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VI.

In dem alten Hause am Ritterwall kamen und gingen die Tage. Paul widmete sich ganz dem Geschäfte, dessen Erweiterung in seinem Sinne er gleich nach seiner Verheiratung mit Agathe voll Energie in Szene setzte. Frau Baumann leitete den umfangreichen Haushalt, der von Jahr zu Jahr durch die Vermehrung der Lehrlinge und Gesellen sich vergrößerte. Wie einst auf dem stolzen Schloß Schönblick wußte sie jetzt in dem alten Bürgerhause in Küche und Keller Bescheid und hatte den lieben, langen Tag alle Hände voll zu tun vom frühen Morgen bis zum späten Abend, wenn sie sicher sein wollte, daß jeder im Hause zu seinem Rechte kam und daß nichts unnütz vergeudet wurde. Es schien, als hätte diese Frau, welche die in Aussicht stehenden Millionen Langs so maßlos gemacht hatten, erst hier in dem einfachen und reichen Geschäftshause das eigentliche Feld ihrer Betätigung gefunden.

Und zehn Monate nach ihrer Verheiratung mit Paul tat sich für Agathe eine neue Welt der Sorge und des Interesses auf. Denn damals schenkte sie ihrem ersten Kinde das Leben. Es war ein kräftiger Junge, der dort in dem großelterlichen Schlafzimmer am Ritterwall das Licht der Welt erblickte und der in der Taufe den Namen Robert erhielt. Während Paul in dem großen Geschäfte Taler zu Taler schaffte und Frau Baumann mit von Tag zu Tag herrischer klingender Stimme den Burschen und Mägden im Hause befahl, saß Agathe Stunden und Stunden an dem Bettchen des Kleinen, in dessen Pflege sie sich nicht genug tun konnte. Die in ihrem Innersten plötzlich mit elementarer Kraft zum Ausbruch gekommene Mutterliebe beherrschte in der Tat ihr ganzes Fühlen und Denken und ließ sie das Geschäft und den Gatten und die ihr von Frau Baumann entwundenen Rechte und Pflichten der Hausfrau vergessen.

Es war wie ein Wunder. Die Seelenruhe, die Agathe seit dem plötzlichen Tode des Vaters und Bruders völlig verloren zu haben glaubte, kehrte wieder mit dem Tage, da sie ihr erstes Kind an die stillende Brust legte. Das Unstäte, das sie bislang völlig beherrscht, die Schuld des frevelhaften Wunsches, unter der sie erdrückt zu werden gefürchtet, waren nun von ihr genommen, denn ein Fremdes und dennoch ihr Eigenstes, ein von Schuld Freies, war jetzt plötzlich zwischen sie und die anderen getreten. In ihrem Herzen entfaltete sich die Knospe einer etwas mystischen Religion, die mit der von der Kirche gelehrten nicht das Geringste zu tun hatte. An dem von ihr und sicher am lebhaftesten von Paul empfundenen Wunsche, die Erbschaft der Lenz' und der Badrutts allein und ungeschmälert anzutreten, war der aus Leichtsinn und Sorglosigkeit in die Ferne gezogene Konrad zugrunde gegangen. Und das Verbrecherische dieses Wunsches sollte nach Agathes Willen gesühnt werden durch die Erziehung, die sie diesem ihrem ältesten Kinde, die sie allen Kindern geben würde. Das Gute sollte in diesen Kindern zu seiner vollen Entfaltung gelangen, das, wie sie überzeugt war, in dem Herzen eines jeden Menschen neben dem Bösen schlummerte.

O, wenn sie sich umsah, wenn sie ihrer eigenen Kindheit gedachte, wenn sie sich Paul und dessen Mutter vorstellte, dann fühlte sie, daß das Bestreben der meisten Menschen nur darauf hinauslief, dieses Gute im Keime zu ersticken und jenes Böse üppig ins Kraut schießen zu lassen. Natürlich in den Grenzen, die die Furcht vor menschlicher Strafe, die Angst vor der Schande in den Augen der Gesellschaft geboten!

So hatten es alle gehalten, so war es mit ihr selber gewesen, und nun, da sie neuem Leben, das die Zukunft auf seinen starken Schultern tragen sollte, zum Dasein verholfen, war sie entschlossen, in diese junge Seele und in alle die, die noch kommen würden und kommen sollten, die Saat einer neuen durch Schuld und Reue erkämpften Welt und Lebensanschauung zu senken.

Freilich mit schönen Reden und Ermahnungen, wenn das Kind erst zu Verstand gekommen, war das nicht getan. Alles, was diese ihre Kinder zu sehen und zu begreifen anfingen, mußte von vornherein auf eine neue Grundlage erhoben werden. Sie mußten es lernen, anders zu denken, zu fühlen und zu urteilen, als dies gemeinhin in dem rücksichtslosen Kampfe der Menschen, den alle, alle gegen alle führten, der Fall zu sein pflegt.

Allerdings, ob das diesen ihren Kindern in ihrem späteren Leben zum Nutzen gereichte, daran dachte Frau Agathe in ihrer phantastischen Schwärmerei, die Böses in Gutes verwandeln wollte, zunächst nicht. Daran brauchte sie auch zunächst gar nicht zu denken in diesen ersten Jahren ihrer Ehe, da sie sich ganz der schrankenlosen Verehrung und Liebe zu dem im alten Hause am Ritterwall durch sie neu erwachten jungen Leben hingab.

Robert blieb nicht lange allein. Schon im nächsten Jahre lag ein kleines Schwesterchen in der Wiege. Es war am Tage der heiligen Anna geboren und erhielt den Namen dieser seiner Schutzpatronin. Dann folgten in längeren Zwischenpausen noch ein zweiter Sohn und eine zweite Tochter.

