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XIII.

Im Frühling des folgenden Jahres begannen das Beil des Zimmermanns und die Hacke des Maurers ihr Werk. Dreihundert Arbeiter gingen daran, die nach dem Plane des Oberbürgermeisters zum Abbruch bestimmten Straßen der Altstadt niederzulegen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend vernahm das Ohr den dumpf dröhnenden Aufschlag des fallenden Mauerwerkes, das Kreischen und Ächzen der morschen Balken, den Sturz des in sich zusammenbrechenden Gerölls. Aus dem Herzen der Altstadt ertönte wie das Seufzen und Stöhnen eines verzweifelten Menschen das Jammern der Säge, welche die aus dem Leibe der Jahrhunderte alten Häuser herausgerissenen Balken und Bretter zerteilte, und das schrille Pfeifen der kleinen Dampfbahn, die den Schutt wegzuschaffen hatte. Und dazwischen erklang es von hundert und aberhundert Arbeiterstimmen, die sich gegenseitig ihre Maßnahmen zuriefen, von Rufen der Pferdeknechte, die mit Peitschenknallen, Ermunterungen an die Tiere und wüsten Schimpfworten untermischt waren. Was hier eng aneinandergeschmiegt und sich gegenseitig haltend und stützend, dem Zahn der Zeit, dem Sturm und Wetter der Jahrhunderte getrotzt hatte, es fiel in wenigen Tagen und Wochen, um dem Verkehre einer neuen Ära Platz zu machen. Eine dichte Wolke weißen Kalkstaubes lagerte Tag und Nacht über diesem Teile des Häusermeeres und nahm dem Vorübergehenden, dem die Ruinen Durchschreitenden den Atem. Mit sommerlicher Wärme hatte der Frühling gleich zu Ende des April eingesetzt. Das gute Wetter erleichterte und beschleunigte die Arbeiten, aber die Trockenheit machte den Zustand für die Anwohner des von Tag zu Tag größer werdenden Trümmerfeldes fast unerträglich.

Furchtbar genug sah es hier aus. Wunden wurden geschlagen, die der Jahre bedürfen würden, um wieder zu vernarben, Lücken gerissen, die niemals wieder ausgefüllt werden konnten. Auf den empfindsamen Betrachter machte es den Eindruck, als ob man hier einem armen Menschen die Kleider in Fetzen vom Leibe reiße, als ob man die Eingeweide eines schönen Tieres lebendigen Körpers entblöße.

Wie leere Augenhöhlen starrten die ihrer Scheiben beraubten Fenster der vorerst noch stehen gebliebenen Häuser verzweifelt auf das Werk der Zerstörung, das sich hier in ihrer nächsten Nähe, zu ihren Füßen, unaufhaltsam vollzog.

Mitleidlos beleuchtete die grelle Sonne eines jeden jungen Tages immer neue und immer wieder frische Wunden, die man hier ohne Bedenken gerissen hatte. Das Innere, das Intimste der Häuser, was verschwiegene Mauern durch die Jahrhunderte hindurch verborgen gehalten, lag nun offen vor den Blicken der zufällig Vorüberschreitenden. In Fetzen hing hier die Tapete von den entblößten Innenwänden herunter, die einst Menschenfreude und Menschenleid vor den mitleidslosen Blicken der unbeteiligten Neugierigen in ihren Schutz genommen hatten. Dort hatte der wärmende Ofen armer Leute gestanden, das sah man deutlich an der Schwärze der nun entblößten, mit einfachem blauem Papiere überzogenen Wand, hier mußte ein Schlafzimmer gelegen haben, dort die Küche, dort das stille Heim eines einsamen Mädchens, wie das vor dem Fenster hängen gebliebene und in der Hast der Flucht nicht entfernte Blumenbrett mit verwelkten Geranien- und Fuchsiastöckchen dem Beschauer verriet. Wie Hilfe vom Himmel erflehende Arme reckten sich hier und dort einzelne lange Balken in die blaue Luft. Altes Hausgeräte, das mitzunehmen nicht mehr der Mühe wert gewesen, für das der Trödler auch nicht einen roten Heller geboten hatte, lag hier mitten unter dem Schutt und Geröll. Katzen, welche die alte Heimat nicht verlassen wollten, irrten miauend durch die Straßen und scharrten an den Haufen in der vergeblichen Hoffnung, dort noch ein Stück Küchenabfall oder einen weggeworfenen Fetzen Fleisch wie früher an der wohlbekannten Stelle zu erhaschen. Die Wolken des Himmels und die nun wieder in die Heimat zurückgekehrten Schwalben zogen über die alten, ihrer Dächer beraubten Häuser hin, und die Vögel suchten vergeblich nach dem vorspringenden First, nach dem Tür- oder Fensterbalken, der ihnen noch im vorigen Frühling Schutz für die Anlage ihres Nestes gewährt hatte. Auch dieses Nest selber, das kunstvoll aus Lehm gefügte, war verschwunden. Nichts als klaffende Wunden und aufgerissene Leiber, so weit das Auge sah!

