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XI.

Wenige Wochen nach dieser ersten Unterredung mit Blümlein wurde Paul durch eine Meldung der Feuerwache auf das Gelände seiner Brotfabrik gerufen. Als er in der Mittagsstunde ankam, sah es da draußen übel genug aus. Durch die Unvorsichtigkeit eines Heizers, der leichtsinnig mit den glühenden Kohlen hantiert hatte, war das Feuer in dem sogenannten Heißluftschuppen angegangen. Bei dem starken Ostwinde und der nun schon seit Wochen herrschenden Trockenheit hatte es sich im Fluge verbreitet, und in den zahlreichen aus Holz erbauten Vorratsräumen und Remisen, in denen auch noch Futter und Stroh für etwa fünfzig Pferde lagerten, die willkommenste Nahrung gefunden.

Ein Flammenmeer empfing Paul, als er sich dem weiten Terrain der Fabrik näherte, aber er verlor am wenigsten von allen den Kopf. Gebäude und Vorräte waren ausreichend versichert, und in seinem Inneren trug er sich schon lange mit dem Plane, gegebenen Falles die alte Fabrik, die seinen Ansprüchen schon lange nicht mehr genügt hatte, niederzureißen und auf dem gleichen Gelände neue Gebäude in modernen und feuersicheren Glas- und Eisenkonstruktionen zu errichten. Freilich, der Betrieb mußte dann auf längere Zeit eingestellt werden. Hunderte von Arbeitern und Angestellten verloren auf Monate hinaus ihr Brot und die Konkurrenz der städtischen Bäckerinnung würde sich die Sachlage zunutze machen und ihm tausende von Kunden ausspannen. Mit einem Brande hatte er nicht gerechnet, sein Projekt war eigentlich ein allmählicher Umbau des Ganzen gewesen, der die Produktion nicht auf einen Schlag lahmlegen sollte.

Aber trotz allem fand er sich sofort mit der ihm im geschäftlichen Leben eigentümlichen Gelassenheit in die durch den Ausbruch des Feuers neugeschaffene Situation.

Die Feuerwehr tat ihre Schuldigkeit. Nach dreistündigem Bemühen gelang es ihr, die Wut der Flammen auf ihren Herd zu beschränken, die Häuser der angrenzenden Straßen und die Hauptgebäude der Brotfabrik außer Gefahr zu setzen, so daß die Sache nicht so schlimm ausging, wie es am Anfang den Anschein gehabt hatte, und nur der Heißluftschuppen und eine beschränkte Zahl der aus Brettern errichteten Futter- und Vorratsräume samt ihrem Inhalte dem Brande zum Opfer fielen. Um fünf Uhr nachmittags war das Feuer vollständig gelöscht.

Zu seiner Sicherheit von zwei Feuerwehrleuten begleitet durchschritt Paul um diese Stunde die Brandstätte. So schlimm war die Sache nicht. Die Maschinen und der Hauptfabrikationsraum waren unversehrt geblieben, und wenn die Aufräumungsarbeiten in ein paar Tagen beendet waren, würde man den Betrieb fast in vollem Umfange wieder aufnehmen können. Die Mitglieder der Bäckerinnung hatten sich also, da die Kunde von dem Brande der Baumannschen Brotfabrik wie ein Lauffeuer die Stadt durcheilte, vergebens gefreut. Was da in Schutt und Asche lag, das würde ihm die Versicherungsgesellschaft schon reichlich ersetzen. Aber das Projekt des Neubaues nach modernem, feuersicherem Systeme war plötzlich durch diesen Brand in seinem Inneren aktuell geworden und ließ ihm nun keine Ruhe.

Und so trat er denn bereits acht Tage nach Ausbruch des Brandes mit einer Baugesellschaft in Unterhandlung und trug deren Inhabern seinen Plan des vollständigen Um- und Neubaues vor. Die Herren Kahl und Ulrich, die als »Baugesellschaft zur Anlage von Fabrikbetrieben« firmierten, legten ihm schon nach wenigen Wochen einen Riß für die vollständige Neuanlage seiner Brotfabrik vor. Paul lächelte, als er sich diesen des näheren betrachtet hatte. Denn die Herren begnügten sich nicht mit den vorgesehenen Neubauten auf dem Paul gehörenden Gelände, sondern sahen eine eventuelle Erweiterung der ganzen Anlage in südlicher Richtung vor.

Als Kahl, der eine Inhaber der Baugesellschaft, im alten Hause am Ritterwall vorsprach, um sich zu erkundigen, welche Aufnahme der Plan seiner Firma und deren Kostenvoranschlag bei Paul gefunden, hatte er die Chance, den Inhaber der Lenzschen Geschäfte sogleich persönlich in dessen Bureau zu treffen. Paul ging ihm entgegen und reichte ihm die Hand.

»Nun, Herr Kahl«, sagte er, »was Sie mir da vorgelegt haben, das kann man ja füglich zwei Fabriken nennen. Sie proponieren mir ja nicht weniger, als den Ankauf und Abbruch des ganzen Nordteils der Zeisigstraße.«

»Wenn Sie das eine Straße nennen wollen, Herr Baumann, dann haben Sie allerdings recht.«

»Man sollte das doch annehmen«, erwiderte Paul mit einem ironischen Lächeln. »Ihre Firma war es doch, wenn ich mich recht entsinne, die vor Jahren diese Zeisigstraße als ein Bedürfnis für die kleinen Leute hinstellte und aus diesem Grunde vom Magistrat die Konzession zur Anlage dieser Straße erhalten hat? Und heute? Heute fallen diese Häuser … es handelt sich ja allerdings nur um fünf oder sechs Baracken … in mein Fabrikgelände, nach Ihrem Plane wenigstens, und sind für den Abbruch reif?«

Kahl räusperte sich. Er wurde verlegen.

