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XVIII.

Die Nachricht von dieser großartigen Schenkung ging durch alle Zeitungen. Mit dem Tage ihres Bekanntwerdens war Paul eine berühmte Persönlichkeit. Weit über die Grenzen seiner Vaterstadt hinaus erklang nun sein Name, der jetzt in der Tat als der Name des Bürgerkönigs gefeiert wurde.

Aber die große Befriedigung, die innere, die er von diesem seinem letzten Schritte auf seiner Bahn des Ehrgeizes und des Ruhmes erhofft hatte, empfand er nicht. In dem Hause des verschwiegenen Gartens, um dessen Mauern das gewaltige und fast durch seinen Willen geschaffene Leben der neuen Großstadt Tag und Nacht brandete, lebte er, ein einsamer und alter Mann, der nun müde zu werden begann, der langsam das Bedürfnis fühlte, sich hinlegen und ausruhen zu können. Und auf dem bequemen Sessel seines Arbeitszimmers zur Seite des Fensters, von dem aus man über die Mauer des Gartens nach dem hastenden Leben der neuen Siegesstraße sah, saß stundenlang als seine einzige Gesellschafterin seine Mutter.

Im August dieses Jahres hatte Frau Baumann ihr dreiundneunzigstes Lebensjahr vollendet. Steinern und unbeweglich war ihr Antlitz geworden, und nur noch selten öffneten sich ihre Lippen, um eine Frage oder ein paar Worte an ihren jüngsten, nun auch schon an der Schwelle des Greisenalters stehenden Sohn zu richten. Ihre Augen waren trübe und schon lange versagten die zitternden Hände und die mühsam schlürfenden Füße den Dienst. Aber noch lauschte ihr Ohr dem gewaltigen und unablässigen Getöse, das von der neuen Siegesstraße hier herauf in die Einsamkeit ihres hohen Alters drang, noch blickte das Auge ihres Geistes nach außen und nach innen, noch arbeitete ihr Gehirn und ließ die Bilder der Vergangenheit und der Gegenwart an sich vorübergleiten, sah ahnend Bilder der Zukunft voraus.

Als eine alte Frau hatte sie sich schon damals gefühlt, als sie nach dem frühen Tode ihres Mannes die bescheidene Wohnung im Norden der Stadt bezogen, zusammen mit den Kindern, die Wohnung, deren Miete Ewald und Martha mit ihrem sauer erworbenen und kärglichen Verdienste bestritten hatten. Die Mahnung des Vaters, des alten Gymnasialprofessors, die Ideale des Menschenlebens nicht zugunsten des materiellen Gewinnes verkümmern zu lassen, hatten sie und die Kinder geflissentlich in den Wind geschlagen. Mit Hilde, der Tänzerin, hatte es seinen Anfang genommen, und mit Paul, dem vermeintlichen Sieger, endete es so! Noch war es klar in ihrem Kopfe und wie Schatten zogen sie täglich vorüber an ihren trüben Augen, die Kinder, die sie geboren hatte und deren Schicksal, die Enkel, die die Kinder dieser Kinder geworden waren und von denen sie manche gar nicht kannte! Bis auf Martha, die bescheidene, die nun schon Jahrzehnte in der kühlen Erde des Lenzdorfer Friedhofs ruhte, und bis auf Rolf, ihren Liebling, den Entgleisten und früh unter der Sonne der Tropen Dahingewelkten, waren sie hoch in diesem Leben gestiegen, zu hoch. Das hatte man schon an Ewald gesehen, der nicht dazu imstande gewesen, die Bürde der Langschen Millionen zu tragen, das sah man an Hildes Schicksal, deren Mann nun schon seit vielen Jahren in der Irrenanstalt Eben-Ezer saß, und das erkannte sie jetzt an Paul, ihrem Jüngsten, den sie einen Bürgerkönig und einen Volksbeglücker genannt hatten und der, wenn sie ihn genau betrachtete, der Ärmste von allen, ein Bettler unter den Sterblichen, geworden war.

Vierundzwanzig Jahre hatte sie allein und einsam an seiner Seite verbracht. In dieser langen Zeit waren Mutter und Sohn eins geworden. In dieser Zeit, da er rastlos Tag und Nacht seine gewaltigen Pläne hin und her erwogen und sie endlich verwirklicht hatte, war ihr reichlich Gelegenheit geboten worden, in der Seele dieses Mannes zu lesen. Und von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr hatte sie ihn tiefer erkannt. Mit dem zunehmenden Alter war ihr das, was ihr einst für sich und ihre Kinder das allein Begehrenswerte erschienen, die Sättigung ihrer Habgier, ferner und ferner gerückt, und an Pauls einsamem Alter erkannte sie die Früchte, die sie selber in der Jugend gesät hatte!