Und dazwischen standen die großen, altertümlichen Gebäude, die im Interesse der Kunst und der Geschichte erhalten werden mußten, an die sich die Zerstörungssucht einer neuen Zeit so leicht nicht heranwagte. Neue und überraschende Ausblicke, seltsame und ungeahnte architektonische Bilder entstanden hier plötzlich als Folgen des Abbruches, dem ein ganzes Stadtviertel in wenigen Wochen zum Opfer fiel. Die viele Jahrhunderte alte Kathedrale nahm sich mit einem Male ganz anders, so seltsam und fremd aus, nachdem die alten Hütten der Gäßchen und die Buden der Fleischer, Fischer und Bäcker, die sich einst wie Schwalbennester an ihren Riesenleib geschmiegt hatten, gefallen waren, nachdem man die hohe Mauer niedergelegt, die sie in Jahrhunderten und Jahrhunderten von der profanen Außenwelt getrennt. Lächerlich machte sich das Rathaus, in dessen Sitzungssaale man den folgenschweren Entschluß gefaßt hatte, inmitten des Trümmerfeldes, und nun genähert durchaus modernen Bauten, die zu seinem Stile nicht passen wollten. Der Vereinigung für vaterstädtische Kunst und Geschichte zuliebe hatte sich Oberbürgermeister von Klopp dazu entschlossen, eine Kommission zu ernennen, die zu bestimmen hatte, was eventuell von den Häusern der alten, dem Untergang geweihten Gassen aus geschichtlichen und künstlerischen Gründen erhalten bleiben sollte. Dies und das wurde so gerettet. Und nun nahm sich das »Gerettete« in seiner trostlosen Umgebung traurig aus. Man hegte die Hoffnung, daß das besser werde, wenn die neue Verkehrsstraße von Ost nach West erst fertig sei, wenn dem altertümlichen Stile angepaßte neue Häuser an die Stelle der nun gerissenen Lücken und Ruinen träten. Aber schon heute sah man ein, daß Jahre und Jahrzehnte vergehen mußten, ehe an eine Vollendung des Ausbaues der neuen breiten Straße gedacht werden konnte, und daß das Alte, was man erhalten hatte, für immer durch die Vernichtung seiner notwendigen Umgebung gleichfalls zerstört sei, weil es eben in die engen und winkligen Gassen des Mittelalters und nicht in die modernen Straßen der Neuzeit von vornherein hineingedacht war. Man war sich klar darüber, das, was man erhielt, was übrig blieb von der durch die Geschichte eines Jahrtausends geweihten Stadt, würde sich ausnehmen wie ein paar alte vergilbte Kupferstiche in einer modernen Gemäldesammlung, wie ein paar zierliche und echte Rokokofigürchen aus Porzellan, die sich zufällig in die Dampfküche eines Massenrestaurants der Großstadt verirrt haben.

An den seltsamsten Überraschungen für das Auge des Schauenden fehlte es nicht. Jeden Tag gab es hier etwas Neues, und nur selten etwas Erfreuliches. Die alten rings um die Kathedrale liegenden Häuser, die zunächst dem Lose der Vernichtung anheimgefallen waren, hatten mancherlei verdeckt und mancherlei verborgen gehalten, was nun in dem hellen Lichte des Tages schön oder häßlich vor aller Augen dalag. Der merkwürdig geschnitzte Holzbalkon eines uralten Hauses, den man früher niemals bemerkt hatte, kam nun zum Vorschein, und er allein hielt eine ganze Vorlesung über Kunst und Kunstgeschichte, von der der Oberbürgermeister und sein Magistrat keine Ahnung gehabt. Das Leben, wie es sich in vergangenen Jahrhunderten in diesem ältesten Teile der Stadt abgespielt, wurde auf diesem Trümmerfelde durch solche Entblößung plötzlich vor seinem endgültigen Verlöschen noch einmal lebendig, wenn der bleiche Vollmond des Nachts auf diese phantastischen Ruinen schien und ein Freund der Geschichte sehenden Auges diese Wüstenei der sinnlosen und willkürlichen Zerstörung durchschritt.

Und einer, der dies fast täglich tat, war Dr. Jost, hinter dem man alles andere, als einen Schwärmer und Phantasten gesucht hatte. Blutenden Herzens machte sich dieser seltsame Mann daran, festzuhalten, was von der für immer verschwindenden Schönheit und Würde einer Stadt, die einem Jahrtausend siegreich getrotzt hatte, nun noch festzuhalten war. Er machte sich Skizzen und Zeichnungen, Notizen und Pläne, denn er hatte den Wunsch, das Verschwindende wenigstens in Wort und Bild, später einmal, wenn es ihm seine Zeit erlauben würde, wiederzugeben und so das dem Tode Geweihte den nachgeborenen Geschlechtern zu vermitteln. Mit seinem Kodak konnte man ihn das Trümmerfeld an jedem hellen Tage durchschreiten sehen. Hier war es ein Höfchen, das er auf die Platte bannte, dort ein Brunnen, der nur dann seinen Eindruck machte, wenn die umliegenden Giebelhäuser, an die man in wenigen Tagen die Hacke legen würde, ihn noch umgaben.

Die Photographien, die er hier aufnahm, die Skizzen und Zeichnungen, die er sich anfertigte, sollten dereinst das Material für sein Buch »Die Vernichtung einer alten Stadt« hergeben, das nicht nur ein wertvolles historisches Dokument, sondern auch eine politische Anklageschrift gegen den Oberbürgermeister und dessen System werden sollte.

Die Arbeiter waren an die täglichen Besuche des stadtbekannten Dr. Jost gewöhnt. Sie machten ihn auf mancherlei aufmerksam, sie gaben ihm wichtige Fingerzeige und Winke, wo sie eine ihn sicher interessierende Schnitzerei, ein altes Getäfel, einen seltsamen in ein Haus eingebauten Kamin, eine gewundene Säule, einen kunstvoll behauenen Brunnentrog oder sonst dergleichen gesehen hatten.

Auf diese Weise machte Jost seine Entdeckungen. Er fand Dinge, von deren Vorhandensein die Leiter der städtischen Schicksale überhaupt keine Ahnung gehabt hatten. Er photographierte und photographierte, sammelte und sammelte und war unermüdlich auf dem Platze, sobald er nur einen freien Moment erhaschen konnte, um sein Material so vollständig wie möglich zu machen. Und eines Tages kam Dr. Jost nicht mehr. In der Stadt verbreitete sich das Gerücht, daß er schwer erkrankt sei, daß er im Sterben liege. Das »Echo« brachte eine beruhigende Notiz. Dr. Jost habe sich im Frühjahr eine Erkältung zugezogen, als er des Nachts erhitzt im scharfen Märzwinde eine politische Versammlung verlassen habe. Die Folgen dieser Erkältung seien jetzt erst zutage getreten. Er müsse sich für einige Zeit von aller Arbeit fern halten und das Zimmer hüten. So stand in der Zeitung.

Die Wahrheit lag in der Mitte. Jost hatte eine schwache Brust. Seit Jahren kämpfte er mit einem Leiden, dem der arbeitsame und pekuniär schlecht gestellte Mann wenig Beachtung geschenkt hatte, und vor wenigen Tagen war es zum Schrecken seiner zahlreichen Kinder und seiner kleinen Frau zu einer Katastrophe gekommen. Ein ihn bis ins Mark erschütternder Hustenanfall, dem ein reichlicher Bluterguß aus dem Halse gefolgt war, hatte plötzlich dem Arzte und den Seinen den ernsten Charakter seiner schleichenden Krankheit offenbart. Zwar fühlte er sich jetzt wieder wohler, zwar scherzte er in seiner der Familie gegenüber immer so liebevollen Art und Weise die Bedenken und die Angst seiner kleinen Frau hinweg. Aber dies gelang ihm doch nur in beschränktem Maße, denn der vorsichtige Arzt hatte der Frau gegenüber mit seiner Ansicht nicht hinter dem Berge gehalten, und war der Meinung gewesen, daß sich der Patient entschieden ein paar Wochen vollständiger Ruhe und Schonung gönnen und am besten in reiner Höhenluft in einem Sanatorium für Lungenkranke Aufenthalt nehmen sollte, damit die beginnende Krankheit gleich im Keime erstickt werde.

