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XVI.

Ein schwerer Entschluß.

Der Präsident lag seit acht Tagen schwer krank danieder. Man hatte ihn ohnmächtig in seinem Arbeitszimmer gefunden und er war nicht wieder zum Bewußtsein erwacht. Ein Nervenfieber sei es, sagte der Arzt, wahrscheinlich hervorgerufen durch die Gemüthsaufregung in Folge des Einbruchs.

Marie pflegte den Vater mit aufopfernder Liebe. Tag und Nacht saß sie unermüdlich am Krankenbett, nur wenn in Folge der übergroßen Anstrengung die Natur ihr Recht forderte, versank sie wohl für kurze Zeit in einen unruhigen Schlummer; aber sie erwachte stets bei der leisesten Bewegung des Kranken wieder.

Es waren qualvolle Tage und noch qualvollere Nächte, welche Marie am Bette des Vaters verbrachte. Mit Grauen lauschte sie den wilden, verworrenen Worten, die der Kranke in seinen Fieberphantasien ausstieß. Einen Theil derselben vermochte sie sich zu deuten, andere aber blieben ihr unverständlich, erfüllten sie jedoch mit den bangsten Ahnungen.

Was bedeutete es, wenn der Vater mit wilden Worten den nichtswürdigen Spion zurückwies, wenn er ihm befahl, sofort den Unschuldigen aus dem Kerker zu befreien, wenn er dann wieder ängstlich bat, nur das Leben möge man ihm lassen, er wolle ja alles gestehen; wenn er von dem alten Rendanten sprach, der mit zerschlagenem Schädel vor ihm liege; von der erbrochenen Regierungskasse, von den Ueberschuhen im Wasser und dem jüdischen Verräther in der Schustergasse?!

In wild verwirrten Bildern spiegelten sich offenbar die Erlebnisse der letzten Zeit in der Phantasie des Kranken, der sich bald am Spieltisch, bald in seiner Arbeitsstube, bald im Kassenlokal der Regierung oder in der Werkstatt des Schlossers glaubte. Oft sprach er barsch, drohend mit unbekannten Personen, dann wieder mild und freundlich mit einer jungen Frau, die er zu beruhigen versuchte, der er tröstend die glücklichste Zukunft versprach.

Diese Fieberphantasien waren für Marie eine entsetzliche Qual; es sprach aus ihnen das böse Gewissen des Kranken und aufs Neue erwachte in dem unglücklichen jungen Mädchen der entsetzliche Verdacht, daß der Vater selbst dem bei ihm verübten Einbruch nicht fremd sei und daß er einen Unschuldigen für das eigene Verbrechen büßen lasse. Ein Mal hatte der Vater diesen Verdacht durch seine Ueberredungskunst und seine Versicherungen beschwichtigt, jetzt aber nährten ihn die abgebrochenen Worte des Phantasirenden, deren Mittelpunkt meistens der unschuldig angeklagte Schlosser war, mehr und mehr, ja sie steigerten ihn fast bis zur Ueberzeugung.

Der Vater hatte sie getäuscht in jener heiligen Stunde, als sie sich ihm gläubig ans Herz warf. Seine Versicherungen waren Lügen, seine Entrüstung, seine Trauer über ihren Verdacht ein Schauspielerkunststück gewesen, um sie irre zu leiten. Der Unschuldige saß im Gefängniß. Ja, unschuldig war der unglückliche Schlosser, das bestätigte fast jedes Wort der Fieberphantasien. Durfte sie ihn ferner leiden lassen, jetzt, da sie die Ueberzeugung von seiner Unschuld gewonnen hatte? –

Aber was konnte, was durfte sie thun? Durfte sie dem Gericht ihren Verdacht gegen den Vater mittheilen und zugleich verrathen, was er ihr in jener Nacht vertraut hatte? Dann trieb sie ihn für immer in Schande und Elend, vielleicht in den Tod, und doch war er möglicherweise an jenem Einbruch unschuldig. Möglicherweise! Sie glaubte es nicht, aber die Möglichkeit mußte sie zugeben. Waren ihr doch die Vorgänge der letzten Zeit völlig unerklärlich. Von dem Lotteriegewinn, den der Präsident auch ihr verschwiegen hatte, wußte sie nichts; es mußte ihr daher unbegreiflich erscheinen, daß der Baron Rechtenberg mit allen seinen Forderungen befriedigt worden war und auch die Kirchenbaukasse ihre Kapitalien zurückgezahlt erhalten hatte.