»Die Entwicklung der Verhältnisse war damals leider nicht vorauszusehen, Herr Baumann«, sagte er nun. »Dieser Teil des Ostens hat doch als Wohnungsviertel selbst für den kleinsten Mann seine Bedeutung verloren. Wenn wir das geahnt hätten, dann hätten wir eben diese Häuser nicht gebaut. Sie wissen doch, daß uns die Stadt durch die Anlage der Wasenmeisterei in dieser Gegend einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.«

»Das stimmt ja«, erwiderte Paul. »Das war allerdings damals nicht vorauszusehen, daß die Wasenmeisterei mit ihrer Leimfabrik gerade in die Zeisigstraße kommen werde. Aber trotzdem, Herr Kahl, die Häuser sind doch alle vermietet und werfen, wie ich annehme, ihre jährliche, wenn auch bescheidene Rente ab. Und nun fallen sie auf einmal nach ihrem Plane in mein Fabrikgelände und sollen den Abbruch wert sein? Was kosten denn die Häuser?«

Erfreut strich sich Kahl seinen langen, schwarzen Vollbart, nahm den goldenen Klemmer von der etwas zu großen Nase und meinte:

»Über den Preis würde leicht eine Einigung zu erzielen sein, Herr Baumann, wenn Ihnen unser Bauprojekt nur sonst gefällt.«

»Den Plan habe ich genau durchgesehen. Ich hätte nur Einzelheiten, sagen wir einmal Kleinigkeiten, an diesem Plane auszusetzen, über die wir leicht eine Einigung erzielen könnten. Auch Ihr Kostenvoranschlag bewegt sich in den gegebenen Grenzen. Aber das eine mit den Häusern an der Nordseite der Zeisigstraße, das will mir nicht recht in den Sinn. Der ganze Plan macht dadurch den Eindruck, als ob sein einziger Zweck darin bestände, daß Sie durch die Fabrikanlage die Ihnen gehörenden und, wie Sie selber eben andeuteten, wertlosen Häuser für teures Geld los werden wollen, Herr Kahl.«

»Wenn das unsere Absicht gewesen wäre, Ihnen wertlose Häuser, wie man so sagt, anzudrehen, dann wären mein Associé und ich gewiß vorsichtiger zu Werke gegangen. Das leuchtet Ihnen wohl ohne weiteres ein, Herr Baumann. Wir hätten uns dann einfach auf die Ausarbeitung des Planes innerhalb Ihres Geländes beschränkt und es der Zeit überlassen, daß Sie uns die Häuser in der Zeisigstraße später doch hätten abkaufen müssen, und zwar zu einem Preise, der unser jetziges Angebot weit übersteigen würde.«

»Wieso?« fragte Paul.

»Das werde ich Ihnen beweisen, Herr Baumann. Die Zeisigstraße mit unseren Häusern bildet nach Süden den Abschluß Ihres Fabrikgeländes. Ihre Ausdehnungsmöglichkeit erstreckt sich nur nach dieser Richtung, denn im Westen macht der Fluß eine kleine Biegung und umfließt dort in einem Bogen das Gelände Ihrer Fabrik. Im Westen können die sich also nicht ausdehnen, Herr Baumann. Habe ich recht?«

»Sie hätten recht, Herr Kahl«, spöttelte nun Paul, »wenn wir nur zwei Himmelsrichtungen anstatt ihrer vier hätten. Aber im Norden und im Osten habe ich freien Spielraum, da liegt flaches Land, da brauche ich keine teuren Häuser zu kaufen und diese erst abzureißen.«

»Freies Feld, das der Stadt gehört«, wiederholte nun Kahl. »Freies Feld, Herr Baumann, das Sie in diesen Tagen niemals kaufen werden, und wenn Sie jeden Quadratschuh mit einem Hundertmarkschein bezahlen wollten. Dies freie Feld ist nicht mehr feil.«

»Warum nicht?« fragte Paul in überlegener Ruhe.

»Das brauche ich Ihnen doch nicht erst zu sagen. Alle Welt weiß doch von dem Projekte des neuen Bahnhofes und davon, daß der Herr Oberbürgermeister sich die Durchführung des Ostprojektes in den Kopf gesetzt hat, daß er damit bei der Eisenbahnverwaltung und bei den Stadtverordneten durchdringen wird!«

Einen Moment stutzte Paul. Einen so überzeugten Anhänger des Ostprojektes, dessen Durchführung seine und Peters grandiose Pläne für immer vernichten würde, hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Fast fürchtete er, daß der Mann dort doch vielleicht recht behalten könne. Aber sofort hatte er seine Ruhe wieder und sagte: »Ich begreife Sie nicht, Herr Kahl! Wenn Sie so sicher sind, daß der Herr Oberbürgermeister den Stadtverordneten zum Trotz sein Ostprojekt unter allen Umständen zum Siege führen wird, dann sehe ich wirklich nicht ein, warum Sie Ihre Häuser in der Zeisigstraße um ein Geringes an mich verkaufen wollen. Wenn der Bahnhof dort hinkommt, dann sind doch die Tage der Wasenmeisterei gezählt, dann werden Ihre Objekte in wenigen Wochen um das Zehnfache ihres Wertes steigen, wenn Sie dessen so sicher sind, Herr Kahl!«

»Und wenn ich dessen so sicher wäre, Herr Baumann«, sagte nun dieser, »wie der Tatsache, daß Sie Ihr Haus am Ritterwall der Stadt zum Geschenk gemacht haben, wir müßten dennoch verkaufen. So oder so! Der Firma mangelt das bare Geld, das sie für ihre Geschäfte nötig hat. Die Banken machen Schwierigkeiten! Das Geld ist zu teuer, der Diskont im Augenblicke viel zu hoch. Offengestanden, man sieht in diesen Grundstücken kaum eine Sicherheit, um sie noch des weiteren zu belehnen. Aus diesem Grunde müssen Ulrich und ich verkaufen. Sehen Sie sich doch mal bitte selber die Mieter an, von denen wir in diesen Häusern abhängig, auf die wir allein angewiesen sind.«

Kahl schlug das Adreßbuch auf und zeigte Paul das Verzeichnis der Bewohner der seiner Firma gehörigen Gebäude Zeisigstraße Nummer 1, 3, 5, 7, 9.

»Das ist eine Unmasse von Namen, lauter kleine Leute, die mit monatlicher Kündigung gemietet haben, deren meistens von Abzahlungsgeschäften gelieferte Möbel noch nicht einmal die Sicherheit einer einzigen Monatsrate von fünfzehn bis zwanzig Mark gewährleisten. Wollen Sie sich bitte selbst überzeugen, Herr Baumann, wen Sie da haben. Flickschuster, Zeitungsausträgerinnen, Monats-Wasch- und Putzfrauen, da mal den Setzer in einer Druckerei, der wenigstens seinen festen Wochenlohn bezieht, das meiste nennt sich Agent, Kaufmann, Privatbeamter, Gott, man weiß doch, was dahinter steckt.«

Voller Aufmerksamkeit überflog Paul die Kolonne des Adreßbuches, in der die Namen der Bewohner der Häuser Zeisigstraße 1 bis 9 verzeichnet standen. Und plötzlich blieb sein Auge auf einem Namen haften, der in der Tat sein höchstes Interesse erregte. Unter den Bewohnern des Hauses Zeisigstraße 7 stand zu lesen: Dr. Jost, Redakteur. Herausgeber des Echo, Stadtverordneter.

