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XII.

Ein halbes Jahr war seit Pauls Berliner Reise verstrichen. Nun stand das sogenannte Altstadtsanierungsprojekt auf der Tagesordnung der Stadtverordnetenversammlung. Die umfangreiche Magistratsvorlage, die vor ihrer Verhandlung im Plenum zunächst von einer Kommission vorberaten werden sollte, machte für die Ausführung dieses großen Projektes, das Millionen verschlingen würde, zwei Hauptgesichtspunkte geltend: den hygienischen und den verkehrstechnischen. Seit Wochen besprachen die lokalen Blätter fast ausschließlich diese Sache, und Jost legte sich in seinem »Echo« gewaltig gegen den oberbürgermeisterlichen Plan ins Zeug.

Für die Stadt war es ein Vorhaben von geradezu umwälzender Bedeutung und von unberechenbaren Folgen, das von Klopp mit Hilfe des Magistrates und der Stadtverordneten nun in Szene setzen wollte. Denn ganze Straßenzüge mußten diesem Plane zum Opfer fallen, wenn er wirklich eine praktische Bedeutung und einen Sinn haben sollte. Und die Bewohner der Altstadt machten naturgemäß zunächst den größten Lärm. Sie spalteten sich von Anfang an in zwei Parteien. Die einen, vor allem die, deren Häuser am Rande der neuen Verkehrsstraße bestehen bleiben würden, waren enthusiastische Verteidiger dieses Projektes. Sie, deren Grundstücke jetzt noch in alten Gassen und Gäßchen lagen und seit der Entwicklung, die die Stadt westwärts genommen, viel ihres Wertes eingebüßt hatten, erträumten sich nun goldene Berge. Waren Gasleitung und Kanalisation erst überall eingeführt, war die Straße, an die sie grenzten, breit und schön, dann stieg der Wert ihrer Objekte nach ihrer Meinung gleich ins Ungemessene. Und auch ein Teil derer, die ihren Grundbesitz der neuen Straße zu opfern hatten, waren Optimisten. Zu billig würden sie ihre Häuser und Höfe unter keinen Umständen hergeben, manche verwahrloste Hütte, die ihrem Besitzer bislang kaum nennenswerte Zinsen getragen, sollte nun zu einem noch vor ein paar Jahren ungeahnten Preise an die Stadt verkauft werden.

Aber es gab auch andere, Leute, die seit Jahrzehnten in ihrer alten Hütte wohnten, die ihre Häuser in der Altstadt gut und preiswert vermietet hatten, Wirte und andere Gewerbetreibende, die gerade hier glänzende Geschäfte machten, und diese waren blutige Gegner des Projektes. Sie fanden die Unterstützung eines Teiles der Intellektuellen, die aus künstlerischen und historischen Bedenken dem Plane des aus der Fremde in die Stadt gekommenen Oberbürgermeisters nicht sympathisch gegenüberstanden. Der Verein für vaterstädtische Kunst und Geschichte legte sich ins Mittel. In seinen »Mitteilungen« erschienen die ersten schweren Angriffe gegen einen Plan, der nichts mehr und nichts weniger als die Vernichtung des historischen Bildes der alten Stadt im Schilde führte. Mangel an Verständnis für die große Vergangenheit, Barbarentum auf künstlerischem und architektonischem Gebiete wurden hier von Klopp vorgeworfen, und Jost verstand es, in seinem »Echo« diese verschiedenartigen Gesichtspunkte, das Interesse des kleinen Mannes an der Erhaltung der billigen Wohnungen, Wirtshäuser und Geschäfte der Altstadt und die Schwärmerei für die Patina einer vielhundertjährigen Vergangenheit, geschickt mit modernen sozialen Forderungen zu verschmelzen. Tausende, so hieß es in Josts Artikeln, werden in wenigen Monaten, wenn der Plan des Oberbürgermeisters zur Wahrheit werden sollte, obdachlos. Ohne daß man auch nur daran denkt, den Armen billiges Quartier zu verschaffen, geht man skrupellos daran, deren Häuser und Hütten niederzureißen, und setzt sie einfach auf die Straße. Bevor wir uns dazu hergeben können, dem Herrn Oberbürgermeister und seinen Freunden auch nur unser Ohr zu leihen, soll er uns mitteilen, wo er mit den tausend und abertausend unserer Mitbürger hin will, die binnen weniger Monate durch die Niederlegung der Altstadt oder eines großen Teiles derselben ihr Heim verlieren werden.