Als der neunjährige Robert die ersten lateinischen Vokabeln lernte und als Ännchen, wie sie von der Mutter immer genannt wurde, die ersten Strümpfe strickte, zählten der kleine Gustav vier und Luischen zwei Jahre.

Dieses vierblättrige Kleeblatt war nun Frau Agathes ganze Welt. Während Paul Filiale auf Filiale gründete, so daß er jetzt schon über dreißig Verkaufsstellen seiner Waren in der großen Stadt errichtet hatte, während Frau Baumann ganz in dem Betriebe des Haushaltes aufging, entwickelte Agathe in dem Kinderzimmer ihre eigenartige Methode der Erziehung, die sich in einen bewußten Gegensatz zu der Erziehung der Schule und des Lebens stellte. Sie hatte sogar den Plan gehabt, die Kinder ganz im Hause unterrichten zu lassen. Doch da hatte sich Paul, zum ersten Male in seiner Ehe, ins Mittel gelegt und darauf bestanden, daß sowohl Robert zuerst auf die Vorschule und dann auf das Gymnasium kam, als auch daß Anna wie die Kinder anderer Leute die Mädchenschule besuchte.

Damals hatte es Tränen von Seiten Frau Agathes gekostet, denn sie fürchtete, daß sich die Kinder ihr entfremdeten. Aber zu ihrem nicht geringen Erstaunen hatte sie bald wahrgenommen, daß sich die Kleinen nur um so inniger an sie anschlossen, insonderheit Robert, dessem weichen Gemüte die Methode der Mutter ganz besonders entgegenkam.

Die beiden Kleinen, Gustav und Luischen, hatte sie ja sowieso noch ganz für sich allein.

Es war ein Bild, wenn sie, die vier um sich vereinigt, des Abends vor dem Schlafengehen in dem großen Kinderzimmer saß, und sich ganz dem unter ihrer Leitung schon reich entfalteten Seelenleben dieser jungen Menschenpflanzen widmete. Kräfte wurden in ihr wach, von deren Vorhandensein sie in früheren Jahren noch gar keine Ahnung gehabt, denn der Wissensdurst der Kleinen und ihre nicht zu befriedigende Neugier stellten Fragen über Fragen, die alle beantwortet sein wollten.

Und diese Kinder, denen sie allen selber die nährende Brust gereicht, waren kerngesund und bildhübsch. Von der Mutter hatten sie die großen blauen Augen und die starken goldblonden Haare. Noch verriet nichts in diesen pausbackigen und zarten Gesichtchen den etwas schroffen Baumannschen Typ.

Wenn die kleinen, Gustav und Luischen, endlich in ihren Bettchen lagen, drängten sich Robert und Ännchen an die Mutter heran, und dann mußte sie den beiden ihre Fragen beantworten oder Geschichten erzählen, die sie nach reiflicher Überlegung auswählte oder selber erfand, deren Sinn und Inhalt jene Lehre von dem Siege der Güte in der Welt in diese jungen Herzen senkte.

In den sich immer weiter ausdehnenden Geschäften Pauls, in dem Schalten und Walten Frau Baumanns ging das brutale Leben des Alltages seinen Gang. Die beiden hatten das Erbe der Lenz' und der Badrutts übernommen, das Agathe, als wenn eine Last von ihren Schultern gefallen sei, ihnen willig überließ. Hier in den Herzen ihrer Kinder erwuchs dem jungen Weibe, das sich wenig um den Gatten und gar nicht um dessen Mutter kümmerte, eine neue Welt. Denn die versöhnende Kraft der Liebe, die Schulden tilgt und Sünden, wie sich Agathe vor sich selber ausdrückte, aus dem Buche des ewigen Richters streicht, wurde ihr hier offenbar.

Alles, was sie früher empfunden, alles, was sie früher bedrückt hatte, empfand sie jetzt nicht mehr. Es vermochte sie jetzt nicht mehr zu bedrücken. Es war von ihr genommen, es war entschwunden, weil sie nun ganz aufging in der Liebe zu diesen Wesen, denen sie das Leben geschenkt hatte, und die nach ihrem Willen die Träger einer neuen Weltanschauung der siegenden Güte werden sollten.

Im Abgrund tiefer Vergessenheit ruhte das Schicksal Konrads, und der Lärm des Tages, den sie in Paul und in dessen Mutter verkörpert sah, drang nicht hinter diese Mauern und über diese Schwelle, auf der die reinen Herzen ihrer Kinder Wache hielten.

So spann sich Agathe in einen Traum der Wonne, der seinen Höhepunkt erreichte, wenn sie die weiße Hand auf Roberts goldblonden Scheitel gelegt und wenn Ännchen zu ihren Füßen kauerte.

Von den Kindern liebte sie eines wie das andere. Aber in Robert sah sie, wenn das möglich war, noch etwas mehr, als das geliebte Kind. Er war ihr Ältester und der Erste, der ihr nach langen Monaten der innerlichen Zerrissenheit und Verzweiflung den Frieden gebracht hatte. Sein Dasein war wie eine Erlösung in ihr eigenes armes Leben getreten, und aus diesem Grunde wollte es ihr erscheinen, als ob gerade dieser Junge dazu berufen sei, später als Erwachsener, als Mann seinen Mitmenschen etwas von dem zu geben, was er ihr unbewußt, ein lallendes Kind in der Wiege, geschenkt hatte, etwas von dem Frieden, den der empfindet, dessen Schuld und Sünde die sühnende Liebe aus dem Buche des ewigen Richters gestrichen hat.