Dr. Jost wollte von einer derartigen Reise nichts hören. Die paar hundert Mark Ersparnisse, die er in seinem arbeitsreichen und an Einnahmen kargen Leben erübrigt hatte, sollten für den äußersten Fall seiner Frau und seinen noch unmündigen Kindern erhalten bleiben. Frau Jost war der Verzweiflung nahe. Alles Zureden half nichts. Ihr Mann beharrte auf seinem Standpunkte, daß er weder Zeit noch Mittel habe, einen kostspieligen Badeaufenthalt, wie er sich ausdrückte, an sich zu wenden.

Die kleine, aber resolute Frau, die es verstand, den Kopf stets oben zu behalten, die dem vermögenslosen Doktor eine ganze Schar munterer Kinder geschenkt hatte, sah trotz allem aus wie ein dreizehnjähriges Mädchen. Dr. Jost überragte sie dreimal um Haupteslänge, und wenn man die beiden von weitem nebeneinander sah, war man der Meinung, der Doktor ginge mit einem halbwüchsigen Kinde spazieren.

Aber dieselbe Energie, die Frau Jost auf rein körperlichem Gebiete gezeigt hatte, war ihr auch sonst zu eigen, und sie sann und sann, wie sie diesen Aufenthalt ihres Mannes in dem Sanatorium, von dem sie sich Heilung und Rettung versprach, trotz allem durchsetzen, könne.

Nach langem Suchen glaubte sie endlich ein Mittel gefunden zu haben. Vor Monaten hatte sie durch einen Zufall die Bekanntschaft von Frau Agathe Baumann gemacht. Sie wußte zwar, daß ihr Mann politisch ein eifriger Gegner des vor nicht allzulanger Zeit in die Stadtverordnetenversammlung gewählten großen Geschäftsmannes war, aber Frau Agathe hatte ihr einen derartig sympathischen Eindruck gemacht, daß sie sich trotzdem dazu entschloß, dieser Frau ihr Herz auszuschütten.

Zu Weihnachten war es gewesen. Bei einer Bescherung für arme Kinder hatte sie diese merkwürdige Frau gesehen, von der man sich in der Stadt die seltsamsten Dinge erzählte. Seit jener Aussprache zwischen Agathe und ihrem Manne hatte sich diese wieder dem öffentlichen Leben zugewandt. Und Frau Agathes Wohltätigkeit war in wenigen Jahren geradezu sprichwörtlich geworden. Paul hatte sie gewähren lassen. Es beglückte ihn, daß sie wieder Interesse am Leben und an ihrer Umgebung zeigte, und die großen Pläne, die seinen eigenen Kopf unausgesetzt beschäftigten, ließen ihm weder Zeit noch Ruhe, sich um Agathes Tätigkeit des weiteren zu bekümmern. Und von Jahr zu Jahr hatte diese Frau, die sich einbildete, das Verbrechen eines Wunsches sühnen zu müssen, mehr und mehr der Arbeit im Dienste der Armen und Bedrückten auf ihre Schultern geladen. Auch die Kinder hielt sie schon in jungen Jahren dazu an, die von ihr geübte Erziehung zur Güte durch die Tat zu bekräftigen und ihr bei ihren humanen Bestrebungen an die Hand zu gehen.

Die Weihnachtsbescherung, bei der Frau Jost Agathes Bekanntschaft gemacht hatte und zu der auch sie ihr bescheidenes Scherflein beigetragen, war das eigenste Werk von Pauls Frau gewesen. Die Kinder der Ärmsten unter den Armen hatte sie sich ausersehen, denn Agathes feiner Instinkt ließ sie jede offizielle Wohltätigkeit, die von bestimmten staatlichen und kirchlichen Autoritäten begünstigt wurde, geflissentlich meiden. So war es auch gekommen, daß sich Frau Agathe selber, ohne den politischen Differenzen, die ihr Mann schon mit Jost gehabt hatte, irgendwelche Bedeutung für ihre Angelegenheiten beizumessen, an Frau Dr. Jost mit der Bitte um tätige Mithilfe bei ihrer Weihnachtsbescherung gewandt hatte. Mit der Verwaltung des Gefängnisses hatte sie sich in Verbindung gesetzt und sich derjenigen Kinder angenommen, deren Vater oder Mutter das Fest der Liebe hinter den Eisenstäben vergitterter Fenster verbringen mußten. Und Frau Jost hatte ihr zur Auffindung dieser Ärmsten unter den Armen sehr nützliche Dienste geleistet, weil ihr Mann in seiner Eigenschaft als Herausgeber des »Echo« viel mit den Proletarierkreisen der großen Stadt in Berührung kam. In ihrem alten Hause am Ritterwall hatte sie dann den armen Kindern den Weihnachtstisch gedeckt. Damals war auch Frau Jost in dem alten und gemütlichen Bürgerhause gewesen und hatte ihre helle Freude, aber auch ein maßloses Erstaunen darüber empfunden, wie sich Frau Agathes eigene Kinder in den Dienst dieser Armen zu stellen verstanden.

Die edle blonde Frau, die sie damals kennen und schätzen gelernt, die ihr der Inbegriff von Liebe und Güte gewesen, wollte ihr auch in diesen Tagen nicht aus dem Sinn, als sie auf Mittel und Wege dachte, die von dem Arzte vorgeschlagene und als unumgänglich notwendig hingestellte Kur ihres Mannes in einem Sanatorium trotz allem möglich zu machen. Frau Agathe war reich. So hieß es allgemein in der Stadt. Ihr Mann hatte durch die glückliche Hand, die er in allen seinen Geschäften hatte, das Lenzsche Vermögen in wenigen Jahren verdrei-, vielleicht verfünffacht. Tausende gab Frau Agathe in jedem neuen Jahre, ohne daß ihr ihr Mann auch nur ein Sterbenswörtchen hineinredete, für wohltätige Zwecke aus. Sie würde ihre Not verstehen, ihr würde sie ihr Leid klagen, für das eine Frau so unendlich viel mehr Mitempfinden hatte, als die Männer, die immer nur hohe Worte von Ehre, Überzeugung und sonstigen schönen Dingen im Munde führten!