Wie elektrische Gewitterspannung lag es in der Luft. Binnen kurzem würde die Kommission ihre Vorberatungen beendet haben und die entscheidende Verhandlung der Sache, die, wenn sie durchdrang, die Reformierung eines ganzen Stadtteiles in Szene setzte, konnte stattfinden.

In den Wirtschaften der Altstadt und in den großen Lokalen anderer Stadtteile hielt man Versammlungen für und wider. Der demokratische Verein, der den Fortschritt auf seine Fahnen geschrieben hatte, war ein Freund des oberbürgermeisterlichen Planes. Paul selber, der Vertreter und wie er sich manchmal schon nannte, der Führer der Partei, verhielt sich reserviert. Durch seine Schenkung hatte er sich ja schon damals vor seiner Wahl im Prinzip für diesen Plan ausgesprochen und nun wollte er sein Pulver nicht vor Beginn der Entscheidungsschlacht verschießen.

In dem großen Bürgersaale des Rathauses hatten sich in der sechsten Nachmittagsstunde die Stadtverordneten zu der entscheidenden Sitzung fast vollzählig versammelt. Das war seit Monaten, ja seit Jahren, nicht mehr der Fall gewesen, daß eine auf der Tagesordnung stehende Vorlage ein derartig allgemeines Interesse erregt hatte. Im Saale herrschte die berühmte Stimmung, die großen Ereignissen voranzugehen pflegt. Die Männer der Presse hatten ihre Plätze eingenommen und prüften ihre Füllfederhalter. Punkt sechs eröffnete der derzeitige Vorsitzende die Verhandlung und übertrug das Wort sofort an den Oberbürgermeister von Klopp, der sogleich in die Erörterung der einzigen heute auf die Tagesordnung gesetzten Vorlage, das Altstadtsanierungsprojekt, eintrat.

»Meine Herren«, begann der Oberbürgermeister, nachdem er die Tribüne bestiegen und die goldene Brille, wie er das immer beim Reden zu tun pflegte, abgelegt hatte. »Die Vorlage, mit der wir uns heute zu beschäftigen haben und deren Annahme durch Sie eine Lebensfrage für die Weiterentwicklung unserer Stadt bedeuten wird, ist schon des langen und breiten in der Presse erörtert worden. Über den Kostenvoranschlag gibt Ihnen die an Sie verteilte Denkschrift in allen Einzelheiten die gewünschte Auskunft. Ich kann mich also hier in meiner Rede auf die allgemeinen Punkte beschränken, die für die gesunde Fortentwicklung der Stadt die Annahme dieser Vorlage zu einer Notwendigkeit, ja ich darf wohl sagen, zu einer Existenzfrage, machen.«

Einige Sekunden hielt von Klopp inne. Er war ein gewandter Redner, und wie alle, die sich dessen bewußt sind, überzeugte er sich, welchen Eindruck seine ersten Worte bei seinen Zuhörern hervorgerufen hatten.

Im Saal war es still. Die Federn der Journalisten fuhren kritzelnd über das Papier. Nur hie und da vernahm man ein leises Räuspern oder ein unterdrücktes Husten. Klopps Blick traf den auf der linken Seite des Saales im Kreise seiner sozialistischen Freunde ruhig dasitzenden Jost. Es schien, als ob dieser mit seinen Gedanken gar nicht bei der Sache sei. Träumend blickte der Führer der Arbeiterpartei, für welche die in der Altstadt fallenden kleinen Wohnungen doch von der allergrößten Bedeutung sein mußten, vor sich hin.

Beruhigt fuhr von Klopp fort:

»Ich lasse also die finanzielle Seite des Unternehmens zunächst ganz beiseite und gehe sogleich darauf ein, welche praktischen Gründe unter allen Umständen für die Annahme der von uns nach reiflicher Erwägung eingebrachten Vorlage sprechen. Wir haben, wie Ihnen bekannt sein dürfte, eine aus dem Herrn Stadtphysikus, fünf hiesigen praktischen Ärzten und dem Ordinarius der Hygiene einer benachbarten Universität bestehende Gesundheitskommission berufen und deren Gutachten über die sanitären Verhältnisse in den in Frage kommenden Gassen und Straßen der Altstadt zunächst einmal eingefordert. Die Herren sind einstimmig zu einem vernichtenden Urteile über diese Verhältnisse gekommen, die einer modernen Gesundheitspflege geradezu Hohn sprechen.«

»Mein Vater hat auch in der Kerbengasse gewohnt und ist zweiundachtzig Jahre alt geworden«, rief da der Stadtverordnete Helmengießer, ein Mitglied der Mittelstandspartei.