Robert war noch viel zu jung, um wirklich all das zu verstehen, was diese ungeduldige Mutter ihm alles zu sagen hatte. Aber er war ein eigenartiges Kind. So ganz anders als die übrigen Knaben seines Alters, die sich auf der Straße balgten und sich um eine Nuß oder eine Murmel die Köpfe blutig schlagen konnten. Und daß er so anders war, das war das Verdienst oder die Schuld seiner Mutter, die ihn, noch ein Kind, mit Hilfe ihrer Überredungskunst und ihrer Liebe zum Nachgeben den anderen gegenüber bestimmt hatte.

In den Lehren, die Agathe ihrem neunjährigen Knaben gab, spielte natürlich der liebe Gott eine große Rolle. Aber dieser liebe Gott war ein ganz anderer, als der, mit dem sonst die Kinder angefeuert oder bedroht werden. Es war der liebe Gott, den sich Agathe selber zurecht gemacht hatte, der mit dem der Bibel und dem der Kirche so gut wie nichts mehr gemein hatte. Denn von Gericht und Sühne, von der Belohnung des Guten und der Bestrafung des Bösen war in diesen ihren Lehren niemals die Rede, sondern immer nur von dem einen, daß die Güte um ihrer selbst willen die Überwältigerin der Welt und der Menschen sei.

Und Robert lauschte den Worten der Mutter, deren Sinn er damals noch gar nicht begreifen konnte, und freute sich, daß ihre Hand so weich und liebevoll auf seinem Scheitel lag.

In diesen kleinen und großen Sorgen verbrachte Agathe ihre Tage, aus denen Jahre und Jahre wurden, indessen sich vor Pauls Augen die Aufgaben, die das stetig wachsende Geschäft ihm stellte, mehrten und mehrten. Es war ein seltsames Leben, das diese beiden mit oder vielmehr nebeneinander in ein und demselben Hause führten. Es war eine Ehe und, wie es schien, eine glückliche, ja sogar eine mit Kindern reich gesegnete, und dennoch! Die beiden, die sich von Jugend auf schon als Schulkinder geliebt hatten, blieben sich innerlich fremd, nachdem die Schuld, an der sie beide trugen und von der sich Agathe durch die Liebe zu ihren Kindern entsühnen zu können glaubte, ihrer ersten Umarmung jede Leidenschaft genommen hatte.

Freilich zu einer Aussprache zwischen den beiden Gatten war in dieser Ehe wenig Gelegenheit gegeben, und das Philosophieren über seelische Dinge lag Paul seinem ganzen Wesen nach fern. Von allgemeinen Fragen war in diesem Hause, das sich Agathe jede Unterhaltung über das Geschäft gestellt hatte, fast niemals die Rede, und die Last des Tages nahm die Stunden für ein geistiges Ineinanderaufgehen weg. Es kam noch hinzu, daß sich Agathe jede Unterhaltung über das Geschäft, das sie plötzlich, seitdem die Nachricht von dem Tode Konrads eingetroffen war, gar nicht mehr interessierte, verbeten hatte. So war denn während des gemeinsamen Mittagessens, an dem außer den Ehegatten auch noch Frau Baumann und ein Teil der Gesellen teilnahmen, immer nur von ganz gleichgültigen Dingen die Rede: Von dem Wetter, von den Ereignissen in der Stadt, von Dingen, die in den Zeitungen standen. Und des Abends wurde es spät, bis Paul endlich aus dem Bureau in die Wohnung kam. Meistens war Agathe, nachdem sie die Kinder zur Ruhe gebracht hatte, bereits selber schlafen gegangen, und Paul legte sich müde und abgespannt an ihre Seite, ohne noch Zeit und Lust zu einem Gedankenaustausch zu haben, dessen Inhalt, wie er wußte, bei Agathe nicht auf das geringste Verständnis stieß.

Wenn sie sich einmal unterhielten, dann hatten immer die geradezu entgegengesetzten Interessen, die sie beide beherrschten, diesen Gesprächen ein frühzeitiges Ende bereitet. Denn ihr war es vollkommen einerlei, daß er sich mit dem Plane der Errichtung einer neuen Filiale im Nordosten der Stadt trug, und ihm war es noch gleichgültiger, was Robert heute erzählt hatte oder daß Luischen wieder einen neuen Zahn bekam. Rein äußerlich betrachtet, war diese zwischen zwei so jungen Menschenkindern bestehende Ehe die Ehe des viel in Anspruch genommenen Geschäftsmannes, wie sie überall in unzähligen Formen besteht. Und dennoch der Grund der gegenseitigen Entfremdung war hier ein anderer, als dies gemeinhin der Fall zu sein pflegt.

Agathe hatte kein Interesse an der Beschäftigung ihres Mannes wie tausend andere Frauen. Aber nicht aus dem Grunde, weil sie von diesem Geschäfte nichts verstand oder weil sie in dessen Gang nicht eingeweiht war, sondern weil sie dieses Erbe der Eltern, an dem die Schuld an Konrads frühem Tode hing, auf Pauls Schultern hinübergewälzt hatte und weil sie nun sah, daß dieser in dem Besitze und der Ausgestaltung dieses Erbes die eigentliche Aufgabe seines Lebens fand, während er sich um sie und ihre Interessen so gut wie gar nicht kümmerte.

In den wenigen Jahren, in denen Paul nun das Lenzsche Geschäft führte, hatte sich dieses gewaltig vergrößert. Es war, als ob Paul unbewußt etwas von den großen Ideen des alten Peter als praktisch denkender Mensch übernommen hätte.

Das alte Stammhaus am Ritterwall, die beste Konditorei der Stadt, die einst der Stolz der Familien Lenz und Badrutt gewesen, war längst nicht mehr das Geschäftshaus, an dessen Spitze der nunmehr kaum dreißigjährige Paul Baumann stand.