Freilich, freilich! Das Verhältnis, in dem Frau Agathes Mann und der ihre zueinander standen, erschwerte es der kleinen Frau, die aus Liebe zu Jost zu jedem Opfer entschlossen war, der großen, stadtbekannten Wohltäterin gerade mit diesem Anliegen gegenüberzutreten. Auch Frau Agathe hatte sicher die Zeitungen gelesen, auch ihr war es nicht verborgen geblieben, welche Meinung Dr. Jost von Paul Baumann, dem Führer der Demokraten, hatte, und wenn Agathe Paul liebte wie sie Jost, dann war es doch mehr als fraglich, ob sie einem Manne helfend zur Seite trat, der den ihren mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfte.

Aber Frau Jost sah keinen Ausweg. Nur so war es zu machen. Sie hatte ja auch noch andere Bekannte in der Stadt. Sie ließ sie alle an ihrem geistigen Auge vorüberziehen. Aber niemand war darunter, den sie auch nur wohlhabend hätte nennen können, niemand, der dazu imstande gewesen wäre, ohne weiteres eine für ihre Begriffe große Summe zu entbehren und diese ihr, damit ihr Mann in Ruhe gesunden könne, zur Verfügung zu stellen.

Schweren Herzens entschloß sich die kleine Frau zu diesem Schritte. Und nicht einmal offen durfte sie zu Werke gehen. Jost, der sein Leben lang von den Erträgnissen seiner Feder schlecht und recht gelebt, der noch immer seine Schulden, wenn sich solche einstellten, bei Heller und Pfennig bezahlt, der würde für eine Badereise, wie er sich ausdrückte, kein fremdes Geld annehmen, am allerwenigsten aber von der Frau Paul Baumanns, als dessen wandelnder Gewissensrichter er schon mehr als einmal aufgetreten war.

Um ihn zu retten, mußte sie also zu der Lüge ihre Zuflucht nehmen, mußte ihm sagen, daß sie in Jahren von ihren kärglichen Haushaltungsgroschen ein Weniges erübrigt habe, mußte ihm dieses wenige aufnötigen und ihn so dazu bringen, der Verordnung des Arztes nachzugeben und sich zum Zwecke seiner Heilung in das in Vorschlag gebrachte Sanatorium zu verfügen.

Zagenden Herzens trat Frau Jost ihren schweren Weg in das alte Haus am Ritterwall an. Noch stand dieses Haus, das Paul unter Agathes Zustimmung der Stadt zum Geschenk gemacht, still und friedlich an seinem wohligen Platze und ließ sich sein altersgraues Gemäuer von den Strahlen der von Tag zu Tag heißer brennenden Frühlingssonne vergolden. Aber auch seine Tage waren gezählt. Der Durchbruch des Walles nach dem Westen und der Fall des Lenzschen Anwesens würden die Krönung des Vernichtungswerkes werden, mit dem man in diesen Wochen begonnen.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, das Frau Jost beherrschte, als sie nun, eine Bittende, vor der alten aus Eichenholz geschnitzten Tür dieses ehrwürdigen Hauses Halt machte. Sie wußte, daß Baumann bereits mit dem Prachtbau aus weißem Sandstein und kühnen Eisenkonstruktionen nächst der großen Hauptverkehrsader begonnen hatte, der die Rolle dieses Hauses übernehmen werde. Und wie Wehmut kam es über die kleine Frau. Auch draußen in der Zeisigstraße, wo sie mit Mann und Kindern einen bescheidenen Unterschlupf gefunden, wurde schon lange an dem Neubau der Baumannschen Brotfabrik gearbeitet. Von der Tatsache, daß die Firma Kahl und Ulrich ihre Häuser, in deren einem die Josts wohnten, an den Besitzer der Fabrik verkauft hatte, war aber Frau Jost noch nichts bekannt geworden. Paul hielt diesen Kauf aus diplomatischen Gründen zunächst geheim. Er wollte bei Besprechung seines großen Westprojektes seine Uneigennützigkeit an diesem Falle beweisen. Die Firma Kahl und Ulrich verwaltete nach wie vor die Häuser in der Zeisigstraße, und nicht einmal den Einwohnern dieser Häuser war es mitgeteilt worden, daß diese in anderen Besitz übergegangen. Denn außer der Überraschung, die Paul mit seiner leidenschaftlichen Verteidigung des Westprojektes, entgegen seiner handgreiflichsten Vorteile, der Öffentlichkeit bereiten wollte, hatte er für die Geheimhaltung seines Kaufes noch einen schwerwiegenden Grund. Jost wollte er in seinen Händen halten.

Und zu der Frau dieses alles berechnenden und schlauen Spekulanten begab sich nun Frau Jost, ohne daß die beiden Frauen von diesen Tatsachen auch nur eine Ahnung gehabt hätten, um eine Summe Geldes für die Herstellung der Gesundheit des Mannes zu bitten, dessen Vernichtung der andere schon in seinem Inneren beschlossen.

Vor dem alten Hause am Ritterwall fiel Frau Jost mancherlei ein, was sie von ihrem Manne gehört hatte. Sie war eben nicht nur dessen Hausfrau und die Mutter seiner Kinder, nein, sie nahm auch teil an seinem geistigen Schaffen und seinem inneren Leben, und manche seiner sozialistischen Theorien wollten ihr nicht in den Kopf. Freilich, so radikal und umstürzlerisch, wie die Gegner den Herausgeber des »Echo« gerne vor der Welt hinstellten, um dem stillen und friedliebenden Bürger ein Grauen vor ihm einzuflößen, war Jost nicht. Mancherlei hatte seine Frau aus seinem Munde vernommen, was sie mit den Anschauungen ihres Mannes aussöhnen mußte, und mancherlei davon ging ihr beim Anblick dieses ehrwürdigen Hauses durch den Kopf.