Von Klopp ließ sich nicht irre machen. Er kannte seinen Freund Helmengießer, einen biederen Schankwirt aus der Kibitzgasse, und wußte, daß dessen Ausführungen von dem Gros, auf das es hier allein ankam, nur selten ernst genommen wurden.

»Also meine Herren«, sagte er weiter, »die sanitären Verhältnisse in der Altstadt sprechen trotz der treffenden und unwiderleglichen Bemerkung des Herrn Stadtverordneten Helmengießer den Anforderungen einer modernen Gesundheitspflege schon lange Hohn. Die so notwendige Einführung der Kanalisation in der Kerben-, Fleischer-, Nelken- und Schwarzemannsgasse ist bei der Bauart der Häuser und der Anlage der Keller ein Ding der Unmöglichkeit! Die Statistik beweist« – von Klopp erhob seine Stimme – »daß die Sterblichkeitsziffer gerade in diesen Straßen in den letzten Jahren in unerhörtem Maße zugenommen hat, und ich erinnere Sie nur an die vor zwei Jahren in diesem Viertel grassierende Typhusepidemie, deren die Ärzte trotz der umfassendsten Maßnahmen erst nach Wochen Herr zu werden vermochten.«

»Der Typhus ist doch durch die Milch einer Kuh aus Strahlenhausen in die Altstadt eingeschleppt worden«, bemerkte nun Helmengießer.

Nun wurde von Klopp ungemütlich.

»Ich muß Sie schon bitten, Herr Helmengießer, Ihre Entkräftungen der von mir hier angeführten Tatsachen für Ihre Rede, die wir zweifellos später genießen werden, aufzusparen und mich nicht in einemfort zu unterbrechen. Mein Bericht, meine Herren, fußt auf den von der Gesundheitskommission untersuchten und erhärteten Tatsachen, und diese können weder durch den zweiundachtzigjährigen Vater des Herrn Stadtverordneten Helmengießer, der in der Kerbengasse gewohnt und offenbar ein sehr unempfindliches Geruchsorgan gehabt hat, noch durch das Gerücht, daß der Typhus damals durch die Milch einer Strahlenhausener Kuh eingeschleppt worden sein soll, entkräftet werden. Überzeugen Sie sich doch bitte selbst! Passieren Sie einmal an einem warmen Sommertage gegen Abend eine der Straßen, die auf dem Ihnen vorgelegten Plane mit roter Farbe eingezeichnet sind und die unser Projekt als abbruchsreif bezeichnet, und sagen Sie, ob die Atmosphäre, in der hier Hunderte unserer Mitbürger leben und atmen müssen, überhaupt noch erträglich ist. Ich denke, die wichtige hygienische Seite des Projektes ist für jeden, der die Verhältnisse aus eigener Anschauung kennt, auch ohne den geradezu vernichtenden Bescheid der Gesundheitskommission erwiesen. Ich enthalte mich daher jeder weiteren Ausführung in diesem Punkte und gehe nun sofort dazu über, Ihnen die Wichtigkeit und Notwendigkeit des von uns geplanten Projektes in verkehrstechnischer Hinsicht zu beleuchten. Wir entbehren einer großen und breiten Verkehrsstraße von West nach Ost. Eine solche ist nur dann möglich und hat nur dann einen Sinn, wenn wir uns dazu entschließen, einen Teil der Altstadt, und zwar den schon aus Gründen der Hygiene zum Abbruch reifen, zum Opfer zu bringen und diese Straße mitten durch das Herz der Stadt zu legen. Und hier wende ich mich nun speziell an diejenigen Herren, die sich immer gerühmt haben, die Interessen der von der Stadtverwaltung bitter vernachlässigten Ostendler zu vertreten. Ich weiß zwar, daß die Herren von der sozialistischen Partei prinzipielle Gegner aller meiner Vorlagen sind. Aber in diesem Falle dürfte es sich selbst Herr Dr. Jost überlegen und mir zugeben, daß es augenblicklich für seine Mitbürger im Osten kein größeres Interesse, als das einer raschen und bequemen Verbindung nach dem Westen gibt. Und diese Verbindung wird durch das Altstadtsanierungsprojekt gewährleistet.«