Die Idee mit den Filialen an allen Ecken und Enden der großen Stadt hatte sich glänzend bewährt, und im Verlaufe eines knappen Jahrzehntes war aus der alten Lenzschen Konditorei, die man immer noch in dem alten Stammhause am Ritterwall führte, ein gewaltiges Konsumgeschäft geworden, das seine Interessen nicht mehr auf die Leckereien für die paar Vermögenden beschränkte. Mit dem alten Grundsatze der Badrutts, für teures Geld eine nur ausgezeichnete Ware an wenige Bevorzugte zu liefern, hatte Paul, der Gründer von vierzig Filialen, gründlich aufgeräumt. Aus seiner Konditorei war im Laufe der Jahre ein gewaltiges in vierzig kleine Geschäfte zerfallendes Warenhaus geworden, das sich ausschließlich mit dem Verkauf der feineren Genußmittel beschäftigte. In schlauer Berechnung und auf die Faulheit und Bequemlichkeit des Publikums bauend, hatte Paul Baumann eine Konzession nach der anderen an sich gerissen. Während das alte Hauptgeschäft am Ritterwall als Konditorei im Stile der Lenz' und Badrutts erhalten blieb, taten sich an allen wichtigen Ecken der Stadt die kleinen Verkaufsstellen auf, in denen man sich nicht mehr auf Backwerk, Konfitüren und eingemachte Früchte beschränkte.

Pauls große Gründung, die noch in die ersten Jahre seiner Ehe mit Agathe fiel, war eine Brotfabrik, die den Bäckern der Stadt eine heillose Konkurrenz bereitete, weil das Maschinenbrot um wenige Pfennige billiger als das handgebackene geliefert werden konnte. Durch die Drückung der Brotpreise zog er die wenig Bemittelten in seine Verkaufsstellen. Damals war er auf heftigen Widerstand, namentlich von Seiten der Bäckerinnung, gestoßen, aber er hatte sich nicht irre machen lassen, er hatte diesen Widerstand siegreich überwunden. Und das einmal umgestoßene Prinzip der Lenz' und Badrutts hatte des weiteren und des weiteren seine Folgen gehabt. In den Fabrikvierteln und in den Vorstädten war die Nachfrage nach dem Maschinenbrot aus Pauls Fabrik natürlich die lebhafteste gewesen, und bald wurde es Paul klar, daß es nun seine Aufgabe sei, die kleinen Leute in seine eigenen Filialen zu locken, anstatt diese zu veranlassen, bei der Konkurrenz, denen er in solchen Vierteln den Verkauf seines Brotes überlassen mußte, ihren sonstigen Bedarf zu decken. Und so entstand unter der Firma Filiale Lenz eine große Anzahl von Läden, die man als die Verkaufsstellen eines gewaltigen Warenhauses ansprechen durfte. Zu dem Brot und den Backwaren, zu den Konfitüren und den eingemachten Früchten, die in der Fabrik und in der alten Konditorei am Ritterwall hergestellt wurden, kamen nun neue Artikel, die immer den Bedürfnissen der gerade bei der betreffenden Filiale wohnenden Leute angepaßt waren.

Kolonial- und Landesprodukte machten den Anfang, Tabak und Zigarren, Konserven und Delikatessen, feine Fleisch- und Wurstwaren folgten ihnen je nach der Lage der betreffenden Filiale auf dem Fuße nach.

Ein Organisationstalent von ungewöhnlicher Bedeutung war notwendig, um all diese verschiedensten Branchen der zahlreichen Läden und Lädchen zunächst einzurichten und dann zu überschauen. Aber Paul verfügte über dieses Talent. Er hatte eine Witterung dafür, die richtigen Leute für die Leitung seiner Filialen zu finden. Er behielt nur solche, die gleich ihm einen Spürsinn für das Bedürfnis der Kunden hatten. Freilich beteiligte er dann den Inhaber einer solchen Filiale an dem Gewinn und machte ihn so zum selbständigen Kaufmanne, den er doch schließlich in seinen Händen hielt.

Zehn Jahre, nachdem Paul das alte Geschäft in seine eigene Führung genommen, war es keine Konditorei und keine Feinbäckerei mehr. Es bestand nun aus einer Anzahl von Fabriken, in denen Spezialartikel hergestellt wurden, und aus einer Unzahl von kleinen Läden, in denen diese Spezialartikel neben anderen von den in Betracht kommenden Importeuren, Produzenten und Fabrikanten bezogenen Waren feilgehalten wurden. Und die Zentrale aller Fabrikations- und Verkaufsstellen war das kleine Privatbureau Pauls. Hier war das eigentliche Herz. Und hier in diesem einen Kopfe liefen endlich alle die tausend Fäden zusammen, hier an derselben Stelle, wo sich Peter seinen phantastischen Träumen von einem großen Kaufhause der Zukunft und von einer Erweiterung der Stadt ins Unbegreifliche hingegeben hatte.

Paul war jetzt Anfang der Dreißig. Aber er sah nicht danach aus. Man hätte ihn ebensogut für zehn, für fünfzehn Jahre älter halten können. Seine einst vollen, dunklen Haare waren gelichtet. Von dem sanften Aussehen seines Bruders Ewald, von dem schneidigen Rolfs, war an ihm nichts zu entdecken.