Vielleicht hatte der alte Gymnasialprofessor, ihr Mann, dessen Ansichten sie immer verlacht und dessen Lehren sie in den Wind geschlagen, doch nicht so unrecht gehabt! Das glaubte sie mit von Tag zu Tag trüber werdendem Auge und langsamer arbeitendem Verstande endlich am Rande dieses fast endlos erscheinenden Lebens zu erkennen. Wer die ganze Kraft seines Ich auf die eine Karte des Gewinnes setzte, der durfte sich am Ende nicht wundern, wenn bei diesem ganzen Leben für ihn nichts, als das kalte Gold heraussprang und wenn er am Ende selber, ein Bettler an Liebe und tieferem Gefühl, in dieser Welt dastand.

Und um dieses endlich zu erkennen und mit anschauen zu müssen, hatte sie bis auf Paul alle ihre Kinder überlebt. In der Blüte ihrer Jahre waren Ewald, Rolf und Martha, jedes auf schreckliche Weise dahingegangen, und eine alte und, wie sie wußte, sittenlose Frau, war nun auch Hilde, die Gattin Harry Seligers, vor Jahren gestorben, indessen er das Leben des Geistigumnachteten, das doch kein Leben war, weiter und weiter spann! Nun war ihr niemand mehr geblieben als Paul.

Und in vierundzwanzig langen Jahren der Einsamkeit, da diesen Frau und Kinder verlassen, hatte sie sich mit ihm verwoben. Es war ihr, als ob sie auf dieser Erde aushalten müsse, eine Ruhelose, eine von Gott dem Vater Vergessene, bis auch dieses letzte Leben, das ihr seine Entstehung verdankte, erloschen sei. Und wie ein Steinbild saß sie, die nun nicht mehr zu gehen vermochte, Tag für Tag auf ihrem Platze und wartete und wartete.

Und eines Morgens, da die Schwester, die Paul schon seit Jahren zur Pflege seiner Mutter im Hause hatte, sie wie an jedem neuen Tage nach ihrem Sessel mehr getragen als geführt hatte, waren ihre Hände und Füße eiskalt. Die Kraft des Herzens, das dreiundneunzig lange Jahre in diesem Körper millionen- und millionenmal geschlagen hatte, war nun verbraucht. Wie ein Uhrwerk, das abläuft, wie die Räder einer Maschine, die langsam einrosten, versagte es allmählich seinen Dienst. Die in der Krankenpflege bewanderte Schwester konnte es genau beobachten. Sie wußte, daß hier jedes Mittel vergeblich sei. Aber ihrer Pflicht zu genügen und der Weisung des Arztes zu folgen, legte sie heiße Tücher um Arme und Beine der Sterbenden, flößte sie ihr von Zeit zu Zeit einen Löffel schweren Weines ein und machte in der Herzgegend eine belebende Injektion.

Und noch einmal ging der Puls rascher, noch einmal öffneten sich die welken und schon bleichen Lippen und flüsterten: »Paul!«

Man hatte schon lange nach ihm geschickt und er kam.

Kein Wort brachte er über die Lippen, als er nun eintrat. Seit Jahren hatte er auf diese Stunde gewartet, er wußte, daß sie einmal werde kommen müssen, er, dessen einzige Gefährtin in vierundzwanzig langen Jahren diese Mutter gewesen war, die nun in der Tat und wie durch ein Wunder, ihm zuliebe, ein märchenhaftes Alter erreicht hatte. Es war ihm nicht möglich, eine Träne des Schmerzes oder eine Aufwallung der Verzweiflung zu finden, nur ein Gefühl des tiefsten Dankes durchbebte sein Herz. Sie war seine Mutter. Was sie auch an all den anderen, an Ewald und Martha, gesündigt haben mochte, sie hatte es nach seiner Meinung in den vierundzwanzig Jahren, die sie ihm allein zur Seite gestanden, gesühnt.

Seine Hand ruhte in der ihren, die sie nicht mehr zu fühlen vermochte, und er, ein Greis mit schneeweißem Haar, ein vor der Zeit Gealterter, lag auf den Knien vor dieser, die die mögliche Grenze menschlichen Daseins beinahe überschritten hatte. Er sah nicht zu ihr auf. Seine Finger suchten den entschwindenden Puls. Er fühlte, wie der leiser und leiser pochte, und in diesen letzten Minuten ihres Lebens gab er sich ganz dem Gefühle eines unauslöschlichen Dankes gegen das Schicksal hin.