Unbeweglich saß Jost auf seinem Platze. Keine Miene veränderte sich in seinen gleichgültigen Zügen, als der Oberbürgermeister das Wort direkt an ihn richtete. Er spielte gelangweilt mit seiner silbernen Uhrkette, und nun lächelte er spöttisch vor sich hin, als er bemerkte, daß von Klopp nervös zu werden begann.

»Ich bitte Sie nun, meine Herren«, fuhr dieser fort, »die Ihnen ausgehändigte Karte vorzunehmen und auf dieser meinen Ausführungen über die Einzelheiten des großen Projektes, um das wir aus hygienischen und verkehrstechnischen Gründen nicht werden herumkommen können, zu verfolgen.«

Der Oberbürgermeister heftete den großen Plan, der bislang vor ihm auf dem Pulte der Rednertribüne gelegen hatte, an die Wand und begann nun wie ein Professor, der seinen Jungens eine Geographiestunde zu erteilen hat, zu dozieren.

Er war ein scharfer und praktischer Kopf, dem so leicht auch nicht eine nebensächliche Kleinigkeit entging. Er besaß den Vorzug klarer und leicht verständlicher Darstellungskunst. Er verfügte über ein erstaunliches Gedächtnis, und wenn er sich in eine Sache hineinversenkte, dann hatte er auch das Zeug dazu, seinen Stoff vollkommen zu beherrschen und in jedem der von ihm verfochtenen Punkte Rede und Antwort zu stehen.

Seine klare und interessante Auseinandersetzung über das nach seiner Behauptung aus hygienischen und verkehrstechnischen Gründen unumgängliche Projekt der Sanierung der Altstadt nahm reichlich zwei Stunden in Anspruch. Er sprach mit einer Beredsamkeit und im Tone einer Überzeugung, die auch anfängliche Gegner seiner Sache für diese gefangen nehmen mußten.

Als er endlich geendet, entstand eine lange Pause, während deren sich die Stadtverordneten in Gruppen eingehend und lebhaft über das soeben Gehörte unterhielten.

Stadtrat Koelsch schüttelte seinem Freunde von Klopp kräftig die Hand und meinte:

»Na, wenn sie jetzt nicht anbeißen, dann weiß ich nicht.«

Der erste, der nach dem Oberbürgermeister das Wort zur Debatte ergriff, war ein gewisser Professor Gruber, seines Zeichens Archäologe, städtischer Archivrat und Vorsitzender des Vereins für vaterstädtische Kunst und Geschichte.

Das Unglück wollte es, daß Gruber schon seit Jahren in der Stadtverordnetenversammlung saß. Er hatte seinen Rückhalt an der katholischen Volkspartei.

Im Gegensatz zu von Klopp, der während seiner Rede die goldene Brille abgenommen hatte, setzte sich der Archäologe, als er die Tribüne bestieg, noch einen zweiten Klemmer zu dem ersten auf die spitze Nase. Als der richtige Gelehrte, der sich seit dreißig Jahren mit dem Entziffern unleserlicher Handschriften vergangener Jahrhunderte beschäftigte, war er unglaublich kurzsichtig, und seine Unbeholfenheit erlaubte es ihm nicht, frei von der Leber weg zu reden. Alles, was er zu sagen hatte, schrieb er sich vorher Wort für Wort auf. Die Sache der alten Stadt, für deren Erhaltung aus künstlerischen und historischen Gründen einzutreten er hierher gekommen war, hatte also in ihm einen schlechten Verfechter gefunden.

Es war daher nicht weiter verwunderlich, daß die Aufmerksamkeit im Saale, als er zu sprechen anfing, keine allzugroße war. Jost machte sich Notizen. Er bereitete sich offenbar auf einen großen Coup vor, mit dem er dem Oberbürgermeister aufwarten wollte, und auch Helmengießer schien mit dem, was er später vorzubringen hatte, beschäftigt zu sein. Als Gruber zu reden anfing, wurde sogar laut hin und hergesprochen, und der Vorsitzende sah sich veranlaßt, mehrfach und energisch um Ruhe zu bitten, um dem Archäologen die zum Verstehen notwendige Stille zu verschaffen.