Eine jähe Folge von Gedanken baute sich da blitzschnell in seinem Kopfe auf: Diese Häuser in der Zeisigstraße sein Eigentum, das Fabrikgelände und der Neubau der Brotfabrik in unmittelbarer Nähe des von dem Oberbürgermeister in Aussicht genommenen und der Stadt gehörenden Platzes für den neuen Bahnhof, des Ostprojektes, das alle seine Pläne vernichten würde, und das alles mit diesem Plane Kahls und vielleicht durch die Tatsache, daß Jost in diesen Häusern wohnte, wer konnte wissen wie, in seine Hände gegeben!!

»Herr Kahl«, sagte er plötzlich, ohne daß der andere dazu imstande war, zu bemerken, welche gewaltige innere Erregung mit einem Schlage seinen Auftraggeber erfaßt hatte, »Ihr Projekt bedarf doch der reiflichen Überlegung. Aber ich stehe Ihrem Plane durchaus sympathisch gegenüber. Auch meine Fabrik wird ja davon profitieren, wenn der Bahnhof unmittelbar in ihre Nähe kommt. Man könnte es sich ja überlegen, ob man die Häuser in der Zeisigstraße zunächst mal für alle Fälle ankauft. Mit dem Ausbau der Fabrik nach dieser Seite hat es ja dann noch seine guten Wege, wenn nur erst das Niedergebrannte wieder aufgerichtet ist.«

Es war, als ob er mit sich selber redete, als wenn er den anderen, den er nun unter allen Umständen, um mit sich ins Klare zu kommen, so rasch als möglich los sein wollte, mit seinen Worten vertriebe. Und Kahl verstand ihn.

»Wann darf ich mir Ihren Bescheid holen, Herr Baumann?« fragte der.

»Kommen Sie übermorgen um dieselbe Stunde wieder«, erwiderte Paul. »Bis dahin werde ich mir über alles im Klaren sein.«

Kahl ging.

Nun war er allein. Er wußte in der Tat nicht, auf welchen Punkt er zunächst seine Gedanken lenken sollte. Der Brand in der Fabrik hatte mit einem Male wie ein blindwütender Zufall allen seinen Riesenplänen ganz neue, bis dahin unbekannte Perspektiven eröffnet. Zunächst dachte er nur an das eine, daß sein größter Gegner, die furchtbarste Gefahr, mit der er immer und stetig zu rechnen hatte, dieser Jost, Bewohner eines dieser Häuser in der Zeisigstraße war und daß sich ihm durch Ankauf dieser Häuser von der Firma Kahl und Ulrich vielleicht Gelegenheit bot, seinen Feind materiell in seine Hände zu bekommen, oder doch wenigstens diesen Jost pekuniär von sich abhängig zu machen. Freilich, solche Leute wechselten alle paar Wochen die Wohnung. Wenn Jost von dem Ankauf erfuhr, dann würde er ziehen. Sicher war er dieser Sache also durchaus nicht. Aber mit dem Führer der Sozialisten stand es schlecht. Das hatte er mehr als einmal von den verschiedensten Seiten gehört, das wußte er. Der Mann steckte bis über die Ohren in Schulden. Er führte nur noch eine Scheinexistenz und war mehr als irgendeiner auf die Nachsicht und die Langmut seiner Gläubiger angewiesen. So war es fraglich, ob dieser rasch eine neue Wohnung fand. Und wenn er nichts mehr bezahlte, dann würde er wohl auch eines schönen Tages die Miete schuldig bleiben, dachte Paul. Wenn die Häuser in der Zeisigstraße um ein Billiges von der Firma Kahl und Ulrich in seine Hände übergingen, dann hatte er unter Umständen die Möglichkeit, seinen gefährlichsten Widersacher immer in Schach zu halten. Er konnte ihn schikanieren, er konnte ihn steigern, und wenn er nicht zahlte, dann konnte er mit der Exmission drohen und ihm den Gerichtsvollzieher auf den Hals schicken.

Schon dieser eine Gedanke, diesen Jost in seine Hand zu bekommen, lieh dem Vorschlage Kahls, die Häuser in der Zeisigstraße für seinen Fabrikneubau doch anzukaufen, einen ganz besonderen Reiz. Und Jost würde eines schönen Tages, wenn er sich in den Besitz des Hauses setzte, in dem dieser Mann wohnte, in seine Hände gegeben werden, davon war er fast überzeugt. Die sozialdemokratische Partei hatte bei der Wahl viel Geld draufgehen lassen und nun war die Parteikasse leer. Die Beiträge der Arbeiter gingen naturgemäß langsam ein, und Jost, der seine zahlreiche Familie zu ernähren hatte, arbeitete so gut wie ohne Verdienst. Der Verleger des Echo war ein einfacher Buchdruckereibesitzer. Er war selbst in jungen Jahren Setzer gewesen und hatte in eine Druckerei eingeheiratet. Vom Zeitungsgeschäft verstand er nichts. Das lag ganz in Josts Hand, und dieser, der fanatische Parteiführer und Idealist, kümmerte sich am allerwenigsten darum, was seine Zeitung abwarf.

Er war nur ein unverbesserlicher Träumer, der es für seine Aufgabe hielt, an dem Fortschritt der Menschheit zu arbeiten.

Paul lächelte vor sich hin, wenn er an diesen Jost dachte. Die Kinder schrien nach Brot. Er wohnte mit seiner Familie in dieser elenden Baracke draußen in der abgelegenen Zeisigstraße und rechnete sich aus, wie der Lohn der Arbeiter zu heben sei, indessen er selber für seine Schreibereien kaum den notdürftigsten Sold bezog! Den würde er mit dem Ankauf der Häuser sicher über kurz oder lang in seine Hände bekommen, das war das erste, woran er zunächst dachte. Wer konnte es wissen? Am Ende hatten ihm die Herren Kahl und Ulrich mit ihrem Angebot der Häuser in der Zeisigstraße unbewußt einen unbezahlbaren Dienst erwiesen?