Er hätte es nicht getragen, er hätte das Riesenwerk, den Bau einer neuen Stadt, nicht zu Ende geführt, wenn diese da nicht gewesen, wenn diese da nicht bis über die Grenzen des Menschen hinaus gelebt und ihm allein von allen zur Seite gestanden hätte! Das von Agathe und den Kindern verlassene Haus wäre über ihm zusammengestürzt, er hätte die Kraft nicht gefunden, das neue aufzurichten und in dieses zu ziehen, wenn diese da nicht bei ihm geblieben wäre. Wars nicht ein Wunder? Sechsunddreißig war er gewesen, da ihn Agathe mit den Kindern im Stiche gelassen, da er sein Leben allein an sein Werk und an die damals fast siebzigjährige Mutter gebunden hatte. Und nun war das Werk vollendet, fast ein Vierteljahrhundert verflossen, er ein Greis geworden, ehe diese für immer zur Ruhe ging. Und wie der letzte Strahl der scheidenden Abendsonne war das Lächeln seiner Mutter, der fast Hundertjährigen, auch über die Krönung seines Werkes gehuscht. Er hatte vollendet und bis zum Tage der Vollendung hatte diese da getreulich bei ihm ausgehalten. Nun war es gut! Nun war er fertig! Auch nicht die leiseste Regung ihres Pulses vermochte er zu spüren. Er sah auf. Ihre trüben Augen hatten ihren letzten Glanz verloren, die Flamme war zu Ende gebrannt. Das ruhelose Herz stand still.

Als Paul drei Tage später von der Beerdigung der alten Frau Baumann nach Hause zurückkehrte, vertrat ihm an der Kreuzung der neuen Siegesstraße und des Promenadengürtels eine tief verschleierte Dame den Weg.

Schon während der Trauerfeier auf dem Friedhof, der, ihn zu ehren, ein stattliches Gefolge beigewohnt hatte, war sie ihm aufgefallen. Die schwarzgekleidete Gestalt, deren Gesicht man nicht zu erkennen vermochte, hatte seine Blicke immer und immer wieder auf sich gezogen, und nun war es ihm gewesen, als würden plötzlich die Schatten der Vergangenheit zu lebenden Wesen.

Und eben, als er sein Haus betreten wollte, vernahm er an seiner Seite eine Stimme:

»Sie ist groß und schön geworden, die neue Stadt, die du gebaut hast, Paul.«

Und als Antwort kam nur ein einziges Wort von seinen Lippen: »Agathe!«

Und als ob es so sein müßte, öffnete er nun die Tür seines Hauses, durch die man die Mutter vor einer Stunde hinausgetragen, und ließ Agathe ein.

Schlank und biegsam, behend wie sie damals gewesen, stieg sie vor ihm die Treppen hinauf. Und er folgte ihr an allen Gliedern zitternd. Als er nun endlich vor ihr in seinem Zimmer stand, schlug sie den Schleier zurück, setzte sich und sagte:

»Ich glaube, die Stunde, in der ich wiederkommen mußte und durfte, ist jetzt gekommen, Paul.«

Und im Scheine der nun zur Rüste gehenden Abendsonne, deren Strahlen durch das weit geöffnete Fenster seines Arbeitszimmers fielen, sah er sie wieder nach vierundzwanzig langen Jahren.

»Der Platz an deiner Seite ist heute leer geworden, Paul«, vernahm er sie nun wieder. »Ich werde ihn ausfüllen.«

Kein Wort der Erwiderung kam von seinen Lippen. Er starrte sie an. Auch ihre einst so wundervollen blonden Haare waren weiß geworden, um Lippen und Schläfen hatten die Sorgen und die Jahre ihre tiefen Runen gegraben.

»Du erinnerst dich, was ich damals schrieb«, begann sie nun wieder. »Du staunst, wenn du mich ansiehst. Vielleicht können wir die Bürde des Alters zusammen tragen, wir, die die Freuden der Jugend und die Arbeit auf der Höhe des Lebens nicht zu teilen vermochten. Willst du mir verzeihen und mich wieder aufnehmen, Paul?«

Ein wehes Schluchzen schüttelte seinen ganzen Körper.

