Dich, mein liebes theures Kind. Ich werde Dich nach Hause begleiten, den Arzt rufen. Du hast Dich bei der Pflege Deines armen Vaters zu sehr angestrengt.«

»Wäre es doch so! Wären es doch Fieberphantasien, die mich fast wahnsinnig machen,« sagte sie traurig. »Leider aber bin ich gesund, ich träume nicht, und was ich sage, ist die traurige Wahrheit. Hören Sie mich an, Herr Staatsanwalt!«

»Sprich nicht so, Marie; nenne mich nicht Sie, nicht Staatsanwalt.«

»Willst Du mir versprechen, daß Du mich hören und dann ohne Rücksicht auf meinen Vater und auf mich nur die Pflicht erfüllen willst, welche Dir als Staatsanwalt obliegt?«

»Ich verspreche es Dir! Fast aber könnte ich Dir zürnen, daß Du ein solches Versprechen von mir forderst. Kennst Du mich so wenig, Marie, daß Du glaubst, irgend eine Rücksicht auf der Welt könne mich bewegen, meinen Amtseid zu brechen und meine Pflicht zu verletzen?«

»Zürne mir nicht, Ernst. Höre mich an und dann erfülle Deine traurige Pflicht.« Sie erzählte, – nichts verschwieg sie ihm. Bei jener furchtbaren Nacht beginnend, in welcher sie das Geständnis ihres Vaters, daß er die Mündelgelder unterschlagen habe und nicht ersetzen könne, empfangen hatte, ließ sie von den Ereignissen der letzten Wochen nichts Wichtiges unerwähnt. Sie schilderte mit lebendigen Farben, wie sie nach dem Einbruch Verdacht gegen den Vater geschöpft habe, aber von diesem beruhigt worden sei, bis ihr endlich durch die heutige Unterredung mit dem trunkenen Polizei-Kommissarius Wetter, welche sie in allen Einzelheiten mittheilte, die Augen geöffnet worden seien.

»Und so komme ich denn,« so schloß Marie ihre Erzählung, »um den verbrecherischen Vater anzuklagen, damit der Unschuldige auch nicht eine Stunde länger unverdient leide!«

Ernst hatte fast schweigend die Erzählung seiner Braut gehört, nur hier und da hatte er eine kurze, trockene Frage zur Aufklärung dieses oder jenes Umstandes eingeworfen; er war ganz der Staatsanwalt gewesen, der ohne ein Zeichen des Mitgefühls der Zeugenaussage lauschte; als nun aber Marie schwieg, da ergriff er ihre beiden Hände, und ihr voll ins Auge schauend, sagte er:

»Ich habe Dich geliebt mit ganzer Seele, Marie; von diesem Augenblicke an aber verehre ich Dich! Du sollst mich fortan leiten auf dem schweren Wege der Pflicht, Du sollst der Stern des Rechts sein, der mir belichtet, mich führt, wenn ich jemals kleinmüthig schwanken sollte! Deine Seelengröße, Dein Heldenmuth sollen mich begeistern, Dir nachzuahmen!«

»Ernst!«

»Genug, Geliebte! Was ich fühle, vermag ich nicht auszusprechen. Ich bin zu unaussprechlich glücklich und doch so traurig über Dein Leid und Deinen Schmerz. Aber fasse neuen Muth, mein liebes, theures Kind. Das tiefe Pflichtgefühl, welches Dich zum Staatsanwalt führte, damit der Unschuldige gerettet werde, hat Dich recht geleitet; ja, Du hast selbst Deinem unglücklichen, verirrten Vater dadurch vielleicht den besten Dienst geleistet. Ich werde meine Pflicht erfüllen und zwar mit voller Strenge, aber sie ist nicht so schwer für mich, nicht so traurig für Dich und nicht so verhängnißvoll für Deinen Vater, wie Du geglaubt hast. Jetzt aber ans Werk, damit der unglückliche Weinert so schnell wie möglich aus dem Gefängniß entlassen werden kann.«

Er eilte an seinen Schreibtisch und setzte schnell einen Brief an den Polizei-Direktor auf.

»Verehrter Herr Direktor!

In einer dringenden Angelegenheit muß ich schleunigst den Polizei-Kommissarius Wetter vernehmen, ich bitte, ihn sofort nach meiner Privat-Wohnung zu beordern, dorthin auch zu gleicher Zeit einen andern, sehr zuverlässigen Beamten der Kriminal-Polizei zu senden und diesen mir für eine vielleicht sogleich nothwendig werdende Verhaftung resp. Haussuchung zur Disposition zu stellen. Die höchste Eile ist von größter Wichtigkeit! Ihr hochachtungsvoll ergebener

E. v. Quedenau, Staatsanwalt.«

Diesen Brief schickte Ernst durch seinen Diener an den Polizei-Direktor.

»Was willst Du thun, Ernst?« fragte Marie.

»Ich will den Polizei-Kommissarius Wetter in Deiner Gegenwart vernehmen. Er soll, was er Dir gesagt hat, vor mir wiederholen und es, nachdem ich es niedergeschrieben habe, durch seine Unterschrift bekräftigen. Dir gegenüber wird er schwerlich wagen, zu leugnen.«


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