Aber bald schweiften seine Gedanken weiter. Sie hafteten sich an die Bestimmtheit, mit der dieser Kahl, ein Interessent und Bewohner des Ostendes, die günstigen Aussichten des oberbürgermeisterlichen Ostprojektes behauptet hatte. Wie, wenn er sich nun selber vor den Augen der Welt, vor der Öffentlichkeit und der Presse als einen Interessenten dieses Ostprojektes hinstellte, und dann zum Wohle des Ganzen, zum Nutzen der Allgemeinheit, wie alle annehmen mußten, in der Stadtverordnetenversammlung sein und Peters grandioses Westprojekt für den Bahnhof vertrat?

Er kaufte die Häuser in der Zeisigstraße, er bekam nicht nur Jost in seine Hände, er erweckte zugleich den Eindruck eines Terrainspekulanten, der auf die durch den Bahnhofsbau erfolgende Preissteigerung im Osten abzielte, und lenkte so aller Aufmerksamkeit von seinen Interessen im Westen ab. Die Fabrik war vor aller Welt sein Eigentum, sie war vor Wochen zum Teil abgebrannt. Für deren Neuanlage erwarb er die zum Abbruch reifen Häuser in der Zeisigstraße und nun, nun ließ er die Häuser zunächst stehen und wartete, wartete, bis die Bahnhofsfrage entschieden war, in den Augen der Welt ein Spekulant, der es auf die Preissteigerung im Osten abgesehen hatte.

Und dann die große Überraschung! Er, der Selbstlose, der seine ganze Kraft nach der Meinung seiner Wähler und nach dem Glauben Agathes in den Dienst der Allgemeinheit gestellt hatte, gab diesem Glauben, dieser Meinung in Wirklichkeit recht. Er verzichtete öffentlich auf alle Vorteile, die ihm der Bahnhof im Osten für seine Ankäufe und seine Brotfabrik doch sicher gebracht hätte, und trat seiner Überzeugung getreu und dem Oberbürgermeister zum Trotz, im Dienste der Wähler des Westens, die ihm ihr Vertrauen also nicht umsonst geschenkt hatten, für das Westprojekt ein. Wer würde dann noch behaupten können, daß er, der sein Haus in der Altstadt dem Plane der Sanierung aufgeopfert und verschenkt hatte, er, der nun seinen offenbaren Interessen zum Trotz für das westliche Projekt des Bahnhofes eintrat, nicht der Mann sei, als der er in den Augen Agathes und in denen der Welt dastehen wollte?

Schon am übernächsten Tage schloß er mit Kahl ab. Er übertrug der Firma Kahl und Ulrich den Um- und Neubau seiner Brotfabrik und kaufte die Häuser Zeisigstraße 1 bis 9, die nach dem Plane des Architekten nun in das Gelände seiner neuen, großen Anlage fallen mußten. Und nachdem dies geschehen, setzte er sich auf die Bahn und fuhr in Geschäften, wie er Agathe sagte, zu Blümlein nach Berlin.

Paul hatte die vergangenen Wochen nicht ungenutzt verstreichen lassen. Noch zweimal war Blümlein bei ihm gewesen und jedesmal hatte ihn Paul in dem Glauben erhalten, daß er sich tatsächlich für dessen Erfindung eines neuen Konservenbüchsenverschlusses interessiere. Und Blümlein schien ihm zu glauben. Paul hielt ihn hin, weil er sich zunächst vergewissern wollte, was Wahres an jenem von Blümlein erzählten Mißgeschick der Neuen Berliner Terraingesellschaft sei, und weil er des weiteren Erkundigungen über seinen Mann einziehen wollte.

Nun hatte er das, was er gesucht, in der Hand. Aus Berlin hatte man ihm das Mißgeschick der vor Jahren von Blümlein ins Leben gerufenen Neuen Berliner Terraingesellschaft bestätigt, und auch das übrige, was dieser Abenteurer über sich selber erzählt hatte, stimmte Wort für Wort. Er war arm wie eine Kirchenmaus, hatte sich aber noch nie etwas zu schulden kommen lassen und schlug sich nun nach dem Verluste seines ganzen Vermögens, das die Neue Berliner Terraingesellschaft verschlungen hatte, als Gelegenheitsgeschäftsmann durch.

Jetzt stand Pauls Plan fest. Der Brand in der Fabrik und der damit in unmittelbarem Zusammenhange stehende Ankauf der Häuser in der Zeisigstraße hatten alles rascher, als er es selber ahnte, zur Reife gebracht. Und es war auch höchste Zeit, denn die Anfrage des Eisenbahnministeriums nach einem geeigneten Terrain für den neuen Bahnhof konnte an jedem Tage eintreffen und die Debatten über die Sanierung der Altstadt und die Wahl des Bahnhofsplatzes würden dann unverzüglich ihren Anfang nehmen.

Und ehe Paul vor der Öffentlichkeit diesen Fragen in seiner Eigenschaft als Vertreter der Wähler des Westens näher trat, mußte auch der letzte Schimmer des Verdachtes beseitigt sein, daß er mit seiner leidenschaftlichen Verteidigung des grandiosen Westprojektes eigennützige Interessen vertreten könne.

Dem Zwecke, diesen Verdacht in den Augen seiner Wähler, Agathes und der Welt völlig zu zerstören, galt seine Reise zu Blümlein nach Berlin, der ihm für jeden Fall vor seiner Rückkehr in die Reichshauptstadt seine Adresse hinterlassen hatte.