»Ich habe gefehlt, Agathe«, stammelte er nun, »ich, ich, ich weiß. Und ich habe furchtbar gebüßt.«

»Du bist deine Wege gegangen, Paul«, sagte sie jetzt in aller Ruhe, »die Wege, die ich nicht mitgehen durfte und konnte, und nun hast du dein Ziel erreicht.«

»Wie meinst du das?«

»Ich weiß alles, Paul! Ich habe sie verfolgt, diese Wege, vom ersten Tage meines Scheidens an bis zu dieser Stunde. Und ich weiß, daß du endlich den Sieg über dich selber gefunden hast, und darum bin ich wieder hier! Wirst du mich als eine Undankbare, als eine, die nur an sich gedacht hat, wie du vielleicht meinst, von dannen jagen?«

Und er, den heute auf dem Friedhof das furchtbare Gefühl der Vereinsamung wie mit eisernen Klammern gepackt hatte, bat und bettelte: »Bleibe, Agathe, bleibe! Ich gehe zugrunde, wenn ich die Bürde dieses Lebens allein tragen muß.«

Da legte sie Hut und Mantel ab und begann in dem an sein Zimmer stoßenden Raume den Tisch für die Abendmahlzeit zu rüsten, gerade so, als ob sie erst gestern gegangen wäre.

»Es ist nicht mehr das alte Zimmer und nicht mehr der alte Tisch der Lenz und der Badrutts, Paul«, sagte sie nun. »Aber ich werde mich auch hier allmählich zurecht finden. Du brauchst mir nichts zu erzählen, alles habe ich gehört und alles gelesen von deiner Größe und von deinem Ruhme, Paul, die nun am Ende ihrer Wünsche angelangt sein mögen! Die Kunde von deiner Stiftung und die Nachricht von dem Tode der Mutter sind in meine Hände gelangt, und ohne diese beiden Nachrichten wäre ich noch nicht hier. Aber an mir ist es, dir Rechenschaft zu geben, warum ich so gehandelt habe und warum ich so handeln mußte, Paul.«

»Ich darf dir keinen Vorwurf machen, Agathe, und ich habe kaum das Recht, nach den Gründen deines Handelns zu fragen«, erwiderte er nun. »Als du damals gingst, hattest du mich erkannt, das war alles. Damals dämmerte dir die Lüge, auf der ich mein Leben aufgebaut hatte.«

Seine Stimme zitterte, während er diese Worte sprach.

Nun saßen sie einander gegenüber an dem Tische und sie goß den Tee in die Tassen. Dann rückte sie näher an ihn heran und strich mit ihrer Hand über sein weißes Haar.

Und er ließ es sich ruhig gefallen und meinte:

»Ja, Agathe, sie sind weiß und licht geworden, die Tage des Alters nahmen ihren Anfang, und die Leidenschaften, mit denen und um die wir uns gegenseitig betrogen haben, sind nun vorbei.«

»Und wenn ein stiller Abend dem stürmischen Tage folgt, möchtest du diesen Abend opfern?« fragte sie nun.

Leise schüttelte er mit dem Kopfe und dann meinte er:

»Lassen wir das Vergangene, Agathe, das wir beide doch nicht mehr zu ändern vermögen. Sprechen wir nicht von dem Warum und Weshalb.«

Und nun wagte er endlich die Frage, die ihn seit ihrem ersten Anblick unablässig beschäftigt hatte:

»Was machen die Kinder, Agathe, sind sie noch alle am Leben?«

Da begann es in ihren Augen zu leuchten.

»Ja, Paul! Robert ist Direktor eines Eisenwerkes in Pittsburg. Ich habe ihnen allen ihren Willen gelassen. Anna hat in St. Louis einen jungen Hamburger kennen gelernt, einen trefflichen Menschen, Konstantin de Kahnen, der dort das Filialhaus seines väterlichen Geschäftes leitet. Den hat sie geheiratet. Sie wird einmal nach Hamburg übersiedeln, wenn der alte Herr die Geschäfte für immer niederlegt und Konstantin einen Direktor in den Vereinigten Staaten anstellen wird. Mit den Jüngsten bin ich nach Annas Verheiratung schon lange nach Europa zurückgekehrt und nach Berlin gezogen. Luise ist jetzt eine berühmte Künstlerin unter dem Namen Lorma und Gustav ist nach seinem Wunsch Offizier geworden. Er ist jetzt Oberleutnant und steht in Schöneberg.

Ohne jede innere Erregung hörte er dies alles ruhig mit an. Es war ihm gar nicht, als ob hier von seinen eigenen leiblichen Kindern die Rede sei, gar nicht, als ob die Frau, die solches erzählte, zwölf lange Jahre hindurch seine Gattin, die Mutter dieser Kinder, gewesen. Aber eines wurde ihm gleich in dieser ersten Stunde ihres erneuten Zusammenseins klar, sie hatten die Fühlung miteinander verloren, für sie gab es nichts Gemeinsames mehr. Die Trennung und die Jahre hatten das Wenige verwischt, das Kärgliche getötet, das auch in dieser Ehe als das aneinander Bindende einstmals vorhanden war.