Durfte sie allein auf die trügerischen Phantasien eines Fieberkranken die entsetzliche Anklage gegen den eigenen Vater begründen? Wie trügerisch waren diese verwirrten Worte, in denen sich Wahrheit und Einbildung so seltsam vermischten! Sprach nicht der Kranke täglich davon, daß er den alten Rendanten erschlagen habe, sah er ihn nicht mit zerschmettertem Schädel vor der beraubten Regierungskasse liegen, und doch kam der freundliche Mann täglich, um sich theilnehmend nach dem Befinden des verehrten Vorgesetzten zu erkundigen. Wie in diesem Falle der Kranke sich einbildete, ein Verbrechen begangen zu haben, an welchem er gewiß unschuldig war, – denn der Rendant lebte und die Regierungskasse war nicht beraubt, so konnte die wild erregte Phantasie ihm auch vorspiegeln, daß ein Unschuldiger für ihn im Gefängniß leide.

So lange Marie an eine solche Möglichkeit glauben konnte, durfte sie den Vater nicht verrathen, wie fest sie auch von dessen Schuld überzeugt sein mochte.

Es war am achten Tage der Erkrankung des Präsidenten, gegen Mittag, als Marie, die am Bett des Vaters saß, durch Johann die Mittheilung erhielt, ein Polizei-Kommissarius, Namens Wetter, verlange gebieterisch den Präsidenten zu sprechen und wolle sich durchaus nicht abweisen lassen. Er drohe, mit Gewalt in das Krankenzimmer zu dringen. Johann bat das Fräulein, doch persönlich mit dem unvernünftigen Menschen zu sprechen, vor einer Dame werde er wohl mehr Respekt haben, als vor einem Bedienten.

Marie hatte den mit Verwünschungen begleiteten Namen Wetter häufig von den Lippen des Kranken gehört; er war verflochten in das geheimnißvolle Gewebe, welches die Ereignisse der Einbruchsnacht umspann. Sie ahnte, daß sie vor der Lösung des furchtbaren Räthsels stehe, als sie Johann befahl, den Polizei-Kommissarius in den Gesellschaftssalon zu führen, wo sie ihn persönlich empfangen wolle.

Mit klopfendem Herzen erwartete sie den verhängnißvollen Besuch.

Als Wetter in den Gesellschaftssalon trat, erkannte Marie sofort, daß sie es mit einem halb Trunkenen zu thun habe. Das sonst nicht häßliche Gesicht des Polizisten war geschwollen und brannte in dunkler Röthe, der lange Schnurrbart hing heut wirr und wüst über den Mund fort, – die blauen Augen waren verschwommen wässerig und blickten unsicher; auch bemühte sich Wetter vergeblich, als er vorschritt und sich militärisch verneigte, ein sehr verdächtiges Schwanken zu verbergen.

»Mein Herr, Sie verlangen meinen Vater zu sprechen. Dies ist zu meinem Bedauern unmöglich, denn der Vater liegt ohne Besinnung schwer krank am Nervenfieber,« – begann Marie mit ruhiger, kalter Höflichkeit das Gespräch.

»Krank? Besinnungslos? Fauler Zauber!« rief Wetter roh auflachend. – »Wer den Schwindel glaubt! Damit müssen Sie mir nicht kommen. So dumm ist der Wetter nicht.«

»Mein Herr!«

»Spielen Sie nur nicht die Hochnäsige, das ist bei mir nicht angebracht! Kurz und gut also! Ich muß den Alten sprechen. Ich will ihn sprechen. Scheeren Sie sich hinein zu ihm und sagen Sie ihm, wenn er noch länger Flausen mache, dann solle er den Wetter kennen lernen.«

»Auf der Stelle verlassen Sie dies Zimmer!« sagte Marie tief entrüstet, mit gebieterischer Ruhe. »Gehen Sie, wenn Sie nicht wünschen, daß ich dem Bedienten klingele und Sie hinausbringen lasse.«

»Donnerwetter! Ich glaube gar, die kleine Kröte droht mir? Mir, der ich ihren Vater aufs Zuchthaus bringen könnte! Nun gehe ich erst recht nicht, sondern setze mich hier fest und weiche nicht, bis Sie den Alten gerufen haben.« Er zog sich bei diesen Worten einen Lehnsessel herbei, auf den er sich breit in die Mitte des Saales setzte. Brutal lachend warf er sich in die Polster zurück. »Hier sitze ich und hier bleibe ich.«