Als Paul des Nachmittags um fünf Uhr in der weiten Halle des Anhalter Bahnhofs eintraf, machte Berlin ihm zunächst nicht den überwältigenden Eindruck, den er von der wachsenden und wachsenden Millionenstadt erwartet hatte. Freilich dieser Bahnhof zog ihn gleich gewaltig in seinen Bann. Denn das, was er in all den Jahren, seitdem Peters kühne und phantastische Pläne die seinen geworden, erträumte, sah er hier plötzlich und unvermittelt in dieser mächtigen Halle des Anhalter Bahnhofes in die Wirklichkeit übersetzt. So oder ähnlich sollte der ja werden, der das gigantische Westprojekt weiter und weiter entrollen würde, wenn er erst im Westen seiner Vaterstadt den Hafen für hundert und aberhundert ein- und ausfahrende Züge an jedem neuen Tage bot. Und zugleich erkannte Paul auf den ersten Blick, daß diese eine Halle, aus der der große Anhalter Bahnhof in Berlin bestand, für das Projekt, das er im Sinne hatte und das Peters Traum gewesen, bei weitem nicht ausreichen würde. Und gleich hier in den ersten Minuten seines Berliner Aufenthaltes erwuchs vor seiner Phantasie ein Riesenbild des neuen Bahnhofes, wie er fern im Westen seiner Vaterstadt dereinst in kurzer Zeit erstehen sollte. Seine durch den Anblick der Berliner Halle gewaltig angeregte Phantasie stellte nun die mächtige Wölbung aus Glas und Eisen im Geiste dreimal nebeneinander und erträumte eine bis dahin noch niemals dagewesene Anlage, die es ermöglichen würde, den Riesenverkehr, der nach seiner Ansicht binnen wenigen Jahren nach seiner Vaterstadt gelenkt werden mußte, in den mächtigen Schlünden von drei solcher Hallen, wie diese eine da war, aufzunehmen. Und schon hier beim Anblick des Berliner Anhalter Bahnhofes ward es ihm klar, daß der von Oberbürgermeister von Klopp in Aussicht genommene Platz im Osten der Stadt für das Wunderwerk, das nun klar und deutlich vor seinen Blicken stand, gar nicht in Frage kommen könne. Das Gelände nächst seiner Brotfabrik, das durch den vorüberströmenden Fluß eingeschränkt wurde, bot für ein solches Ungetüm moderner Technik gar nicht genügend Raum, ganz abgesehen davon, daß die Verlegung dieses gewaltigen Verkehrszentrums nach dem Osten den Tod für die Weiterentwicklung der Stadt in ihrem natürlichen Fortgange bedeutet hätte. Nun erst sah Paul vollkommen klar, daß das, was bislang nur als Wunsch seiner Habgier erschienen, in der Tat die einzig mögliche Lösung der schwebenden Frage war. Er erkannte, daß Peter ahnend alle diese Verhältnisse und Umstände voraus empfunden haben mußte und daß das, was er erträumt und was er auf seinen Plänen als Bahnhof eingezeichnet, nichts anderes sein konnte, als das Wunderwerk, das nun als ein verdreifachter Anhalter Bahnhof eben deutlich und klar zu schauen vor seinen Blicken stand.

Das, was der Oberbürgermeister vorhatte oder was der sich vorstellte, mußte in der Tat etwas ganz anderes, etwas Winziges sein im Vergleich zu dem, was er hier schaute und was seine niemals rastende Phantasie für die Bedürfnisse und Verhältnisse daheim in das Dreifache des Geschauten umschuf. Wahrlich, der Anblick des Anhalter Bahnhofes, der ihn auf diesen fruchtbringenden Gedanken gebracht hatte, war allein schon diese Reise nach Berlin wert. Wenn er nun vor den Vertretern der Stadt und dem Magistrate das grandiose Westprojekt entwickeln würde, dann konnte er in Erinnerung an das, was er hier in Wahrheit gesehen, ein ganz anderes Bild der Vorstellung von dem, was da werden sollte, in der Phantasie seiner Hörer durch seine Rede hervorzaubern, als er ohne dieses gewaltige Beispiel aus dem Leben dazu imstande gewesen wäre.

In diesem Gedanken verließ Paul den Bahnhof und mischte sich in den Verkehr der Riesenstadt. Die Königgrätzer Straße, die er zunächst durchschritt, erinnerte ihn an zu Hause. Gott, dort war ja auch Leben, besonders um die fünfte und sechste Nachmittagsstunde, und noch mehr etwas später, wenn die Geschäfte ausgingen und alles dem abendlichen Besuche der Wirtshäuser und Theater oder dem eigenen häuslichen Herde zustrebte. Aber gebannt stand er einen Moment, als er das Potsdamer Tor erreicht hatte und sich nun plötzlich, wie aus dem Seitentale des Lebens herausgehoben, der Menschenflut der Leipziger Straße gegenüber sah.

Er besann sich nicht lange. Schon zu Hause hatte ihm ein Bekannter, der geschäftlich des öfteren nach Berlin kam, ein Hotel in der Nähe des Potsdamer Bahnhofes genannt. Dorthin hatte er gleich bei seiner Ankunft sein Handgepäck durch einen Dienstmann bringen lassen. Ein Zimmer, das er telegraphisch bestellt hatte, war noch frei. Der Abend war lang, er hatte nichts zu versäumen. Blümlein würde er noch früh genug sprechen. Und hier lockte die in das Herz Berlins führende Leipziger Straße und zog ihn an wie mit magnetischer Gewalt. Er bestieg das Verdeck eines Omnibusses, der gerade vor einem der Torhäuschen des Leipziger Platzes hielt, und fuhr nun hinein in das Gewühl der Wagen und Menschen, die alle hastig, als wenn sie das Wichtigste von der Welt zu versäumen hätten, dem Inneren der Stadt zustrebten. Der Zufall hatte ihn die richtige Wahl treffen lassen. Es war der Omnibus Bülowstraße – Stettiner Bahnhof, dessen Verdeck er bestiegen. Den Stadtplan, auf dem ihm Blümlein vor einigen Wochen das zugrunde gegangene Projekt der Neuen Berliner Terraingesellschaft erklärt hatte, in der Hand, verfolgte er den Lauf der Leipziger Straße. Sie führte von Westen nach Osten genau wie die große Verkehrsstraße, die Oberbürgermeister von Klopp nach Sanierung der Altstadt mitten durch das Herz der ältesten Teile anlegen lassen wollte, und plötzlich sah Paul auch dieses gewaltige Projekt in einem ganz neuen Lichte.

Man war zu Anfang des Herbstes. Schon flammten die großen elektrischen Bogenlampen der Leipziger Straße auf, schon ergossen die Schaufenster der Geschäfte und Warenhäuser ihr blendendes Licht auf den unaufhaltsam zu seinen Füßen vorüberflutenden Menschenstrom, und er träumte. Er war eben gar nicht mehr in der Berliner Leipziger Straße, er träumte sich ein Bild der Zukunft: die neue Verkehrslinie in seiner Vaterstadt, die, wie diese Straße, von West nach Ost führen sollte, und die wohl eine ähnliche Bedeutung gewinnen konnte, wenn man das grandiose Westprojekt in die Wirklichkeit umsetzte und wenn erst weit draußen der dreifache Anhalter Bahnhof stand, wie er ihn eben im Anblick des einfachen, im Geiste bereits fertiggestellt, geschaut hatte.