So fremd und kühl ward ihm mit einem Male zumute. An dem Heute, an dem Gestern, an der jüngsten Vergangenheit haftete sein Geist, an dem, was in diesen Tagen gewesen und nicht an dem anderen, was seit Jahren und Jahren vergangen. Was waren ihm Robert, Anna, Gustav und Luise, von denen diese Frau strahlenden Auges erzählte, die er als Kinder gekannt hatte, über deren Jugend er, von seinen gewaltigen Plänen ganz in Anspruch genommen, nicht gewacht hatte und die nun groß und alt geworden? Trotz der Stimme des Blutes genau so fremde Menschen, wie die Leute, die gerade durch die neue Siegesstraße schritten. Er fühlte es, die Zeit hatte die Liebe getötet, an dem köstlichsten Schatze des Menschenlebens war er einst achtlos vorüber gegangen, und diesen Schatz aufs neue zu heben, war es nun zu spät, und wenn er und Agathe im Besitze der Wünschelrute eines Zauberkünstlers gewesen wären!

Ihm war so weh.

»Mutter, Mutter«, schluchzte er da mit einem Male, »warum hab' ich dich dennoch überlebt?«

Agathe verstand ihn und sie tröstete:

»Der stille Abend wird kommen, Paul, der friedliche, auch für dich und für mich! Habe Geduld! Noch ist seine Stunde nicht angebrochen. Noch toben die Schmerzen des Lebens und der Gram der letzten Tage in deiner Brust. Aber auch sie werden schwinden, wenn erst die Sonne des Herbstes an einem reinen Himmel untergeht. Ich bin geflohen, weil es mich zerschmettert hätte, nun bin ich wiedergekommen, nachdem das alles vorüber, und ich werde bleiben, so lange noch die Sonne an diesem friedlichen Himmel des Herbstes steht.«

Er verstand sie noch nicht.

Und sie in dem schmerzlichen Gefühle, daß er sie niemals verstanden hatte, daß er sie vielleicht niemals ganz begreifen würde, sagte nun:

»Wenn du auch vorhin gesagt hast, Paul, daß wir das Vergangene ruhen lassen müssen, so muß ich dennoch daran rühren, denn dieses Vergangene allein erklärt uns die Gegenwart. Mit deiner Liebe begann mein Leben, mit ihr begann aber zugleich der verbrecherische Wunsch in meinem Inneren, der Konrad nichts gönnen und alles für dich allein erobern wollte. An diesem Wunsche ging er zugrunde! Und in dieser Ehe, in der die Schuld des Wunsches uns trennte, ward es mir klar. Das Große, das ich für dich erstrebt hatte, genügte dir nicht, denn dein Sinn schritt in das Ungemessene. Das Geschäft wurde reicher und reicher durch dich von Jahr zu Jahr und die Kinder und ich ärmer und ärmer! Schaudernd sah ich dich längs eines Abgrundes wandeln, ich erzog die Kinder in meiner Weise und wartete und wartete! Du kamst nicht! Und endlich schien ein Sonnenstrahl den Nebel zu durchbrechen, du stelltest deine Kräfte in den Dienst der anderen, und ich bewunderte dich, Paul! Ich würde sagen, ich liebte dich aufs neue, wenn ich dich zu lieben je aufgehört hätte. Und dann kam der vernichtende Schlag.«

»Was meinst du, Agathe?«

»Dein Vorgehen gegen Jost, weil dieser Mann rückhaltslos der Wahrheit die Ehre gab.«

»Das weißt du?«

»Ja, Paul. Ich war es, die Jost hinter deinem Rücken die Möglichkeit verschaffte, in das Sanatorium zu gehen, ich war es, die Frau Josts letzte Schulden an dich bezahlte, und da konnte ich nicht mehr bleiben, ich hätte dich verachten müssen, Paul, und ich liebte dich noch!«

Sie lag zu seinen Füßen und die Tränen rannen ihm die Wangen hinunter.

»Ich mußte die Kinder damals retten, Paul«, sagte sie weiter, »und ich wartete, ich hoffte und baute auf den Tag, der mich an deine Güte, an deine Größe wieder glauben machte, und der Tag kam! Man hat mir erzählt, daß der Vater einen großen Teil der Grundstücke, auf denen du deine neue Stadt erbaut hast, schon vor Jahren an sich brachte, lange bevor du mit dem Geheimnis der Concordia wirklich vor die Öffentlichkeit tratest und schamlos der Welt zeigtest, daß es dir bei allem nur um die Verwertung des eigenen Besitzes zu tun gewesen war! Und dennoch hielt ich aus, dennoch glaubte ich, daß du dich endlich auf dich selbst besinnen, daß du endlich meinem Glauben an dich recht geben würdest, und dennoch kam dieser Tag. Als ich von deiner Stiftung las, Paul, da waren die Schlacken endlich von dir abgefallen, da konnte, da mußte ich wiederkehren, da mußte ich dein ergrauendes Haupt zwischen meine Hände nehmen und dir danken, daß du dennoch meinen Glauben gerettet hast! Laß mich dir helfen an dem letzten und größten, weil reinsten, deiner Werke, willst du, Paul?«

»Bleibe, bleibe, Agathe«, sagte er nun, »du sollst mir bei diesem meinem letzten Werke helfen!«

Und wirklich in dieser gemeinsamen Arbeit ihres Alters fanden sie sich.