Wie eine Wolke lagerte es immer über dieser hohen Stirn, hinter der man die Gedanken sich jagen und überstürzen zu sehen glaubte. Ein ganz eigentümliches, sich von Sekunde zu Sekunde wiederholendes Zwinkern der Augen, das Paul auf eine Entzündung zurückführte, lieh seinem Gesichte einen ewig unsteten Zug. Und diesem Zuge entsprach sein ganzes Wesen. Er war nervös! Er sprach hastig, zu nichts gönnte er sich die nötige Zeit. Beim Essen schlang er die Bissen hinunter, ohne sie gekaut zu haben, und während er seine Suppe löffelte, überflog er die Zeitungen, um die Wirkung der Inserate zu studieren, die er in jeder neuen Woche, ganze Seiten des Blattes füllend, aufgab.

Er hatte viel erreicht. Aber seine Pläne gingen weiter. Er wollte alles erreichen, seine Geschäfte sollten auf seinen Gebieten die einzigen in der gewaltigen Stadt werden, sollten die Konkurrenz lahm legen, die Mitläufer einen nach dem anderen erdrosseln, indem sie, wie der Efeu seine Blätter über den Baumstamm, ihren Gürtel um das gewaltige Häusermeer aus Stein und Eisen zogen.

Schon damals, als Paul jene erste Fabrik für sein ihm alle Kreise der Bevölkerung mit einem Schlage gewinnendes Maschinenbrot gründete, hatte er einen tiefen und seltsamen, einen ihn zunächst erschreckenden Blick in das Seelenleben des verstorbenen Peter Lenz getan, den er bei dessen Lebzeiten niemals begriffen hatte. Er hatte damals ein geeignetes Terrain für die Anlage seines neuen Unternehmens gesucht und sich plötzlich daran erinnert, wieviel anscheinend wertlosen Grund und Boden weit draußen vor den Toren der Stadt Peter im Laufe der Jahre zur Anlage seiner Obstplantagen an sich gebracht hatte. Er war auf dem Rathause gewesen und hatte sich damals das städtische Grundbuch zeigen lassen, um wegen der Anlage seiner Fabrik das Land, das auf Peters Namen eingetragen war, genau feststellen zu können. Und damals waren ihm in diesem Grundbuche zwei Zahlen aufgefallen, die er schon einmal irgendwo und irgendwann in seinem Leben gelesen haben mußte: Die Zahlen 12 897 und 12 899. Lange hatte er darüber nachgegrübelt, was es wohl mit diesen Zahlen für eine Bewandtnis haben könnte, und endlich war es ihm wieder eingefallen. Damals in jenen ersten Tagen nach Peters Tode, als man die Gewißheit von dem Tode Konrads gehabt, hatte er diese Zahlen gefunden, die ihm nun zum Schlüssel werden sollten, aus denen heraus er alles begreifen und verstehen würde, was in Herz und Hirn des seltsamen Mannes vorgegangen, dessen Tode er seine Macht und seinen Besitz verdankte.

Klar und deutlich war es ihm damals aufgefallen. Es konnte nichts anderes sein. Die Zahlen in dem städtischen Grundbuche stimmten überein mit den Zahlen, die Peter einst in jenen in der Mittelschublade seines Schreibtisches sorgsam verwahrten gigantischen Plan eingetragen hatte, der fern im Westen, draußen vor den Toren der Stadt, wohin er die Brotfabrik bauen wollte, einen Riesenbahnhof und an dessen Seite eine neue Welt der Zukunft sah. Dort also hatte Peter den einstmals sicher kommenden Aufschwung der Stadt geträumt, dort, wo er in Jahren und Jahren Grundstück um Grundstück an sich gebracht hatte, dort, wo auch diese Parzellen lagen, deren Nummern ihm plötzlich, als sprächen sie von jenseits des Grabes, einen Einblick in Peters gigantische Pläne und Phantasien gewährten.

Damals, als ihn die Nummern über Ort und Situation genau unterrichtet, hatte er den Plan aus der Schublade wieder an sich genommen und ihn tage- und wochenlang, in allen Stunden, die er erübrigen konnte, eingehend studiert. Und damals war ihm klar geworden, welch ungeheuren Schatz Peter in Jahren und Jahren an sich gebracht, wenn in der Tat einmal der neue Riesenbahnhof, der bei dem Wachstum der Stadt nicht ausbleiben konnte, an jene von Peter erträumte Stelle kam. Wenn es der Zufall oder das Schicksal so wollte!

Lange klangen diese Worte in Pauls Innerem nach.

Immer noch in dem Gedanken, die Brotfabrik auf dieses Gelände zu stellen, hatte sich Paul eines schönen Morgens auf den Weg in jene einsame Gegend gemacht, wo die auf Peters Plane genau verzeichneten Parzellen Nummer 12 897 und 12 899 lagen. Und hier war ihm das Gewaltige, das beinahe Unbegreifliche von Peters Plänen aufgegangen. Weite Strecken des heute noch fast wertlosen Geländes, auf dem kaum ein paar Kartoffeln oder eine Handvoll Hafer gedeihen konnten, hatte Peter an sich gebracht. Verödet, Schutt und Geröll, Binsenstand und dürre Heide, lag nun dieses Land im Glanze der Morgensonne vor Pauls Blicken da. Die Karte und den Plan Peters in seinen Händen, umfaßte er nun mit weitgeöffneten Augen diesen ungeheuren und heute noch wertlosen Besitz, der Agathe, der ihm selber und seinen Kindern gehörte, den goldenen Boden, dessen gewaltig pochendes Herz nach Peters phantastischen Plänen der neue Riesenbahnhof werden sollte.

Ja, wenn, wenn! Dann war der Grund und Boden einer neuen Stadt, der Boden der Zukunft sein und seiner Kinder Eigentum, der Boden, den man mit Gold aufwiegen würde, wenn er durch diesen Bahnhof der Ein- und Ausgang zu einem Terrain geworden, auf dem Tausende von Menschen wohnten, in das die Züge im Laufe der Jahre Hunderttausend neue Menschen brächten. Das war sicher Peters Traum gewesen. Darum hatte er dieses Land, Stück für Stück, gekauft, das nun zu einem Areal geworden war, auf dem eine neue Stadt der Zukunft Platz finden konnte, zum goldenen Boden für Kinder und Kindeskinder!