Der Omnibus hielt an der Ecke der Friedrichstraße. Paul starrte hinab. Er hatte die dreißig längst hinter sich und ein echter seßhafter Philister war er, von seiner Fahrt nach München abgesehen, noch nie aus seiner Vaterstadt herausgekommen. So hatte er trotz der Jugendträume von Rom und Paris eine wirklich große Stadt noch niemals gesehen. Die größte Verkehrsader Berlins, die sich jetzt hier vor seinen Blicken von Süden nach Norden ausbreitete, schien endlos, sie gab dem Auge kein Ziel mehr, weder nach der einen, noch nach der anderen Richtung. Wie ein Ameisenhaufen wimmelten die Menschen zu seinen Füßen und, ein blendendes Flammenmeer, lagen die Häuser in ihrer abendlichen Reklamebeleuchtung vor seinen Augen. Funkelnde Räder drehten sich dort auf den Dächern, Riesenbuchstaben glänzten auf in der Luft, um nach einigen Sekunden wieder zu erlöschen … Das war möglich! … Eine solche Schöpfung konnte ins Leben gerufen werden, wenn sich Fleiß und Energie und Glück zu einem Werke die Hand reichten.

Langsam schaffte sich der Omnibus seine Bahn durch das Gewirr der Wagen und Menschen. Stimmengebraus, wie er es noch niemals in seinem Leben gehört hatte, drang nun an Pauls Ohr. Die Leute sprachen laut und ihre Stimmen wurden übertönt von dem Schreien der Zeitungsverkäufer, von den Rufen der Kutscher, von den Anpreisungen derer, die hier ihre Ware auf der Straße feilhielten, Blumen und Postkarten, Senkel und Bleistifte, was sie gerade aus dem Tage für den Tag durch einen Zufall ergattert hatten.

Die Straße wurde enger. Das Café Bauer und die Kranzlerecke tauchten auf. Und nun eröffnete sich der Blick auf die taghell erleuchteten Linden. Paul war überwältigt. Als der Omnibus hielt, verließ er ihn. Er empfand eine unbezwingliche Lust, sich hineinzumischen in diesen Menschenstrom, um sich alles aus nächster Nähe betrachten zu können. Er folgte dem Strudel, der ihn nordwärts über die Linden hinüber durch den engsten Teil der Friedrichstraße schob. Ein ohrenbetäubender Lärm schlug an sein Ohr. Er vermochte sich zunächst keine Rechenschaft darüber zu geben, was das eigentlich war. Aber nun stand er auch schon unter der Stadtbahnbrücke an der Ecke der Georgenstraße und jetzt fiel sein Blick auf die gewaltige wie in den Lüften schwebende Halle des Bahnhofs Friedrichstraße, in den die Züge mit ihren leuchtenden Feueraugen wie losgelassene Ungetüme polterten und donnerten.

Ein Schutzmann faßte ihn am Arm.

»Jehn Sie man vom Fahrdamm, Männeken«, rief er ihm zu. Er hatte ihn gerade noch im letzten Augenblicke vor einem schweren Bierwagen fortgerissen, der von der Brauerei Friedrichshain kam und über die Weidendammer Brücke polterte.

Auf der Brücke, die unter der schweren Last des Wagens noch erzitterte, blieb Paul stehen und versenkte sich wieder in das vor seinen Augen aufsteigende Bild des ruhelosen Lebens der Weltstadt, das ihm ein Symbol der Zukunft, die er selber plante, zu sein schien.

Hier die Straße mit ihren tausend und tausend Menschen, mit ihren hundert und aberhundert Wagen, dort unten der Fluß mit seinen Kähnen und Dampfbarkassen, und über dem allen der Bahnhof, in den die Züge der Stadt- und Fernbahn unablässig rasten. Das war ein Vorschmack dessen, was seine ruhelose Phantasie, seitdem Peters Pläne ihr eigen geworden, fort und fort ersann. So oder ähnlich sollte es einmal werden. Zu diesem Zwecke war er ja heute nach Berlin gekommen. Da besann er sich, da fiel ihm Blümlein ein. Er sah nach der Uhr. Ein Viertel nach sechs. Über eine Stunde hatte er also dieses gewaltige Herz von Berlin angestarrt und vor sich hin geträumt. Einen ihm gerade entgegenkommenden Arbeiter fragte er nach der Elsässer Straße, in der Blümleins Wohnung lag. Der Mann im blauen Kittel gab ihm höflich Bescheid.

»Da jehn Se bis ans Ende von die Friedrichstraße, die jroße Straße rechts, det is die Elsässer.«

In wenig mehr als fünf Minuten hatte er die ihm so bezeichnete Straßenecke erreicht. Hier war es das Hinterhaus der Nummer 65, in dem er Blümlein zu suchen hatte.

Die Elsässer Straße mit ihren Studentenkneipen und Tingeltangels, die er nun zu durchschreiten hatte, bot ihm wieder ein vollkommen neues Bild des, wie ihm schon an diesem ersten Abend erscheinen wollte, unergründlichen Berlin. Aber er schritt rasch voran. Er wollte sich nicht länger aufhalten lassen. Nach den ersten Eindrücken, die er hier in überwältigender Größe und Fülle gefunden, drängte es ihn, mit Blümlein ins Reine zu kommen, denn von dieser Unterredung hingen das Gelingen und die Möglichkeit seiner gewaltigen Pläne zunächst ab. Das Haus Elsässer Straße Nummer 65 war eine jener berüchtigten Mietskasernen des Berliner Nordens, wie sie in der Linien- und Ackerstraße am häufigsten sind.

Das Haus hatte drei Höfe, und es dauerte daher eine geraume Zeit, bis sich Paul nach etlichem Hin- und Herfragen hier zurechtgefunden hatte. Das war die Kehrseite des gewaltigen Berlin, das soeben noch einen so überwältigenden Eindruck auf ihn ausgeübt. In dem Quergebäude des zweiten Hofes vier Treppen wohnte Blümlein. Endlich hatte er den richtigen Eingang mit Hilfe eines kleinen zerlumpten Mädchens, das ihm gefällig den Weg über den schlecht beleuchteten Hof, durch den halbdunklen Korridor und das in tiefe Dämmerung gehüllte Treppenhaus gezeigt hatte, gefunden, und nun stand er vor einer Tür, an der ihm wieder die bekannte Visitenkarte des Direktors der Neuen Berliner Terraingesellschaft entgegenleuchtete.