Drei Monate nach Agathes Rückkehr wurde der Grundstein zu dem neuen Akademiegebäude für praktische Wissenschaften gelegt. Und nun begann für Paul der letzte Abschnitt seines Lebens, den er zusammen mit Agathe dem inneren, dem geistigen Ausbau seines großen Werkes widmete. Während ihres langen Aufenthaltes in Amerika hatte Agathe mancherlei gelernt, hatte sie mancherlei gesehen, wovon Paul in der engen Heimat, die nun durch ihn größer und größer geworden, noch keine Vorstellung gehabt. So wob sie ihre Erfahrungen und ihre Ideen in seinen Plan. Die Wissenschaft und deren Ergebnisse, deren Segnungen allen, möglichst allen, zugänglich zu machen, das war der leitende Gedanke, der dieses großartige Unternehmen ins Leben gerufen, von dem es in all den Jahrzehnten seines künftigen Bestehens beherrscht werden sollte. Es sollte nicht dazu berufen sein, den alten Universitäten Konkurrenz zu machen, es sollte sie ergänzen. Waren jene für Fachgelehrte und Forscher, zur Vorbereitung für den Diener des Staates bestimmt, so sollte diese von Paul begründete und von Agathes Geist durchwehte Akademie der geistigen und sittlichen Weiterentwicklung des freien Bürgers dienen. Der Mangel an Wissen und Bildung, so erklärte Agathe, macht den Menschen unfrei, er macht ihn zum Knechte des anderen und zum Sklaven seiner eigenen Schwächen und Begierden. Wissen verleiht Macht und Bildung schafft Freiheit. So sollte denn die neue Akademie dem jungen Kaufmann und Gewerbetreibenden, dem Arbeiter und Künstler nachträglich geben, was ihm die Erziehung im Hause und in der Schule versagt. Wie es Paul auch geplant, so bildete die moderne Technik den Mittelpunkt, um den sich der gesamte Unterricht an der neuen Akademie zu drehen hatte. Aber nicht nur technische Fertigkeiten, nicht nur die Erkenntnisse, wie man die gewaltigen Errungenschaften der Naturwissenschaften in den Dienst des Tages stellt, sollten hier verbreitet werden. Die Seelen sollten sich weiten, der Blick sich schärfen, die Herzen für das Große und Allgemeine empfänglich gemacht werden!

Die sozialen Wissenschaften sollten das Verständnis für die Rechte des anderen, für die Pflichten gegenüber dem Nächsten wecken. So drückte Agathe sich aus! Die Erziehung zur Güte, die sie für ihre eigenen Kinder in Anwendung gebracht, sollte hier den Hunderten und Hunderten als erstrebenswertes Vorbild zur Besserung der menschlichen Zustände hingestellt werden, die später in Jahren und Jahren ihren Fuß über die Schwelle dieser von Paul gegründeten und von ihrem Geiste erfüllten Akademie setzen würden. Und unter diesem Gesichtspunkte der Freiheit des einzelnen, die keine andere Fessel als die Rücksicht auf die Freiheit des anderen anerkannte, sollten hier die praktischen Wissenschaften blühen, deren Pflege dem, der sich mit ihnen befaßte, die Möglichkeit zur vollen Entfaltung seiner geistigen und materiellen Kräfte lieh! So wurden neben den sozialen und technischen Fächern Handelswissenschaften und Geographie, Warenkunde und Statistik, neuere Sprachen und modernes Verkehrswesen in dem Lehrplan vorgesehen, und das allgemeine Wissen auf den Gebieten der Geschichte, der Philosophie, der Biologie, der Botanik und Zoologie, der Astronomie und endlich der Kunst und der Dichtung sollte den Abschluß des großen Gebäudes bilden, zu dem Paul und Agathe gemeinsam in den Tagen des Alters und nun beide ganz im Dienste der anderen und nicht mehr für sich selber Stein für Stein zu tragen entschlossen waren.