Auf der Rednertribüne nahm sich Gruber possierlich aus. Seine spindeldürre und überlange Gestalt schlotterte in dem schlechtsitzenden schwarzen Rocke und seine piepsende Stimme vermochte kaum in die ersten Reihen zu dringen. Dazu hatte er die leidige Angewohnheit, sich immer mitten im Satze zu räuspern und jedesmal mit der improvisierten Frage »nicht wahr?« zu endigen. Aber heute mußte er eben im Dienste der großen Sache, koste es was es wolle, reden. Selbst die Furcht vor dem ihm schon so oft beschiedenen unfreiwilligen Heiterkeitserfolge hielt ihn nicht davon ab.

»Blutenden Herzens, meine Herren – nicht wahr – blutenden Herzens –«, so begann er, »stehe ich vor Ihnen und habe ich die Worte des Herrn Oberbürgermeisters vernommen, dessen Plan die Axt an den eigentlichen Baum des Lebens in dieser von uns allen so heiß geliebten Stadt legt. Nicht wahr, meine Herren? Der größte Teil der Altstadt, in der unsere Großväter und Ur-, Urväter glücklich waren und wandelten, soll nach dem Plane des Herrn Oberbürgermeisters dem Untergang geweiht sein. Nicht wahr? In meiner Eigenschaft als Archäologe, in meiner Eigenschaft als städtischer Archivrat, in meiner Eigenschaft als Stadtverordneter und Bürger dieser Stadt erhebe ich Einspruch gegen diesen Plan, der nur von einem Fremden ausgeheckt werden konnte, nicht wahr, meine Herren? Hygienische und verkehrstechnische Gründe hat der Herr Oberbürgermeister ins Feld geführt und hat behauptet, daß aus diesen Gründen die Tage der Kerben-, der Nelken-, der Fleischer- und der Schwarzemannsgasse gezählt sein müßten. Ich frage: wiegen denn heutzutage hygienische und verkehrstechnische Gründe Bedenken der Ästhetik, der Geschichte und der Moral auf? Nicht wahr, meine Herren?«

»Hört, hört, der Moral«, erscholl da eine fragende Stimme aus dem Auditorium.

»Jawohl, der Moral«, fuhr nun Gruber fort. »Ich denke dabei nicht an die bedauerlichen sittlichen Zustände, die in gewissen Häusern der Nelkengasse herrschen. Ich spreche hier von einer höheren Moral. Goethe sagt in der Iphigenie: Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt! Nicht wahr, meine Herren? Und wir, wir sollten uns unterfangen, aus sogenannten Gründen der Hygiene und der Verkehrstechnik unserer Väter zu vergessen und Dinge zum Opfer zu bringen, die durch nichts wieder ersetzt werden können? Auch ich habe in diesen Tagen von Seiten des Herrn Oberbürgermeisters den Plan erhalten, auf dem die dem Untergang geweihten alten Gassen und Plätze mit roter Farbe bezeichnet sind, so wie der Metzger das von ihm ausgewählte Schlachttier mit roter Farbe bezeichnet. Nicht wahr, meine Herren? Ich habe mich der Mühe nicht verdrießen lassen, die alten Gassen und Gäßchen noch einmal schauend zu durchwandeln, und im Namen des Vereins für vaterstädtische Kunst und Geschichte, dessen Vorsitzender ich bin, lege ich hier auf dem Tisch des Hauses ein Verzeichnis, der interessanten Kunst- und Baudenkmäler nieder, die nach dem Plane und Willen des Herrn Oberbürgermeisters, wenn Sie nicht fest bleiben, meine Herren, einer neuen und verständnislosen Zeit zum Opfer gebracht werden sollen. Ich habe alle Einzelheiten aufgeschrieben, weil es die Zeit nicht erlaubt, über das Viele und Unersetzliche zu sprechen, das hier für immer von der Erde vertilgt werden soll. In meinem Verzeichnisse finden Sie alles! Nicht wahr, meine Herren? Aber mündlich will ich Sie nur daran erinnern, daß das Haus Kerbengasse Nummer 14 den berühmten Erker aus mittelalterlicher Holzschnitzerei sein eigen nennt, den man als eines der edelsten und wenigen Denkmäler der Frührenaissance in unserer Stadt ansprechen darf.«

»Der Erker wird doch erhalten und kommt in die städtischen Sammlungen«, rief da eine Stimme.