Auf sein Herein öffnete Blümlein. Dieser hatte ihn heute erwartet, denn Paul hatte ihm telegraphisch seinen Besuch im Verlaufe des Abends angekündigt. Allein der Direktor der Neuen Berliner Terraingesellschaft war keineswegs im Staat. Er machte einen ganz anderen Eindruck als damals, da er Paul in dem alten Hause am Ritterwall aufgesucht hatte. Die funkelnagelneuen rotbraunen Handschuhe aus englischem Chevreau fehlten, und an Stelle des langen schwarzen Gehrocks trug der Direktor eine graue Joppe, die schon ein gut Teil ihrer einstigen Wollfülle eingebüßt hatte.

»Entschuldigen Sie, Herr Baumann«, begann Blümlein sogleich das Gespräch. »Sie haben mir nicht mitgeteilt, mit welchem Zuge Sie kommen wollten, sonst hätte ich Sie sicher am Bahnhof abgeholt. So habe ich den ganzen Abend zu Hause auf Sie gewartet. Ich ziehe mich sofort an. Wir gehen dann zusammen in ein Weinrestaurant. Dort läßt es sich besser plaudern. Hier ist es auch gar zu ungemütlich.«

Blümlein verschwand in der Seitentür, und Paul sah sich im Scheine der düster auf dem Tische brennenden Petroleumlampe ein wenig um.

Blümlein hatte recht. Für eine Unterredung war es hier in der Tat zu ungemütlich. Es war kühl in dem Zimmer, die Luft des Herbstabends drang durch das Fachwerk des schlecht gebauten Hauses und der mit Papieren und Zeitungen, Büchern und Kasten überladene Tisch war wohl seit Wochen und Monaten nicht mehr aufgeräumt worden.

Hier also hauste der Direktor der Neuen Berliner Terraingesellschaft dachte Paul und lächelte in Gedanken daran, daß dieser heute so nichtssagende Titel in Kürze eine ganz ungeahnte Bedeutung gewinnen sollte. Der Mann mußte seine liebe Not im Kampfe ums tägliche Brot haben, daß er es hier in diesem unqualifizierbaren Loche aushielt. Paul trat an das Fenster. Er schob die aus zerrissener Sackleinwand bestehende Gardine zurück und blickte hinab auf den Hof. Trostlos! Diese Aussicht auf die Küchen- und Abortfenster der Bettelnachbarn, denen es genau so gut und so schlecht wie diesem da gehen mochte. Und das Zimmer, zu dem er sich nun wieder gewandt hatte! Mit seinem zerbrochenen Kanapee, mit seinen verschabten und durchlochten Teppichen und Tischdecken, mit seinen dreibeinigen Stühlen und Sesseln machte es fast noch einen trostloseren Eindruck.

»Sie sind in den Anblick meines Salons vertieft, Herr Baumann«, spottete nun Blümlein, als er geschniegelt und gestriegelt, so wie er damals am Ritterwall erschienen war, in seiner etwas vertragenen Toilette wieder in das Wohnzimmer trat. »Kommen Sie! Das Petroleum ist teuer und das von dem vorigen Monat ist noch immer nicht bezahlt. Ich hoffe, daß Ihre Ankunft in Berlin lichtere Tage auch in mein armes Dasein bringt.«

Ohne Pauls Antwort abgewartet zu haben, löschte Blümlein die Lampe. Es war klar, er hatte alle Eile, in das Weinrestaurant zu kommen. Ein anständiges Abendbrot und ein paar Flaschen, die sollten doch vor allen Dingen zunächst, wie auch das Geschäft ausfallen würde, heraussehen.

Als sie glücklich wieder in der Elsässer Straße standen, fragte Paul: »Nun, Herr Direktor, haben Sie noch Interessenten für Ihre neue Erfindung beigebracht?«

Blümlein lächelte resigniert.

»Mein lieber Herr Baumann«, antwortete er dann, »gut Ding will Weile haben. Wenn Sie mir nicht unter die Arme greifen, so ist an die Gründung einer Fabrik unter den gegebenen Verhältnissen fürs erste noch nicht zu denken.«

»So, so«, erwiderte nun Paul. »Zunächst, wo gehen wir denn hin?«

Blümlein schien es sehr angenehm zu sein, daß Paul selber das Gespräch auf ein anderes Thema lenkte, und er meinte:

»Ich bin der Ansicht, daß sich ein kleines Restaurant, in dem wir nicht zu viel Leute finden werden, besser für unsere geschäftlichen Zwecke eignen dürfte, als ein überfülltes Lokal, Herr Baumann. Ich schlage Ihnen, da Sie ja doch jedenfalls im Westen der Stadt wohnen und in der Nähe Ihres Hotels sein wollen, die kleine Weinstube von Frederich in der Potsdamer Straße vor. Wir nehmen den Omnibus Ecke Chaussee- und Friedrichstraße, dann sind wir rasch am Ziel.«

»Ich vertraue mich ganz Ihrer Führung an«, erwiderte Paul.

Als sie nun denselben Weg, den er soeben gekommen, zurückfuhren, bemerkte er: »Den Weg hätte ich mir also sparen können. Das Beste wäre gewesen, wenn wir uns gleich bei Frederich verabredet hätten.«

Blümlein lächelte überlegen.

»Ja, wer Berlin nicht kennt, der täuscht sich leicht in den Entfernungen.«

Im ersten Stock bei Frederich fanden sie einen gemütlichen Tisch. Blümlein genierte sich nicht. Er bestellte einen süffigen Bordeaux. Er ließ sich die Austern munden und vertiefte sich dann in ein Rebhuhn mit Champagnerkohl, das der »Ober« als die Delikatesse der Saison bezeichnet hatte. Paul ließ ihn gewähren. Er freute sich darüber, mit welch gutem Appetite sein neuer Geschäftsfreund aß. Endlich bei einer Tasse Kaffee nach dem Käse und den Früchten begann Paul:

»Nun, Herr Blümlein, weswegen ich eigentlich hierher nach Berlin gekommen bin. Von der Gründung der Fabrik zur Herstellung der von Ihnen erfundenen Konservenbüchsenverschlüsse, die ich übrigens habe prüfen lassen und die unter Umständen sehr praktisch sein können, reden wir wohl das nächste Mal.«

Erschrocken sah ihn Blümlein an. Die Tasse Kaffee, die er eben gerade zum Munde führte, zitterte merklich in seinen Händen, als er nun fragte:

»Sie wollen also nicht, Herr Baumann?«

»Ich sagte Ihnen ja, daß wir später davon reden werden«, beruhigte Paul. »Heute komme ich in einer viel wichtigeren und aussichtsreicheren Sache zu Ihnen, Herr Blümlein.«

Blümlein glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.