Das alte Haus am Ritterwall redete heute eine ganz eigentümliche Sprache. Es verkündete die Anschauungen längst vergangener, in ihrer Lebensführung patriarchalischer Jahrzehnte, in denen man von dem erbitterten Kampfe zwischen Kapital und Arbeitskraft, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der heute die Menschen zur Entfachung des blindwütigsten Hasses anspornte, noch gar keine rechte Vorstellung gehabt. In diesem erbitterten Kampfe stand ihr armer, nun so kranker Mann, und dieser Kampf hatte ihn vor der Zeit beinahe aufgerieben. Und nun überkam Frau Jost im Anblick dieses altehrwürdigen Hauses, das so gar keine Ähnlichkeit mit den Mietskasernen und den Proletarierwohnungen der erbarmungslosen Großstadt hatte, ein Gefühl der Geborgenheit und des tiefen Friedens, wie sie es nur selten in all den Jahren ihrer an Entbehrungen und Sorgen so reichen Ehe gekannt hatte. Dies alte und behäbige Bürgerhaus, an dessen Erweiterungen Generationen gebaut hatten, erschien ihr wie der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht, wie der starre und feste Fels, den die Wogen des Meeres umbranden und den sie doch nimmer hinwegreißen können. Und bitter schmerzlich fiel es ihr da plötzlich ein, daß auch dieses Haus fallen und verschwinden sollte, wie alles, was aus den freundlichen Tagen bürgerlichen Wohlstandes auf der einen und bescheidener Genügsamkeit auf der anderen Seite übrig geblieben war. An ihren kranken Mann, dem sie helfen wollte, dachte sie in diesem Augenblicke, und so mancherlei, was der ihr in stillen Stunden des Zusammenseins gesagt, fiel ihr da plötzlich und seltsamer Weise gerade hier an dieser Stelle ein. Daß man die Vergangenheit schlechterdings mit der Gegenwart, die die Ausnützung der Elektrizitäts- und Dampfkraft geschaffen, die den Arbeiter zu einer Maschine herabgedrückt, die die Arbeit des kleinen Handwerkers auf Kosten des Großindustriellen untergrabe, nicht vergleichen könne und dürfe, das hatte Jost immer und immer wieder gepredigt. Das alte Bürgerhaus des Meisters, in dem viele Verdienst und Arbeit, sowie Möglichkeit zur Weiterentwicklung gefunden, sei im Verschwinden begriffen, so hatte Jost immer behauptet, seitdem die Maschine auf allen Gebieten die Möglichkeit geschaffen, jeden Betrieb, wenn es das Glück wollte, ins Ungemessene auszudehnen und die Löhne der Arbeiter, die sich aus allen Himmelsrichtungen zu Hunderten herandrängten, auf ein Minimum herabzudrücken. An den Besitzer dieses alten Hauses, das auch im Laufe eines knappen Jahrzehntes zu der Zentrale einer gewaltigen Fabrik geworden, an Paul Baumann, den politischen Gegner ihres Mannes, und an dessen gewaltigen Aufstieg, den sie, wie so viele andere, staunend verfolgt hatte, dachte nun Frau Jost.

Als mittelloser und auf dem Gymnasium untauglicher Sohn eines längst verstorbenen Gymnasialprofessors war er in die damals noch immer im Vergleich zu heute in bescheidenen Anfängen steckende Lenzsche Konditorei eingetreten. Er hatte das Glück gehabt, daß der einzige Sohn gerade in dem Momente, da er das väterliche Geschäft hätte übernehmen sollen, starb, und hatte Gnade vor den Augen der übrigbleibenden Tochter gefunden. Und dann war es aufwärts gegangen, immer aufwärts von Jahr zu Jahr, während andere bei dem unter schweren Kämpfen Errungenen stehen bleiben mußten und sich in harter, täglicher Arbeit im Dienste ihrer Familie zerrieben. Mit der Anlage der Filialen und der Gründung der Brotfabrik, deren Schornsteine ihre ärmliche Wohnung in der Zeisigstraße seit Jahren verpesteten, deren Rauch die Lungen ihres armen Mannes angriff, hatte es seinen Anfang genommen, dann war das Café Archiv eine wahre Goldgrube für den vom Glücke ewig Verhätschelten geworden. Nun saß er als Führer der Demokraten in der Stadtverordnetenversammlung, und bei Pauls verhältnismäßig noch jugendlichem Alter war gar nicht abzusehen, was alles noch kommen konnte, wenn, wie ihr Mann behauptete, das Gelände der Fabrik im Osten durch die von dem Oberbürgermeister an dieser Stelle geplante Anlage des neuen Bahnhofes in wenigen Wochen seinen Wert verzehnfacht hatte. Auch hier in diesem alten Hause, dessen Anblick ihr so was wie Frieden gab, hatte sich der Flügelschlag einer neuen und rücksichtslosen Zeit fühlbar gemacht. Schon baute man in nächster Nähe des Hauptverkehrs für den Besitzer dieses Hauses einen neuen Geschäftspalast, schon stiegen aus der Brandstätte in der Zeisigstraße, wo sie sich um ihre Kinder und um das bißchen armselige Hab und Gut in bangen Stunden der Gefahr gegrämt und geängstigt, neue Schuppen aus Glas und Eisen, neue Schlote in die Höhe, wachsend und wachsend, wie die Köpfe der Hydra, die kein Schlag zu vernichten imstande ist.

Arm und reich! Noch nie in ihrem Leben glaubte Frau Jost diesen furchtbarsten der Gegensätze, der allein das vielverschlungene Räderwerk dieser Welt in Bewegung zu halten schien, so bitter empfunden zu haben, als in dieser Stunde, vor diesem Hause, da sie, die sich noch niemals um Hilfe an einen Fremden gewandt, fest entschlossen war, Frau Agathe um ein Darlehen zu bitten, das ihrem Manne Leben und Gesundheit und ihren unmündigen Kindern den Vater und Ernährer zu erhalten bestimmt war.

Und in diesem felsenfesten Entschlusse, der alle Scham und alle Bedenken, ja sogar die Angst vor Jost, wenn diesem davon etwas bekannt werden sollte, in ihrem Inneren niederzwang, setzte sie den altmodischen Klöppel, der hier noch als Klingel diente, an der schweren, geschnitzten Eichentür m Bewegung. Dumpf dröhnte es durch das altertümliche Haus. Wie eine Mahnung, wie das Pochen des Gewissens wollte es Frau Jost erscheinen.