Damals, Jahre waren es nun schon her, war ihm zum ersten Male ein Begriff von Peters Größe, von dessen seltsamen, schier unbegreiflichen Wesen geworden, und damals hatte er zuerst verstanden, warum ihm der Sterbende mit der Anstrengung seiner letzten Kraft feierlich den Schlüssel zu der Mittelschublade seines Schreibtisches anvertraut hatte. Denn in dieser Schublade schlummerte eine gewaltige Idee, die ihren Schöpfer zu der ersten Persönlichkeit in der ganzen großen Stadt zu machen berufen war, zu einem wahren König der Bürger.

Und als ob er ein Sakrileg beginge, wenn er durch irgend etwas, und sei es auch nur durch die Errichtung der im Vergleich zu Peters gigantischen Plänen winzigen Brotfabrik, an dieses jungfräuliche Gelände tastete, hatte er sich schweren Herzens entschlossen, sich anderweitig Terrain für seine Zwecke anzukaufen, und hatte Peters Erbe schlummern lassen, bis der Tag seiner Auferstehung gekommen sei.

So lebte seit Jahren die von Peter überkommene und nun von ihm wie eine Offenbarung geschaute Idee in Pauls Innerem, und niemandem, auch Agathe und der Mutter gegenüber nicht, ließ er ein Wort davon verlauten, was aus dem in aller Augen wertlosen Brachlande werden sollte.

Und in der Tat reichte der Zufall eines Tages Paul seine helfende Hand. Zunächst dachte er gar nicht daran, daß die einfache Sache, die man ihm da von seiten der Stadt anbot, den Hebel abgeben könnte, mit dem er den von Peter erträumten Aufschwung von tausenden und abertausenden Quadratmetern bislang wertlosen Brachlandes langsam in Szene setzen könne.

Eines Tages erschien nämlich ein Herr in Pauls Bureau, der sich als ein Stadtrat Kölsch anmelden ließ und sich im Laufe des Gespräches als der Vertrauensmann des Magistrats entpuppte. Es war eine sehr einfache Sache, über die Stadtrat Kölsch mit Paul zu unterhandeln hatte.

Im Mittelpunkte der Stadt, in nächster Nähe des Ritterwalls, lag ein altes historisches Gebäude, das vor Zeiten als städtisches Archiv gedient hatte. Seiner historischen Vergangenheit und seines interessanten Baustiles wegen war es in den letzten Wochen in den Verhandlungen der Stadtverordneten zu lebhaften Auseinandersetzungen gekommen. Ein großer Teil der Stadtväter war nämlich der Ansicht, daß das alte Gebäude, das gerade an dieser Stelle den von Jahr zu Jahr zunehmenden Verkehr hinderte, für den Abbruch reif sei. Andere dagegen vertraten den Standpunkt, daß dieses historische Gebäude der Stadt als Baudenkmal erhalten bleiben müsse, nachdem die städtischen Urkunden längst in dem erweiterten und fast neu erbauten Rathause untergebracht worden waren.

Eine Einigung war zunächst nicht zu erzielen. Die öffentliche Meinung, die sich sehr bald mit der Sache beschäftigte, neigte im großen und ganzen auf die Seite derer, die das allen lieb gewordene »Archiv« vor dem Untergange retten wollten, und nun mußte ein neuer Daseinszweck für das alte Haus gefunden werden, denn als unbewohnte und allmählich verfallende Ruine, die Geld verschlingen und keine Zinsen tragen würde, konnte es unmöglich auf einem der belebtesten Plätze der großen Stadt stehen bleiben.

Da kam Stadtrat Kölsch auf einen Gedanken. Er trug dem Oberbürgermeister seine Idee vor und fand dessen Beifall, schon aus dem einen Grunde, weil die Verwirklichung dieser Idee der Stadt aus der Pacht, die das sonst wertlose »Archiv« abwerfen würde, eine recht beachtenswerte Einnahme verschaffen konnte.

Das »Archiv« sollte erhalten bleiben. An den Wänden seiner wenigen, auf Erdgeschoß und erstes Stockwerk beschränkten Räume sollten alte Ansichten der Stadt aus früheren Jahrhunderten und interessante Dokumente aufgehängt werden. Die von der Stadt zu beschaffende Einrichtung sollte den Stil des achtzehnten Jahrhunderts wahren, und in dem so eingerichteten »Archiv«, das in städtischem Besitze blieb, sollte durch einen leistungsfähigen und des öffentlichen Vertrauens würdigen Pächter ein elegantes Café betrieben werden. An Zuspruch würde es dem neuen Etablissement bei guten Leistungen von Seiten des Wirtes nicht fehlen, denn es fiel jedermann in die Augen und bildete sozusagen das Herz der großen Stadt.

Auf die Frage des Oberbürgermeisters, wen man denn mit der Führung eines solchen städtischen Cafés, für dessen Güte die Stadt selber doch gewissermaßen eine bestimmte Garantie übernehme, betrauen könne, hatte Stadtrat Kölsch dem Oberhaupte den Inhaber der Lenzschen Konditorei genannt, dessen Name schon die große und gute Kundschaft seines eigenen Geschäftes in dies neue Geschäft hinüberziehen würde.

Diesen Vorschlag trug der Stadtrat Paul vor. Und Paul verlangte Bedenkzeit. Er müsse sich die Sache reiflich überlegen, erwiderte er. So über Hals und Kopf könne er sich unmöglich klar darüber werden, ob er dazu imstande sei, das von Seiten seiner Mitbürger und der städtischen Behörden in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen.