Und während sich Pauls neues Bureau in dem Anbau des gewaltigen Geschäftspalastes allmählich unter Agathes Führung in ein Heiligtum wandelte, in dem nicht mehr materielle, sondern nur noch geistige Güter ihren Kurs hatten, während sich dort Studienpläne an Stelle der Grundrisse von gewaltigen Gebäuden und der Zeichnungen von luxuriösen Anlagen häuften, vollendeten die Architekten und Arbeiter draußen an der Westseite des Paul Baumannringes ihr Werk.

Fast fünf volle Jahre gingen darüber hin, bis die Kuppel mit der Sternwarte das vollendete Gebäude krönte und eines Tages gegen Abend ein endlich alt gewordenes Paar mühselig und langsam die Treppen hinanstieg zu der Wölbung, unter welcher das Riesenfernrohr stand. Es waren Paul und Agathe. Lange verharrten sie dort oben Hand in Hand und sahen, wie die leuchtende Sonne eines herrlichen, abgekühlten und doch noch milden Septembertages hinter den blauen Bergen, die den westlichen Horizont ihrer Vaterstadt umsäumten, feierlich zur Rüste ging.

Und die Strahlen dieser Abendsonne vergoldeten von hier aus gesehen das Lebenswerk eines einzigen Mannes, und es war ein solches, wie man wohl selten eines auf der Welt geschaut hatte! Hoch in den blauen Äther erhob sich die Sternwarte der neuen Akademie. Und von hier aus schweifte der Blick über die städtischen und Staatsgebäude, die Villen und Anlagen, die Kaskaden und Springbrunnen des Paul Baumannringes hinüber zu dem Bahnhof, dessen drei gewaltige Glashallen nun im Golde dieser Abendsonne funkelten. Peters phantastische Pläne waren zur Wahrheit geworden. Zu den beiden Einsamen dort oben dröhnte es herauf aus den Hallen des Bahnhofes, in denen die Hunderte aus und ein gingen, wo die Pfiffe der Lokomotiven, das Fauchen der Maschinen, das Knirschen ihrer Räder miteinander abwechselten. Und von hier aus überblickte das Auge den neuen Bahnhofsplatz und die Mündung der neuen Siegesstraße, vernahm das Ohr das Surren der elektrischen Wagen, das Getöse des Fuhr- und Fußgängerverkehres, der sich unaufhaltsam nach dem Westen dem Bahnhof zu, der neuen Stadt entgegen wälzte. Mit dem Gedanken, diesen Bahnhof an dieser Stelle zu errichten, hatte es, durch Peters Phantasien in Pauls Gehirne angeregt, vor Jahrzehnten seinen Anfang genommen, und nun sah er die Vollendung.

Und während selbst Agathe von stummer Bewunderung überwältigt ihm die Hand drückte, glaubte er zu fühlen, daß Schuld und Sünde der Vergangenheit von ihm abgestreift seien. Die Akademie, auf deren Kuppel er stand, hatte die Summen verschlungen, die er mit den Grundstücken verdient hatte, würde sie weiter verschlingen. Was ihm die Stadt gegeben, diese neue Stadt, an der er gebaut und gebaut hatte, sie empfing es heute aus seinen Händen wieder, und ihm blieb nur das, was auch das Grab nicht tilgen konnte, der Name dessen, der es endlich eingesehen, daß nur die Arbeit im Dienste der anderen wahre Menschenarbeit ist.

»Bist du glücklich, Paul?« vernahm er da Agathes Stimme an seiner Seite.

Er war nicht dazu imstande, ein Wort der Erwiderung zu finden. Beide Arme breitete er aus, als ob er von hier oben die neue Stadt, die Schöpfung seines Lebens, umfassen könne. Und Agathe ließ ihn gewähren. Denn sie fühlte in diesem Augenblicke, daß sie ihm doch am Ende unrecht getan, daß doch etwas Größeres, etwas Gewaltigeres, als die Sucht nach Gewinn der Stachel seines Handelns gewesen sei!

»Der Traum ist in Erfüllung gegangen«, sagte er nun.

Und noch einmal, ehe die Sonne hinter den Bergen sank, schweifte sein Auge von den blauen Höhen des Horizontes nach dem brückenüberspannten Strome und weiter zu den Hügeln und dem grünen Waldesstreifen, der im Süden den Blick band. Und nicht nur seine neue Stadt, auch die alte, aus deren Schoße diese neue emporgewachsen, gewahrte er nun zu seinen Füßen, und mit hingebender Liebe umfaßte er, den man einen Bürgerkönig und Vater dieser Stadt genannt hatte, das ganze Bild. Der Strom mit seinen Brücken, die Türme und Gebäude, die er alle von Jugend auf gekannt und geliebt hatte, das jenseitige Ufer mit seinen grünen Wäldern und Geländen, der Osten und der Westen, die er aneinander gebunden hatte, lagen leuchtend und grüßend vor seinen Augen im Glanze dieser Abendsonne da!