Eine Minute stand sie zagend vor der Tür. Am liebsten hätte sie sich wieder aus dem Staube gemacht, denn nun, nachdem es geschehen, befiel sie plötzlich eine namenlose Angst, daß ihr Frau Agathe, die doch so vielen geholfen, ihre bescheidene Bitte abschlagen könne. Doch da öffnete schon ein Mädchen und fragte nach ihrem Begehr. Ob sie Frau Baumann in einer wichtigen persönlichen Angelegenheit sprechen könne, gab sie dem Mädchen zur Antwort und reichte diesem ihre Visitenkarte, die sie schon die ganze Zeit in den Händen bereit gehalten hatte. Die Magd bat sie, heraufzukommen, führte sie in das altertümliche Empfangszimmer und ging, Frau Agathe den Besuch zu melden. Jetzt zitterte sie in der Tat. Noch niemals in ihrem Leben hatte die kleine Frau gebettelt. So schwer es manchmal für sie und Jost gewesen war, noch niemals! Nun war es so weit! Nun zwang sie die Liebe zu ihrem Manne dazu, dessen Gesundheit nach der Meinung der Ärzte von einer kostspieligen Kur in einem Sanatorium abhängig sein sollte.

Sie mußte sich halten, sich auf einen der altväterischen Sessel, der nach Kampfer duftete, setzen, sie wäre sonst hingesunken oder in brennender Scham, die schon jetzt siedend heiß in ihr Gesicht stieg, unverrichteter Sache wieder davongelaufen.

Da trat Agathe ein.

»Ei, Frau Dr. Jost«, vernahm sie da deren sanfte und freundliche Stimme, »das ist aber nett von Ihnen, daß Sie sich auch wieder einmal meiner erinnern. Seit Weihnachten, glaube ich, habe ich Sie nicht wieder gesehen, und Sie sind doch damals so lieb mit meinen armen Schutzbefohlenen gewesen.«

Mit diesen Worten reichte Agathe ihrem Besuche beide Hände, und fast schien es, als ob sie die kleine Frau sogleich in ihre Arme schließen wollte. Frau Jost hatte sich erhoben.

Es war ein seltsamer Gegensatz, diese beiden Frauen, die sich nun hier in dem altmodischen Zimmer, das einer vergangenen Epoche anzugehören schien, einander gegenüberstanden. Die hochgewachsene und üppige, nach ihrer Aussöhnung mit Paul in Glück erstrahlende und wieder blühende Blondine, und das schmächtige, nichtssagende Frauchen des armen Redakteurs, das eine Gestalt wie ein dreizehnjähriges, kleines Mädchen hatte.

»Behalten Sie doch Platz, Frau Doktor«, fuhr nun Agathe fort und zwang die Kleine mit sanftem Drucke zu sich nieder auf das Sofa. »Was haben Sie mir zu erzählen? Oder –?«

Fragend waren Agathes sanfte blaue Augen auf das abgehärmte Gesicht Frau Josts gerichtet. »Oder«, fuhr sie nun gleich fort, »wenn ich Ihnen in irgendeiner Sache behilflich sein kann, dann rücken Sie mit der Sprache heraus, Frau Doktor! Wir Frauen, sollt' ich meinen, sind doch alle Leidensschwestern, namentlich die, die alle in der gleichen Schwachheit unter Schmerzen den Kindern das Leben geschenkt haben.«

»Meiner Kinder wegen bin ich auch in erster Linie hier«, stammelte nun Frau Jost.

»Sehen Sie, daß ich das Richtige getroffen habe«, meinte nun Agathe sichtlich erfreut. »Nicht nur wenn sie kommen, auch wenn sie da sind, bleiben sie die Schmerzen der Mutter. Nun, Frau Doktor?«

»Sie sind so gütig, gnädige Frau«, begann nun Frau Jost aufs neue, »daß Sie meinen Kleinmut beschämen, ja daß Sie es mir leicht machen, Ihnen mein Herz auszuschütten. Mit einem Wort: Mein Mann ist krank, sehr krank, Frau Baumann. Er selber weiß gar nicht, wie krank er ist. Wir haben niemanden hier in der Stadt, an den ich mich wenden könnte, und er hat sein Lebtag um kargen Lohn und ohne Selbstsucht gearbeitet, Frau Baumann, um Frau und Kinder ehrlich durchzubringen und um anderen, die noch schlimmer als wir selber dran sind, zu helfen.«

»Ohne Selbstsucht und um anderen zu helfen.«

Wie im Traume wiederholte Agathe diese Worte, die sie ganz seltsam zu ergreifen schienen, und dann sagte sie: »Ich glaube Ihnen das Wort für Wort, Frau Doktor, ohne Selbstsucht und um anderen zu helfen. Anders habe ich mir einen Dr. Jost niemals vorgestellt.«

»Ich danke Ihnen für diesen Glauben, der mich glücklich macht«, sagte nun die kleine Frau strahlenden Auges. Mit einem Male war ihr Agathe gegenüber so leicht zumute, die ein Verständnis, dessen Vorhandensein sie noch vor wenigen Minuten bei keinem Menschen vorausgesetzt hätte, für sie und die Mission ihres Mannes zu haben schien.

Agathe bemerkte das wohl.

»Sie sind erstaunt, Frau Doktor«, lautete daher ihre rasch gegebene Antwort. »Es ist kein Geheimnis, und es soll kein Geheimnis sein, was ich Ihnen jetzt sage. Auch mein Mann und ich haben den, wie ich glaube, für uns segensreichen Entschluß gefaßt, selbstlos und im Dienste der Allgemeinheit zu wirken. Meines Mannes Schenkung an die Stadt, zu der ich ihm meine Zustimmung gab, obwohl sie mich mein Vaterhaus kostet, war der erste Schritt auf diesem Wege.«

Frau Jost glaubte ihren Ohren nicht trauen zu dürfen.

Selbstlos im Dienste der Allgemeinheit! Paul Baumann, der Führer der Demokraten, der nach Josts Meinung nichts anderes als ein rücksichtsloser Spekulant sein konnte!