»Das ist geradezu so, nicht wahr, meine Herren«, fuhr nun Gruber fort, »als wenn mir einer sagt, ich schlage diese schöne Frau tot, doch das schadet nichts, sie wird ja einbalsamiert.«

Schallendes Gelächter aus der Versammlung begleitete diesen Vergleich.

»Da ist ferner das gotische Spitzbogenpförtchen in der Nelkengasse, das an das Flußufer führt«, versicherte Gruber, der sich durchaus nicht irre machen ließ. »Nicht wahr, meine Herren! Und da ist das alte Haus in der Schwarzemannsgasse, besonderen künstlerischen Wert hat es ja nicht, aber man behauptet doch, daß sich Bernhard von Weimar während des Dreißigjährigen Krieges eine Nacht dort verborgen gehalten haben soll, obwohl das historisch nicht genügend erhärtet ist. Nicht wahr, meine Herren? Um es in wenigen Worten zusammenzufassen: Im Namen aller Freunde der historischen Vergangenheit unserer Vaterstadt und der Erhaltung ihrer wichtigsten Baudenkmäler protestiere ich hier in meiner Eigenschaft als Stadtverordneter und Vorsitzender des Vereins für vaterstädtische Kunst und Geschichte gegen den Plan des Herrn Oberbürgermeisters, und wenn tausend Gründe der Hygiene und der modernen Verkehrstechnik für diesen Plan sprechen sollten, im Namen der Moral, die, wie ich schon ausgeführt habe, auch dies angeht, protestieren wir, meine politischen Freunde und ich, dagegen! Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt! Nicht wahr, meine Herren?«

Gruber hatte geendet. Im Saale atmete man auf, daß seine Rede nun glücklich vorüber war. Seinen und seiner Anhänger Standpunkt kannte man ja schon zur Genüge aus den Artikeln, die in den letzten Monaten regelmäßig in den »Mitteilungen des Vereins für vaterstädtische Kunst und Geschichte« erschienen waren. Kein Zeichen des Beifalls oder der Mißstimmung wurde laut. Grubers Ausführungen waren vorübergegangen, als wenn er sie vor leeren Bänken vorgetragen hätte.

Sichtlich befriedigt ging er auf seinen Platz zurück. Er hatte seiner Pflicht genügt, hatte im Auftrage seiner Freunde gesprochen und war selber herzlichst froh, diese Rede ohne nennenswerte Entgleisung hinter sich zu haben und diesmal wenigstens von dem schon so oft erlebten unfreiwilligen Heiterkeitserfolge verschont geblieben zu sein.

Die Stadtverordneten nahmen ihre auch während der Ausführungen Grubers im Flüstertone geführten Unterhaltungen wieder mit kräftigeren Stimmen auf. Man sah, daß das bald zur Abstimmung reife Projekt alle aufs lebhafteste beschäftigte. Die Stadtpläne mit den in roter Farbe eingezeichneten zum Abbruch bestimmten Gassen gingen von Hand zu Hand, und der Vorsitzende hatte seine liebe Not, durch dreimaliges Anschlagen der Glocke dem Mittelständler Helmengießer, der sich nach Gruber zum Worte gemeldet hatte, Gehör zu verschaffen.

Helmengießer, der schon die Auseinandersetzungen von Klopps mit seinen Zwischenbemerkungen gewürzt hatte, war ein stadtbekanntes Original. Wie er gelegentlich der oberbürgermeisterlichen Rede schon vorhin gesagt hatte, stammte seine Familie aus der durch das neue Projekt der Sanierung der Altstadt dem Untergange geweihten Kerbengasse, in der sein Vater, ein Weinwirt der alten Schule, im hohen Alter von zweiundachtzig Jahren an Fettsucht gestorben war. Er wäre hundert geworden, pflegten die Leute zu sagen, wenn er sich mit einem Körpergewicht von zweihundertfünfzig Pfund begnügt und nicht darauf bestanden hätte, auch noch den dritten Zentner voll zu machen.

Die Körperfülle hatte der Sohn von dem Vater geerbt. Nun stand der Koloß, ein rot und gelb kariertes Taschentuch in der plumpen Rechten, auf der Rednertribüne. Im Saale war es mäuschenstill. Niemand wollte sich die Pointen seiner Bemerkungen zu der Sanierung der Altstadt entgehen lassen.