»Und wenn sie mir für immer untergeht«, stammelten nun seine Lippen, »du wirst bleiben, Stadt meiner Heimat, Stadt meiner Liebe, an deren Größe ich ein Leben lang gebaut habe!«

Als die Schatten über das gewaltige Bild fielen, als die Sonnen der elektrischen Bogenlampen drüben in den Riesenhallen des neuen Bahnhofs aufzuleuchten begannen, stiegen sie hinab, Hand in Hand, und Agathe mußte sich wieder und wieder sagen, daß sie ihn und sein Leben doch niemals ganz begriffen hatte.

Die Einweihung der Akademie war die letzte große öffentliche Feier, die Paul im kommenden Winter noch mitmachte. Die Spitzen der städtischen und staatlichen Behörden, die Mitglieder des Kaufmännischen Vereins, die Handelskammer, die wissenschaftlichen und kunstgewerblichen Gesellschaften der Stadt füllten die große Aula des neuen Hauses, deren Deckengemälde in allegorischen Figuren »die Arbeit im Dienste des Wissens« verherrlichte. Auf dem Podium neben dem Sitze des Stifters hatten Agathe und die Kinder Platz genommen, die zu dieser großen Feier aus der Ferne herbeigeeilt waren. Paul sah sie nicht. Sie waren ihm fremd geworden in all den Jahren, er hatte sie einst dieser Stadt zum Opfer gebracht, und vermochte sie nun nicht wieder zu finden. Fremd war ihm der bärtige Mann, der eben erst aus Amerika angekommen war und sich ihm als sein ältester Sohn Robert vorgestellt hatte, fremd die liebreizende Frau de Kahnen mit ihrem blonden, stillen Gatten, fremd die große Lorma und fremd der hochgewachsene Offizier, sein Jüngster, der nun hinter ihm saß.

Die Orgel der Aula ertönte und die Anwesenden sangen den alten Choral: »Nun danket alle Gott.«

Dann erhob sich der Oberbürgermeister zu seiner Ansprache. Nachdem er geendet, stand Paul auf und mit der matten Stimme des Greises befahl er seine letzte Schöpfung der Sorge dieser Stadt. Mit dem von dem Chor des Opernhauses auf der Empore gesungenen Lied an die Freude wurde die Feier beendigt.

Am folgenden Morgen erhob sich Paul nicht mehr von seinem Lager. Er fieberte und sein Puls ging rasch. Der Hausarzt stellte eine Lungenentzündung fest, die er sich infolge einer Erkältung zugezogen haben mochte. Sieben Tage rang er mit der Krankheit, dann fühlte er das Ende nahen. Agathe war nicht von seinem Bette gewichen, und in der stillen Abendstunde des siebenten Tages, die das leise Ticken der Uhr in seinem Zimmer als die letzte seines Lebens vollendete, zog er mit matten Armen Agathes Kopf an seine Lippen und hauchte:

»Du hast die Schuld meines Lebens erkannt, Agathe!«

Da legte sie ihre Hand auf seine Stirn, auf der der Todesschweiß schon perlte und sagte:

»Man kann es eine Schuld nennen, Paul, man kann aber auch von einer unglückseligen Verquickung der Umstände reden. Vor dem tiefer Blickenden, vor dem da, sind wir alle schuldig, sei's durch den Wunsch, sei's durch die Tat. Wer Rache spricht zu seinem Bruder, der ist des Rates schuldig.«

Da löste sich der letzte Seufzer seines Mundes und der Frieden des Todes verklärte sein Gesicht!

An einem kalten Winternachmittage gegen vier Uhr begrub man ihn auf Kosten der Stadt. Von dem mit Trauerfahnen geschmückten Rathause, in dessen großem Sitzungssaale die offizielle Feier stattgefunden, setzte sich unter dem Geläute sämtlicher Glocken der endlose Zug in Bewegung. Die Straßen, welche der von vier schwarzbehangenen Pferden gezogene Kondukt durchfuhr, waren dicht gefüllt mit Menschen, auf den umflorten Kandelabern brannte das Gas in lohenden Flammen und die höchsten Beamten der Stadt trugen die Zipfel seines Bahrtuches.

Gegenüber dem Hauptportal des Friedhofes hatte man sein Ehrengrab bereitet. Hier errichteten ihm seine Mitbürger ein imposantes Denkmal aus gelbem Sandstein. Seine Höhe krönt eine von einer Schlange – dem Sinnbild der Ewigkeit – umwundene Urne und unter der Mauerkrone steht in Stein gemeißelt zu lesen:

Dem großen Bürger die
dankbare Vaterstadt.

 

Ende.

 


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