Aber in diesem Momente war sie als Frau klug genug, Agathe gegenüber dieses ihr Erstaunen nicht merken zu lassen. Sie lieh dieser das Ohr, die nun harmlos aus den tiefsten Falten ihres Herzens zu plaudern begann:

»Ich weiß es wirklich nicht, woher es kam, Frau Doktor, aber ich habe gleich bei unserer ersten Bekanntschaft, ich möchte sagen, ein grenzenloses Vertrauen zu Ihnen gefaßt. Als Sie sich damals in den Dienst der von mir zu Weihnachten beschenkten armen Kinder stellten und als ich Sie da beobachtete, da sagte ich mir, das ist eine Frau, der du dich vertrauen könntest, die die Wege, welche du gehen willst, verstehen wird. Sie sprachen von Ihren Kindern, Frau Doktor, darf ich Ihnen von den meinen reden? Sie sind ja noch klein. Mein Ältester, Robert, wird vierzehn und das Jüngste ist fünf. Aber ich glaube, trotz ihrer Jugend hat bereits eine Weltanschauung in ihrem Inneren Platz gegriffen, die dem modernen Geiste geradezu zuwider läuft. Ich will meine Kinder zur Güte erziehen, Frau Doktor! Sie sollen einsehen lernen, daß es auf der Welt noch etwas Edleres gibt, als seinem eigenen Vorteile und nichts anderem nachzulaufen. Und nicht lange ist es her, da hat mein Mann mich versichert, daß er von nun ab seine besten Kräfte in den Dienst der anderen zu stellen entschlossen ist. Doch Sie sprachen von der Krankheit in Ihrem Hause? Was fehlt Ihrem Herrn Gemahl?«

»Schon seit langem quält ihn ein schwerer Husten und vor kurzem hat mir ein Blutsturz gezeigt, wie ernster Natur sein Leiden ist, Frau Baumann«, erwiderte Frau Jost. »Der Arzt ist der Ansicht, daß nur eine Kur in einem Sanatorium Besserung und vielleicht Heilung schaffen kann. Viel hat mein armer Mann nie erübrigen können, ich habe ihn angefleht, seine Ersparnisse für die Herstellung seiner Gesundheit zu verwenden. Aber er ist anderer Ansicht, er meint, dieser Notpfennig müsse für den äußersten Fall den Kindern und mir erhalten bleiben. Was soll ich tun, Frau Baumann? Eigenes habe ich nicht. Aber ich könnte ihm vorreden, daß ich von meinem Haushaltungsgelde in Jahren ein paar Hundert zurückgelegt habe. Das würde er mir vielleicht glauben, dann würde er sich am Ende dazu entschließen, das Sanatorium aufzusuchen, und könnte dann gerettet werden. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen! Verzeihen Sie mir! Sagen Sie mir, wie da zu helfen ist, wie ich den Kindern ihren Vater erhalten kann?«

Agathe standen die Tränen in den Augen.

»Und hat Ihnen der Arzt bestimmte Angaben über die Dauer und die Kosten dieser Kur gemacht, Frau Doktor?« fragte sie nun.

Die kleine Frau zog einen Prospekt aus der Tasche und reichte diesen Agathe.

»Ich habe mich auf Anraten des Arztes an die Direktion eines Sanatoriums gewandt, das er mir empfohlen hat. Sechs Wochen meinte er, würden zunächst genügen«, erläuterte sie, »hier in diesem Prospekte ist alles genau angegeben. Für sechs Wochen und für die Reise wären etwa fünfhundert Mark erforderlich. Ich will keine Versprechungen machen, Frau Baumann, die ich am Ende nicht halten kann! Aber meine älteste Tochter verdient schon etwas als Verkäuferin in einem Laden, und auch ich würde das möglichste tun, um die Schuld, vielleicht auch erst im Laufe von ein oder zwei Jahren, durch verdoppelte Sparsamkeit wieder abzutragen, wenn Sie mir die Hand reichen wollten.«

»Aber, das ist doch selbstverständlich, liebe Frau Doktor«, nahm nun Agathe wieder das Wort. »Wegen der Rückzahlung machen Sie sich um Gotteswillen keine unnötigen Sorgen. Und legen Sie weder sich noch Ihren Kindern nur ja nicht darum Entbehrungen auf! Ich würde das nicht ertragen können, wenn ich dächte, daß Sie oder eines der Ihren darbte, um mir das Geld zurückzuzahlen. Wenn ich nicht bestimmt wüßte, daß Sie das Geld als Geschenk nicht annehmen, dann bestände ich sogar darauf, daß von einer Rückzahlung gar nicht die Rede sein sollte.«

»Und Ihr Herr Gemahl, Herr Baumann, was wird der dazu sagen«, wandte nun die kleine Frau schüchtern ein.

»Wenn er es wüßte, meine liebe Frau Doktor«, erwiderte Agathe, »dann würde er, wie ich ihn kenne, mein Vorgehen jedenfalls gutheißen. Aber gerade in diesem besonderen Falle halte ich es für das Beste, daß er ebensowenig wie Herr Dr. Jost etwas davon erfährt. In Geldsachen sind doch die Männer so ungeheuer empfindlich, und der Umstand, daß die beiden politische Gegner sind und zusammen in der Stadtverordnetenversammlung sitzen, könnte hier leicht eine Sache vereiteln, die aus Gründen der Notwendigkeit geschehen muß. Glücklicherweise, ich sage Ihnen das im Vertrauen, Frau Doktor, damit Sie sich ja keine unnötigen Sorgen machen, hat mich mein Mann in die Lage gesetzt, in dieser Beziehung ganz selbständig handeln zu können. Seitdem die von mir bewilligte Schenkung dieses Hauses an die Stadt perfekt geworden ist, verwalte ich mein Vermögen selber. Das heißt, mein Mann hat darauf bestanden, daß eine dem Werte des von mir in die Ehe Eingebrachten entsprechende Summe als mein persönliches Guthaben auf der Bank geführt wird. Mit den Zinsen dieses nicht unbeträchtlichen Kapitales bestreite ich meine Ausgaben auf dem Gebiete meiner philanthropischen Neigungen. Und auch meinem Manne ist das so am liebsten. Infolge dieses Schrittes hat er nun das ihn befreiende Gefühl, mir das, was ich einst gab, zurückerstattet zu haben, und nun völlig unabhängig mit dem von ihm selber in des Wortes wahrstem Sinne Geschaffenen zu wirtschaften. Denn, wenn man die heutigen, die durch meinen Mann herbeigeführten Verhältnisse betrachtet, dann war das Geschäft, das er beim Tode meines Vaters mit meiner Hand empfing, klein, Frau Doktor! Es war wenig mehr, als dieses Haus mit seinem Laden, auf das wir nun durch Schenkung Verzicht leisten können. Die fünfzig Filialen in der Stadt, die Brotfabrik, das Café Archiv, der bald vollendete Neubau des Geschäftshauses, das alles ist das Werk meines Mannes, und hat nun, nachdem er mir mein Guthaben bei der Bank eröffnet hat, mit dem, was ich ihm einst gab, Gott sei Dank nichts mehr zu tun!«

Erstaunt sah Frau Jost Agathe in die Augen. Und diese erschrak einen Moment! Gott sei Dank, wie seltsam das in diesem Zusammenhange klang, dieses merkwürdige Gott sei Dank!