Marie preßte die Hand auf ihr hochklopfendes Herz; mit starkem Willen zwang sie sich, ruhig zu erscheinen, als sie erwiderte:

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß mein Vater am Nervenfieber schwer erkrankt besinnungslos liegt!«

»Ist nicht! Ich kenne das. Der alte schlaue Kunde stellt sich krank, damit er nicht zum Zeugniß gegen den Weinert gezwungen wird. Er möchte nicht gern einen Meineid obenein schwören, weil er glaubt, wenn die Geschichte herauskommt, dann noch schlimmer in die Patsche zu gerathen. Ja, schlau ist er, der alte Bursche; aber für den Wetter nicht schlau genug. Sagen Sie ihm das, Kleine, und sagen Sie ihm auch, vor mir brauche er sich nicht zu geniren. Ich werde ihn nicht verrathen, das weiß er ja.«

»Sie täuschen sich, mein Herr. Mein Vater ist wirklich schwer krank. Ich versichere es Ihnen.«

»Sehe Einer an, wie zahm die kleine Hummel schon wird. Sie sticht nicht mehr, spricht auch nicht mehr von Herausschmeißen. So ist's recht, mein Mädel. Ja, ich bin Papas bester Freund, und wir beide wollen uns auch schon vertragen. – Komm her, Kleine, gieb mir einen Kuß!«

Er stand auf und suchte die vor ihm Stehende zu umfassen; aber er wurde so unsanft und mit solcher Kraft zurückgestoßen, daß er wieder in den Lehnsessel niedersank. – Er nahm dies indessen keineswegs übel, lachend fuhr er fort:

»Das ist ja ein Wettermädel! Führt eine Faust, wie ein Küchendragoner! Willst mir also keinen Kuß geben? Na, wir werden uns schon besser kennen lernen, wenn ich erst der Herr Geheime Registrator und bald der Herr Geheime Kanzleirath bin. Wollen mal sehen, vielleicht nehm ich Dich noch zur Frau. Der Alte kann mir ja nichts abschlagen. Jetzt aber ruf' ihn, Mädel, ich habe keine Zeit und keine Lust, länger zu warten, da Du doch nicht mit mir schön thun willst.«

»Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, daß mein Vater schwer krank ist! Ich versichere es Ihnen auf mein Wort.«

»Wahrhaftig? Dabei sieht die Kleine so ehrlich aus, daß man ihr fast glauben möchte! Das wäre ja eine ganz verfluchte Geschichte; ich brauche nothwendig Geld. Hören Sie 'mal, Fräulein, Ihr Vater ist also wirklich krank? Er hat ein Nervenfieber?«

»Ja.«

»Und bewußtlos?«

»Ich versichere es Ihnen!«

»Ich glaube es nicht! Es ist nur eine faule Finte. Weil er mir die Stelle nicht verschafft hat und die tausend Thaler nicht zahlen kann, fürchtet er sich vor mir und will mich ebenfalls betrügen! Aber ich will mich selbst überzeugen. Hören Sie, Fräulein, wenn Ihr Vater bewußtlos ist, kann es ihm nicht schaden, wenn ich ihm einen kurzen Besuch mache. Ich will ihn sehen.«

Marie überlegte; sie kam schnell zu einem Entschluß.

»Wenn Sie mir versprechen, so leise aufzutreten, daß Sie den Kranken nicht erschrecken, und sich sofort wieder zu entfernen, will ich Sie an das Bett meines Vaters führen, damit Sie sich von der Wahrheit meiner Versicherung überzeugen.«

»Meinetwegen, ich verspreche es, und ein Schuft, wer sein Wort nicht hält. Sie sind ein vernünftiges Mädchen, und wenn der Alte wirklich krank ist, werden wir beide schon mit einander auskommen.«

»Folgen Sie mir; aber gehen Sie auf den Fußspitzen.«

Marie ging voran. Wetter folgte ihr so leise auftretend, wie es ihm sein schwankender Gang irgend gestattete. Als er in das Krankenzimmer trat, genügte ihm ein Blick auf die bleiche, abgezehrte Gestalt im Bett, auf die großen, weitgeöffneten, in das Nichts hineinstarrenden Augen, um zu erkennen, daß Marie die Wahrheit gesprochen habe. – Er zog sich sofort zurück.