»Meine Herren!« begann Helmengießer mit dröhnender Stimme. »Es war einmal ein Doktor hier in der Stadt, zu dem ist eine alte Frau von achtzig Jahren gekommen und hat ihn gefragt, ob sie Kaffee trinken sollte oder ob sie keinen Kaffee trinken sollte. Sie hätte nämlich von einer Freundin, die es in der Zeitung gelesen, gehört, daß Kaffee ein langsam tötendes Gift sei. Zu dieser Frau sagte jener Doktor: ›Liebe Frau, wenn Sie weiter Kaffee trinken, dann werden Sie sterben, wenn Sie aber keinen Kaffee trinken, dann werden Sie auch sterben! Wählen Sie also!‹ Die Frau war nicht auf den Kopf gefallen. Sie trank weiter Kaffee und ist neunundneunzig und ein halbes Jahr alt geworden. Am letzten Tage ihres Lebens schmeckte ihr der Kaffee nicht mehr und da starb sie. An selbes Wort von dem Herrn Doktor mußte ich denken, als der Herr Oberbürgermeister uns in schöner Rede sein Projekt von der Sanitierung oder wie das lateinische Wort heißt, von der Altstadt auseinandergesetzt hat. Der Herr Oberbürgermeister ist ein Hergezogener und er kennt infolgedessen die gesunde Konstitution von unserer Bevölkerung nicht, insonderheit nicht die gesunde Konstitution von den Alteingesessenen, die in der Kerben-, Nelken-, Schwarzemanns- und Fleischergasse ihr Quartier aufgeschlagen haben. Ohne Kanalisation und ohne Gas- und Wasserleitung, die, abgesehen von allem anderen, allein viele Hunderttausend kosten würden, Hunderttausende, die Notabene wir, die gewerbetreibenden und steuerzahlenden Bürger aufzubringen hätten – die Kommunalsteuern sind nämlich seit zehn Jahren nur um zwanzig Prozent in die Höhe gegangen – also nach dieser Nebenbemerkung, auch ohne die modernen Errungenschaften sind viele Leute in diesen Gassen an die hundert Jahre alt geworden. Also wegen der Hygene – oder wie das lateinische Wort sonst heißt –«

»Griechisch«, rief da Gruber, Vorsitzender des Vereins für vaterstädtische Kunst und Geschichte, dazwischen.

»Ist mir auch recht, Herr Professor Gruber, also griechisch«, nahm Helmengießer in aller Ruhe seine Rede wieder auf. »Also wegen der Hygene, das ist alles Larifari! Ich habe hier eine Liste von über vierzig Personen allein in der Kerbengasse, lauter gute Bekannte von meinem Vater selig, die in den letzten dreißig Jahren alle über achtzig Jahre alt geworden sind. Gegen diesen Beweis der Hygene der Altstadt dürfte der Herr Oberbürgermeister doch nur schwer ankommen. Vierzig Leute aus der Kerbengasse, die über achtzig Jahre alt geworden sind, Herr Oberbürgermeister! So alt werden sie bei Ihnen im Osten gar nicht, und wenn sie jeder in einer Villa wohnen. Das kommt von dem gesunden Volksstamm und von der guten Ernährung, Herr Oberbürgermeister. Wenn wir aber die Kommunalsteuern in wenigen Jahren wieder um zwanzig Prozent erhöht haben werden, dann wird die Sterblichkeit in der Altstadt trotz der Kanalisation und trotz der Sanitierung zugenommen haben, weil die Leute vor lauter Steuern nichts mehr zu essen haben, Herr Oberbürgermeister.«

»Sehr richtig«, rief da eine Stimme von der Bank der Sozialdemokraten, und Dr. Jost nickte lebhaft mit dem Kopfe, was Helmengießer sichtlich ermutigte.

»Also damit scheint mir die hygenische Seite der Sache abgetan. Basta, Dixi … das ist doch richtig lateinisch, Herr Professor Gruber?«

»Zum Teil, zum Teil italienisch«, erwiderte der trocken.

Eine Lachsalve aus dem hohen Hause war die Antwort.

Helmengießer schwieg, bis die dröhnende Heiterkeit, die diese trockene Bemerkung Professor Grubers hervorgerufen hatte, verhallt war.