»In einer viel wichtigeren und aussichtsreicheren Sache«, wiederholte er stotternd.

Und nun sagte es Paul gerade heraus:

»Hätten Sie nicht Lust, die Neue Berliner Terraingesellschaft auf einer ganz neuen Basis, vielleicht unter einer andern Firma, wieder ins Leben zu rufen? Sie nennen sich doch heute noch ihr Direktor. Mieten Sie sich ein anständiges Geschäftslokal in Berlin, Herr Blümlein, und vertrauen Sie noch einmal auf Ihren Stern als Grundstücksspekulant.«

»Sie sind doch nicht hierher gekommen, um mich zum besten zu halten, Herr Baumann«, sagte nun Blümlein bitter.

»Das in der Tat nicht«, antwortete Paul.

»Hören Sie! Bei uns harrt ein ungeheures Terrain der Bebauung, das unter gewissen Umständen, die sicher über kurz oder lang eintreten werden, Millionen und Millionen wert sein wird. Noch in dieser Stunde ist das ganze Land um einen Spottpreis zu haben. Mit dem Ankauf dieses Geländes sanieren Sie Ihre Gesellschaft und machen ein glänzendes Geschäft! Natürlich müssen Sie dann raus aus der Bude in der Elsässer Straße, müssen sich zwei oder drei Zimmer in der Leipziger oder Friedrichstraße zulegen, ein Schild mit Ihrer Firma an der Tür anbringen lassen und zwei oder drei junge Leute mit den Bureauarbeiten beschäftigen.«

Blümlein zog sein Portemonnaie.

»Das Vertrauen, das Sie in mich setzen, Herr Baumann, gereicht mir zur größten Ehre«, sagte er nun. »Ich bin bereit, auf das Geschäft einzugehen, wenn ich das Terrain, das Millionen Wertes repräsentieren wird, mit einer Anzahlung von zwanzig Mark kaufen kann. Das ist nämlich die Höhe meines augenblicklichen Vermögens, der Rest von den zweihundert, die Sie mir neulich vorgeschossen haben. Die Geschichte mit der Ehescheidungssache ist mir nämlich auch durch die Lappen gegangen. Sie sehen, was mir Ihr Vorschlag nutzt.«

Paul blieb ernst.

»Auf die Höhe der Anzahlung kommt es in diesem Falle zunächst nicht an, Herr Blümlein«, sagte er nun. »Die Hauptsache ist die, ob Sie sich prinzipiell damit einverstanden erklären, das Gelände, von dem die Rede ist, für die Terraingesellschaft, wie sie nun heißen wird, anzukaufen?«

»Und mit wessen Geld soll das geschehen, Herr Baumann?«

»Mit dem meinen!«

»Und von wem soll ich kaufen?«

»Von mir!«

Einen Augenblick glaubte Blümlein, einen Verrückten vor sich zu haben. Entsetzt starrte er Paul an.

Dieser lachte.

»Ja, Herr Blümlein«, sagte er, »im Menschenleben gibt es manchmal ganz verzwickte Verhältnisse. Ich habe nämlich ein ganz bestimmtes Interesse daran, diese Terrains zu verkaufen und sie dennoch in meiner Hand zu behalten. Ich schieße Ihnen die Anzahlung, ohne Vergütung von Ihnen zu beanspruchen, vor, und lasse den Rest der Kaufsumme unverzinst auf dem Terrain stehen. Durch Unterzeichnung eines Kaufkontraktes von Ihrer Seite ginge das Gelände in den Besitz der Gesellschaft über, und ich hätte dem Namen nach mit diesem Unternehmen nichts mehr zu schaffen! Verstehen Sie mich!«

Blümlein überlegte.

»Und was soll für mich bei diesem Scheinkauf herausspringen, Herr Baumann, das verstehe ich nicht.«

»Mancherlei«, erwiderte Paul in Ruhe. »Zunächst werden Sie sich auf meine Kosten als Direktor der Gesellschaft ein anständiges Lokal in der Leipziger oder Friedrichstraße oder sonstwo in einer bekannten Gegend zulegen. Sodann würden Sie von mir für die Dauer des Bestehens dieser Gesellschaft ein auskömmliches Gehalt für sich selber und für die von Ihnen des Ansehens halber beschäftigten Leute beziehen. Für die nötige Schreibarbeit würde ich schon Sorge tragen, Herr Direktor! Die Hauptsache bei dem ganzen Geschäfte ist die, Sie behalten Ihren Wohnsitz in Berlin, Sie führen alle Aufträge, die ich Ihnen erteile, im Namen Ihrer Gesellschaft aus, und kein Mensch darf bei der Sicherheit Ihrer Existenz jemals erfahren, wer der Geldgeber und wirkliche Inhaber der Gesellschaft ist.«

»Sie suchen also einen Strohmann, der gegen Entschädigung vor den Augen der Welt die Geschäfte führt, die eigentlich die Ihren sind, Herr Baumann.«

»Wenn Sie sich für einen Strohmann halten wollen, dann ist das mir auch recht. Für mich und die Leute sind und bleiben Sie der Direktor der Gesellschaft. Und wer Ihre Geldgeber sind, das geht doch die Öffentlichkeit nichts weiter an.«

Nun verstand Blümlein.

Er nickte.

»Auf den Schrecken muß ich noch eine Flasche Rotspohn trinken«, meinte er jetzt.

»Noch zwei, wenn es Ihnen Vergnügen macht«, gab Paul zurück.

Sie saßen lange zusammen und besprachen das Geschäft in allen Einzelheiten. Paul blieb noch einige Tage in Berlin. Er ging Blümlein an die Hand wegen Ermietung eines Geschäftslokales und Anstellung von zwei jungen Leuten, die unter dem Titel von Korrespondenten dem Direktor untergeordnet waren. Erst nach Erledigung dieser Äußerlichkeiten, die der Sache vor der Welt ein Relief gaben, sollte sich Blümlein an Paul wegen Ankaufes des Geländes wenden, der dann auf der von beiden ausgemachten Basis perfekt wurde. Die Dispositionen über weitere Unternehmungen der »Concordia, Gesellschaft zur Verwertung von Grundbesitz«, wie Paul sein jüngstes Unternehmen genannt hatte, sollte er gegebenen Falles von ihm direkt erhalten. In etwa einer Woche hatte Paul alles geordnet, war mit Blümlein im klaren und kehrte von seiner Berliner Reise völlig befriedigt in die Heimat zurück.


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