»Das ist eine verfluchte Geschichte, Fräulein,« sagte er, als er den Gesellschaftssaal wieder erreicht hatte. – »Ihr Vater hatte mir zu heute 1000 Thaler versprochen, und nun liegt er schwer krank da. Ich muß heut Geld haben. Wie viel können Sie mir geben, Fräulein?«

»Ich weiß nichts von einer Schuld meines Vaters an Sie. Sie werden sich gedulden müssen, bis der Vater genesen ist.«

»Muß ich? Ich denke nicht daran. Ich brauche Geld, die lumpigen 100 Thaler haben gerade bis gestern gereicht; heut hab' ich schon auf Pump gelebt und bin in der Krone für das Frühstück und den Champagner 20 Thaler schuldig geblieben. Sie müssen blechen, Fräulein, das hilft 'mal nichts; aber mit 100 Thalern will ich zufrieden sein und mich einrichten, bis der Alte wieder auf dem Damme ist. Also rücken Sie nur heraus mit einem abgelegten Hundertthalerschein.«

»Mein Herr, ich bin dieser Unterhaltung müde und bitte Sie, sich endlich zu entfernen. Sie werden von mir kein Geld erhalten, da ich nichts von einer Verpflichtung meines Vaters gegen Sie weiß.«

»Fängt die kleine Hummel wieder an zu stechen? Da werden wir ihr wohl den Stachel ausziehen müssen! Die Verpflichtung, welche der Alte gegen mich hat, kann ich Ihnen leicht erklären. Ein Wort von mir bringt ihn aufs Zuchthaus. Vor acht Tagen hat er mir 100 Thaler gegeben und 1000 Thaler zu heut versprochen, damit ich den Schnabel halte. Das ist alles, mein kleiner Engel. Bist Du damit zufrieden?« –

Marie fühlte, wie das Blut ihr zum Herzen drang, sie war tief innerlich empört über die herabwürdigende Vertraulichkeit des nichtswürdigen Menschen, aber sie wußte sich zu beherrschen. Mit unveränderter Ruhe erwiderte sie: »Sie werden mich durch so thörichte Drohungen nicht einschüchtern und noch weniger durch dieselben Geld von mir erpressen.« –

»Thörichte Drohungen! Du sollst noch ein Paar Worte hören, dann wirst Du anders pfeifen, kleine Hummel! Hüte Dich, mich bös' zu machen, denn so wahr ich Wetter heiße, ich lasse nicht mit mir spaßen. – Ich hab' Deinen Vater in meiner Hand. Wie ein Hampelmatz soll er tanzen, wenn ich am Draht ziehe. Er muß zahlen, so viel ich haben will, und Du sollst auch zahlen, kleine Wetterhexe, und mir einen Kuß obendrein geben. – Hör' also: Ich hab's mit angesehen, wie Dein nobler Vater den Einbruch bei sich selbst gemacht, die Kirchenkasse bestohlen und den leeren Geldkasten in Weinerts Düngergrube versenkt hat. Ich kann beweisen, daß der Schlosser unschuldig sitzt, und Deinen Vater an seiner Stelle ins Gefängniß bringen, ja beweisen kann ich's: die Stemmeisen, die er gebraucht hat, das Pechpflaster, mit dem er die Fensterscheibe eingedrückt hat, die Ueberschuhe, die er beim Einbruch getragen, – alles habe ich aus dem Stadtgraben ausgefischt, und bei mir zu Hause liegt der ganze Schwindel, der Deinen Vater aufs Zuchthaus bringt. – Heraus also mit dem Hundertthalerschein, Mädel, – den Kuß will ich Dir für heut noch schenken!« –

Jetzt plötzlich begriff Marie viele der verwirrten Worte, welche ihr Vater in seiner Fieberphantasie ausgestoßen, und die sie bisher nicht verstanden hatte. Sie konnte nicht mehr zweifeln an seiner Schuld, jetzt aber lag auch der Weg, den fortan zu wandeln die Pflicht ihr gebot, klar und deutlich vor ihr. Sie schwankte nicht mehr, sie wußte, was sie zu thun hatte. Ohne dem Trunkenbold ein Wort zu erwidern, rief sie mit der auf dem Sophatisch stehenden silbernen Glocke den Bedienten Johann, der gewiß vor der Saalthür gewartet hatte, denn er öffnete fast unmittelbar nach dem Klingeln. »Was befehlen Fräulein?« fragte er, einen sehr bezeichnenden Blick auf den Polizei-Kommissarius werfend.