Mit diesem Bescheide, der fast eine Annahme war, begab sich der Stadtrat zu dem Oberbürgermeister, und schon nach wenigen Tagen tauchte in der Presse und im Publikum das Gerücht auf, daß das alte »Archiv« erhalten bleibe, und zwar als erstklassiges Caféhaus, dessen Leitung Paul Baumann, der jetzige Inhaber der altbekannten Lenzschen Konditorei, übernommen.

Nun konnte Paul kaum mehr zurück. Und ihm war es so recht. Er dachte gar nicht daran, welch ungeheure Arbeitslast er durch Führung dieses neuen Geschäftes noch zu der alten auf seine Schultern lud. Er hatte nur das dumpfe und ihn unsäglich befriedigende Gefühl, zum ersten Male in seinem Leben mit den städtischen Behörden und der Öffentlichkeit in Verbindung zu treten. Es war ihm plötzlich, als seien die Würfel des Schicksals ins Rollen gekommen, als sei der erste Schritt zur Verwirklichung von Peters bislang phantastisch erscheinenden Plänen getan.

Das Caféhaus machte bald glänzende Geschäfte. Paul, dem es nun darauf ankam, sich seinen Freunden in der städtischen Verwaltung so angenehm wie möglich zu machen, übernahm die Leitung im ersten Jahre persönlich und betraute seinen ersten Konditor, der schon zu Peters Lebzeiten eine wohlbewährte Stütze gewesen, mit der Führung der Geschäfte am Ritterwall.

Im Archiv, so hatte man das neue Café in alter Erinnerung genannt, wurde nun Stadtrat Kölsch Pauls täglicher Stammgast.

Jeden Nachmittag zwischen fünf und sechs Uhr fand sich der alte Herr, der in der Stadtverordnetenversammlung das große Wort führte und ein intimer Freund des allmächtigen Oberbürgermeisters war, in Pauls neuestem Geschäfte ein. Er hatte seinen Sitz in unmittelbarer Nähe des Büfetts, hinter dem der Leiter des Cafés in dieser Stunde sicher zu finden war, und eine kindliche Freude erfüllte sein Herz, wenn er sah, wie das nach seinem Vorschlage ins Leben gerufene junge Unternehmen unter Pauls vorzüglicher Führung einschlug.

Hier pflegte sich Paul ein Viertelstündchen an den Tisch des Stadtrates zu setzen und empfing so im Laufe des Gespräches manchen wertvollen Einblick in den Gang der städtischen Verwaltung.

Denn Kölsch war nicht mehr weit von den siebenzig. Die Geschwätzigkeit des Alters war bei ihm erwacht, vor allem, wenn er sich wie hier in »seinem Café« ungemein behaglich fühlte und wenn er glaubte, daß er einem Menschen sein vollstes Vertrauen entgegenbringen könne. So kamen auch Dinge zur Sprache, die Kölsch von dem Oberbürgermeister selber gehört hatte.

Paul spitzte die Ohren, wenn Kölsch sich hier gehen ließ und sorglos von den Projekten des Oberbürgermeisters sprach, aus denen dieser ehrgeizige und bei allen anderen Menschen zugeknöpfte Herr seinem Freunde Kölsch gegenüber kein Hehl machte.

Der alte Herr tuschelte Paul dann in die Ohren und sein immer freundliches, von reichlichem Weingenusse stets gerötetes Gesicht verklärte sich vor Freude darüber, daß er in dem Leiter des Cafés einen so verständnisreichen und bereitwilligen Zuhörer fand.

Paul war schlau. Er machte während des Gespräches mit Kölsch, dem er aufmerksam folgte, manche treffende Bemerkung, ja mehr als das, manchen Vorschlag, über den der Alte erstaunt seinen weißen Kopf schüttelte, in dem Gedanken, daß die Leute des praktischen Lebens am Ende brauchbarer zur Lösung mancher Frage seien, als die gelehrtesten Juristen und Verwaltungsbeamten, die auf dem Papier am grünen Tische so oft zum Leide ihrer Mitmenschen entschieden. Vor allem ein Projekt des Oberbürgermeisters, über das der alte Kölsch mit Vorliebe sprach, erregte Pauls höchstes Interesse. Noch war dieses große Projekt, das Millionen verschlingen würde, nur in dem Kopfe seines Urhebers vorhanden, und von diesem hatte es Kölsch als der alleinige Vertraute erfahren. Denn Theobald von Klopp – so hieß das allmächtige Oberhaupt der Stadt – liebte es zu sondieren. Vor zwanzig Jahren war er aus dem äußersten Osten des Reiches in die alte Stadt berufen worden und den starren Geist des ostelbischen Junkers und preußischen Verwaltungsbeamten hatte er auch in dieser seiner neuen Umgebung niemals ganz ablegen können. So war ihm Kölsch, der damals das inzwischen von ihm niedergelegte Amt eines zweiten Bürgermeisters bekleidet hatte, als in der Stadt Geborener und Alteingesessener, immer ein wertvoller Kollege gewesen und bis auf den heutigen Tag für die Zwecke des Sondierens ein Vertrauensmann. Klopps gewaltiges und großes Projekt, das einmal begonnen, viele Millionen kosten würde, nannte sich kurz und bündig die Sanierung der Altstadt. Im Herzen des Gemeinwesens mit dem Ritterwall etwa im Westen beginnend, lag eine Unmenge von uralten Höfen, Plätzen, Gassen und Gäßchen, die einen regen Verkehr von Ost nach West beinahe unmöglich machten und die außerdem wegen ihrer mangelhaften Kanalisation und der gesundheitsschädlichen Bauart ihrer Häuser und Hütten eine große hygienische Gefahr für die ganze Stadt bedeuteten. Wie ein Polyp streckte nun diese gewaltige Stadt ihre Fangarme nach Ost und West, Süd und Nord aus bis zu dem fernen Gelände im Westen, das Peter an sich gebracht hatte und das auch heute noch wertloses Brachland war.