Agathe bemerkte es wohl, daß sich Frau Jost über diese ungewöhnliche Ausdrucksweise ihre Gedanken machte und sie meinte:

»Ich habe ein rückhaltloses Vertrauen zu Ihnen, Frau Doktor, und vielleicht haben Sie schon bemerkt, daß ich eine offene Natur bin. Aber wenn Sie dieses ›Gott sei Dank‹ in diesem Zusammenhange erstaunte oder erschreckte, vergessen Sie bitte, daß es mir entschlüpft ist. Leider gibt es Dinge, über die man nicht sprechen kann oder nicht sprechen darf. Mir ist es eine Befreiung, durch meinen Mann instand gesetzt zu sein, über das Vermögen, das ich einst erbte, nach freiem Ermessen zugunsten der anderen verfügen zu können, und durch meines Mannes eigene Arbeit meine Kinder und deren Zukunft sicher gestellt zu sehen. Vielleicht, weil für mich, für meine Begriffe, eine Schuld an jenem Besitze hängt. Ich sage Ihnen auch das, damit Sie erkennen, welche Freude es mir bereiten muß, das Meine auch in Ihre Dienste stellen zu dürfen.«

»Meines Dankes brauche ich Sie nicht erst zu versichern«, erwiderte nun Frau Jost.

Und während Agathe ging, um ihr das versprochene Geld gleich zu holen, gab sich die kleine Frau ihren Betrachtungen hin, die mit einem Male ganz eigenartige Formen annahmen. Was lag hier verborgen? An welches Geheimnis hatte sie hier in dem alten Hause am Ritterwall, das für sie immer und auch heute noch der Sitz und Inbegriff zufriedenen Glückes und bürgerlicher Wohlanständigkeit war, gerührt? Von einer Schuld hatte die blonde Frau Agathe, die doch wie die Reinheit selber aussah, gesprochen, von einer Schuld, die an dem ererbten Besitze, den sie nun in den Dienst der Wohltätigkeit gestellt hatte, hängen sollte? Von einer Schuld? In welchem Sinne denn von einer Schuld?

Frau Jost grübelte nach. Und plötzlich war es ihr in dem alten und schlecht gelüfteten, in dem nach Lavendel und Kampfer duftenden Zimmer, als ob hier die Gestalten der Vergangenheit wieder auftauchten. Allein ein Bild von der Schuld, von der Agathe soeben gesprochen, konnte sie sich trotz allem nicht machen!

Aber an Peters plötzlichen Tod erinnerte sie sich in dieser Minute, die Nachricht von Konrads Ende in den Bergen wurde mit einem Male lebendig in ihrem Inneren, da sie heute zum ersten Male in diesem altertümlichen Hause weilte, in dessen Mauern sich doch in wenigen Tagen eine richtige Tragödie abgespielt hatte. Und das Bild der Ruhe, des Friedens, von dem sie vorhin beim ersten Anblick dieses reichgesegneten Bürgerhauses erfüllt gewesen, begann mählich zu verblassen, da Agathe, die blonde, schöne Frau, das Wort von einer alten Schuld, die an diesem Besitze haften sollte, auf den Lippen, im Geiste wieder vor ihr stand.

Wer war im Grunde genommen also glücklicher? Jene, die mit vollen Händen geben konnte, und die ihr gesagt hatte, daß sie gab, um eine Schuld gut zu machen, oder aber sie, die mit reinem Herzen und mit reiner Hand zu nehmen gekommen war? An Jost und an Baumann mußte sie in diesem Augenblicke denken, an diese beiden politischen Gegner, die wahrscheinlich in allem und in jedem die größten Gegensätze waren. Jost, der sich aufgerieben hatte im Dienste seiner Partei, und Paul Baumann, von dem man nach der Meinung ihres Mannes niemals wissen konnte, was er eigentlich im Schilde führte, wenn auch Frau Agathe in ihrer Güte der festen Überzeugung war, daß dieser Mann, der in kurzen Jahren Millionen verdient haben mußte, plötzlich, nur um die Menschheit zu beglücken, zur Arbeit im Dienste seiner Vaterstadt gekommen war!

Jost, der Sozialist, und Paul Baumann, den man schon heute als den eigentlichen Führer der bürgerlichen Parteien ansprechen konnte!

Leibhaftig standen die beiden Männer vor ihrem geistigen Auge, als nun Agathe wieder eintrat und ihr bescheiden und verstohlen, als wenn sie selber und nicht Frau Jost sich der Gabe zu schämen hätte, ein Kuvert in die Hand drückte.

»Ich habe mich genau an ihre Bitte gehalten, meine liebe Frau Doktor«, vernahm sie nun Agathens Stimme, »wenn dieses Geld und die sechs Wochen nicht ausreichen sollten, dann wissen Sie mich zu finden, und nun wünsche ich Ihrem lieben Manne baldige und völlige Genesung.«

Frau Jost brachte kein Wort über die Lippen. In stummem Danke drückte sie Agathes Hand.

Die meinte es ehrlich. An der war kein Falsch. Aber er, Paul Baumann! Sie hätte nicht so felsenfest, wie sie das tat, an die Sendung ihres eigenen Mannes glauben müssen, wenn sie nicht überzeugt davon gewesen wäre, daß Frau Agathes bitterste Stunden noch nicht ihren Anfang genommen hätten und daß der Führer der bürgerlichen Parteien, wie Jost an jedem neuen Tage behauptete, die Rolle des Volksbeglückers aus ganz anderen Gründen, wie seine Frau glaubte, übernommen habe.

»Arme Frau«, sagte sie vor sich hin, als sie nun trotz allem hochbeglückt wieder auf der Straße stand und dann ihrem mehr als bescheidenen Heime in der Zeisigstraße entgegenging.


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