»Johann, Sie werden diesen Herrn sofort aus dem Hause führen,« erwiderte Marie, welche sich zwang, kalt und ruhig zu erscheinen. – »Sollte der Herr sich weigern, Ihnen zu folgen, dann rufen Sie die Arbeiter aus dem Garten. Sie gebrauchen das Hausrecht und wenden nöthigenfalls Gewalt an.«

»Donnerwetter, Fräulein! Was soll das heißen?« – schrie Wetter wüthend aufspringend. – »Wollen Sie mich zwingen, das Maul aufzuthun? Hüten Sie sich.«

»Mit Ihnen habe ich nichts mehr zu schaffen!« entgegnete Marie verächtlich. »Johann, befreien Sie mich von der Gegenwart dieses Menschen.«

»Na, wird's bald!« sagte Johann, dem Polizei-Kommissarius derb auf die Schulter schlagend. »Vorwärts, oder ich rufe die Arbeiter, und wir haben alle gesunde Fäuste.«

Wetter war durch den unvermutheten Ausgang seines Gesprächs mit der Tochter des Präsidenten so starr vor Staunen, daß diesem selbst seine Wuth wich. Die kalte, vornehme Ruhe Mariens imponirte ihm. Trotz seiner Trunkenheit fühlte er, daß er zu weit gegangen sei. Er warf einen zweifelhaften Blick auf die stämmige Figur und die derben Fäuste Johanns. Mit diesem Gegner konnte er sich kaum im Vollbesitz seiner Kraft, viel weniger jetzt, wo er auf den Füßen schwankte, messen. Da mußte er wohl für den Augenblick sich fügen.

»Ich gehe ja schon,« antwortete er. »Es war nicht so bös' gemeint, Fräulein. Ich hab' heut ein bischen 'was im Kopf, da werde ich leicht ein wenig grob. Morgen, wenn ich nüchtern bin, werde ich wiederkommen und wegen des Geldes mit Ihnen reden. Denn Geld brauche ich, da kann ich nicht helfen.«

»Keine Redensarten mehr, jetzt vorwärts, marsch!« rief Johann, indem er seine Worte mit einem kräftigen Stoß begleitete.

Wetter, der von der Tochter des Präsidenten nur einen verächtlichen Blick zur Antwort erhalten hatte, folgte brummend dem handgreiflichen Befehle, dem er sich nicht zu widersetzen wagte.

Marie kehrte in das Krankenzimmer zurück. Sie nahm ihren Platz neben dem Bette ein. Lange Zeit schaute sie sinnend in das bleiche, abgezehrte Antlitz, in welchem sie kaum mehr die geliebten, schönen, männlichen Züge des Vaters wiedererkannte. Sie dachte an die Zukunft, an sein Wiedererwachen zum Leben. Der Arzt hatte ihr am Morgen Hoffnung gegeben, daß der Kranke genesen werde, wenn er die bald zu erwartende Krisis überstehe. Konnte sie ihm die Genesung wünschen? War es für ihn nicht ein Glück, wenn er in der Bewußtlosigkeit hinüberschlummerte ins Jenseits?

Welches furchtbare Schicksal erwartete ihn, wenn er wieder zum Leben erwachte? Und sie, sein Liebling, seine Tochter mußte es ihm bereiten. Ja, sie mußte es thun, sie durfte mit dem Vater kein Mitleid haben, sie durfte nicht einmal zögern, ohne seine Mitschuldige zu werden; schmachtete doch ein Unschuldiger schon so lange im Gefängniß, weinten doch um jenen Weib und Kind und sehnten sich nach dem Vater, dem Ernährer.

Sie stand auf. Noch einen zärtlichen Kuß drückte sie auf die Stirn des Bewußtlosen, eine heiße Thräne rollte auf dieselbe nieder. Dann rief sie das treue Hausmädchen, welches sie für kurze Zeit in der Krankenpflege ablösen sollte.

»Ich komme in nicht zu langer Zeit zurück, sorge für den Vater,« sagte sie, Hut und Ueberwurf nehmend. Dann trat sie entschlossen den schwersten Gang an, den sie je im Leben gethan hatte.


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