Seit Jahren erwog von Klopp nun den Plan, den er kurzerhand die Sanierung der Altstadt nannte, von dem er aber wußte, daß er mit dessen Durchführung auf die größten Schwierigkeiten stoßen werde. Einmal verschlang dieses Projekt Millionen und er sah sich vorerst gar nicht in der Lage, der Stadt und ihrer Bürgerschaft ein Äquivalent für alles das, was verloren ging, zu bieten, und dann, die Lokalpatrioten würden sich beim ersten Bekanntwerden seines Planes sämtlich gegen ihn auflehnen. Einen Hergezogenen würden sie ihn nennen, einen, der keine Ehrfurcht im Leibe habe, der die wertvollsten Gebäude, der die historischen Stätten mutwillig einer verrückten modernen Idee zum Opfer bringe, als ob nicht Generationen und Generationen in diesen alten Hütten gewohnt und gelebt hätten, ohne dem Typhus zum Opfer gefallen zu sein, als ob man nicht immer den Umweg um die alte Stadt gemacht hätte, wenn man vom Osten nach dem Westen gelangen wollte.

Daß ihm diese Vorwürfe nicht erspart bleiben würden, wußte von Klopp. Und deshalb hatte er auch den Vorschlag Kölschs, der ihm eine Möglichkeit zur Erhaltung des alten Archivs gab, mit Freuden begrüßt. Denn später konnte er immer darauf hinweisen und behaupten, daß er nichts weniger als der Vernichter altehrwürdiger historischer Stätten sei.

Die Sanierung der Altstadt! Er plante sie aus den verschiedensten Gründen. Allerdings vor der Öffentlichkeit würde nur der eine stehen, daß der Abbruch der alten Gassen und Gäßchen ein Gebot des modernen Verkehrs und der Hygiene einer sich jährlich um Tausende und Abertausende vermehrenden Großstadt sei. Aber im geheimen, ganz für sich allein, erwog von Klopp noch ganz andere Dinge als die Wohlfahrt der ihm anvertrauten Mitbürger, als die Förderung einer großen und breiten Verbindungsstraße von Ost nach West.

Millionen würde das Werk verschlingen, aber Millionen würde es auch wieder einbringen, wenn man das durch den Abbruch der alten Gassen gewonnene Terrain richtig zu verwerten verstand, wenn des weiteren sein großer Plan gelang im Osten oder Westen der Stadt, die eine neue breite Straße miteinander verbinden sollte, einen Mittelpunkt für den großen Verkehr zu schaffen.

Die alten Bahnhöfe und der Hafen des breiten Stromes genügten schon lange nicht mehr. Das war jedem, der die Verhältnisse in der Stadt kannte, eine vertraute Tatsache. Das hatte sogar Peter in seinem alten Hause am Ritterwall schon vor Jahren geahnt.

Verschiedene Male hatte der Eisenbahnfiskus nach einem Terrain für einen neuen, alle anderen überflüssig machenden Zentralbahnhof Umschau gehalten, und von Klopp, der immer nach oben schielte, war fest entschlossen, der Regierung gegenüber so nachgiebig wie nur möglich zu sein. Und das Interesse der Regierung ging hier einmal mit dem Interesse der Stadt und den ehrgeizigen Plänen ihres Oberbürgermeisters Hand in Hand. Die Altstadt mußte fallen. Sie war das größte Hindernis für den Verkehr, wenn der Fiskus sich erst, wie man von Klopp im Vertrauen mitgeteilt hatte, dazu entschloß, im Osten oder Westen weit vor den Toren der Stadt auf seine Kosten einen neuen Bahnhof zu errichten, der alle bislang auf dem Kontinent vorhandenen in seinen Dimensionen weit in den Schatten stellen sollte. Sobald der vorausgesehene und von der Regierung mit voller Absicht in die Stadt gelenkte Riesenverkehr an Personen und Waren einsetzen würde, dann war die breite Straße, die über die Trümmer der Altstadt führte, eine Notwendigkeit, wenn der Osten, für den von Klopp die Riesenanlage des neuen Bahnhofes im stillen erträumte, nicht verkümmern sollte. Und diese Pläne der Regierung zu fördern, hatte von Klopp in seinem Innersten den Untergang der Altstadt beschlossen, die vor der Welt im Interesse des Verkehrs und der Hygiene geopfert werden sollte.

Von dieser Sanierung der Altstadt konnte sich Paul nicht genug erzählen lassen.

Und als er eines Tages Kölsch gegenüber eine sehr treffende Bemerkung in dieser Hinsicht machte, da warf der alte Stadtrat die Worte hin:

»Sie sollten sich in die Stadtverordnetenversammlung wählen lassen, Herr Baumann, Sie wären unser Mann.«

Diese Worte ließen Paul keine Ruhe.

»Ich nähme ein Mandat an«, sagte er nach einer langen Pause der Überlegung zu Kölsch, »vorausgesetzt, daß man käme und mir die Kandidatur anböte.«

»Das wäre keine Schwierigkeit«, antwortete Kölsch.

Und plötzlich entfaltete sich vor Pauls Blicken der Plan Peters, dessen Ausführung am Ende nicht mehr ein Ding der Unmöglichkeit war, sobald er in jener Versammlung saß und Kölsch und Klopp zu seinen Freunden hatte.


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