»Ich komme nun zu dem zweiten Punkte, der verkehrstechnischen Seite des Projektes, wie der Herr Oberbürgermeister glaube ich sich ausgedrückt hat«, nahm er nun wieder das Wort. »Von den Hunderttausenden, die allein die Einführung der Kanalisation und der Wasserleitung in genannten Gassen verschlingen und die wir aus unserem Beutel berappen sollen, ist ja schon die Rede gewesen. Von den Millionen, die das ganze Projekt der Niederlegung der Altstadt kosten würde, brauche ich ja weiter nichts zu sagen, die hat ja der Herr Oberbürgermeister fein säuberlich in seinem gedruckten und Ihnen allen vorliegenden Kostenvoranschlage berechnen lassen. Nehmen wir an, daß hier die Hälfte der Summe genannt ist und daß wir nur noch einmal so viel Nachforderungen haben werden … Wer A gesagt hat, der muß doch einem alten Sprichwort zufolge auch B sagen, meine Herren …«

Bei den Sozialdemokraten erscholl lebhaftes Bravo.

»Dann müssen wir uns doch fragen«, vollendete nun Helmengießer, »nicht nur, wo diese Millionen herkommen sollen, die Banken werden sie gegen sieben Prozent schon vorschießen, sondern auch, meine Herren, wie sie sich von verkehrstechnischen Gesichtspunkten aus rentieren werden. Die halbe Stadt wird niedergerissen, um eine breite Straße von Ost nach West zu schaffen. Wem zuliebe? Sind wir nicht immer von Ost nach West rasch genug gekommen auch ohne diese Straße? Der Herr Oberbürgermeister mag es mir verübeln oder nicht! Als Vertreter meiner Wähler ist es hier, wo es sich um Millionen handelt, meine Pflicht, reinen Wein einzuschenken und mit nichts hinter dem Berge zu halten. Es ist bekannt, daß die Altstadt gewissen, sehr hochgestellten Persönlichkeiten, die wahrscheinlich eine sehr feine Nase haben, bei der letzten Durchfahrt durchaus nicht gefallen hat. Der Herr Oberbürgermeister möchte sich nun gern droben, wie man so zu sagen pflegt, ein rotes Röckelchen verdienen …«

»Schluß, Schluß, Schluß«, riefen da ein paar erregte Stimmen.

»Sehr richtig, sehr richtig«, fuhren andere dazwischen.

Die Glocke des Vorsitzenden ertönte.

»Ich muß Sie doch bitten, Herr Helmengießer, hier jede persönliche Polemik aus dem Spiele zu lassen und sich eines anderen Tones zu befleißigen!«

Helmengießer wurde puterrot im Gesichte. So sehr übermannte ihn die Wut darüber, daß sich Vorsitzender und Oberbürgermeister hier offenbar in die Hände arbeiteten. Aber er bezwang sich und sagte nun in kalter Ironie:

»Sagen wir also, daß hier höhere Interessen als die der Stadt im Spiele sind. Interessen, deren Tragweite wir Durchschnittsmenschen nicht zu beurteilen vermögen! So etwas wie die Fügung Gottes oder der Wille des Allerhöchsten! Meine Freunde werden mich verstanden haben. Sie und ich, wir sind und bleiben Gegner eines Projektes, das ohne Grund Millionen und Millionen aus den Taschen des friedlichen und steuerzahlenden Bürgers herausholen wird, und zwar nur aus dem einzigen Grunde, weil gewisse Herren gewisse Gassen und Gäßchen, die gerade keinen vornehmen Eindruck machen, das gebe ich zu, nicht riechen können.«

Wieder brach der Sturm über diese treffende Bemerkung Helmengießers los. Aber der kümmerte sich nicht weiter darum. Er hatte die Rednertribüne verlassen. Schon stand Oberbürgermeister von Klopp an seinem Platze und sagte mit seiner scharfen, militärischen Stimme in einem Tone, der an das Kommando eines Regimentschefs erinnerte:

»Eigentlich halte ich es für überflüssig, die Unterstellungen des Herrn Vorredners zurückzuweisen. Aber im Interesse der Sache, nicht in dem meiner Person, wiederhole ich noch einmal, daß für die Einbringung dieser Vorlage lediglich objektive Gesichtspunkte maßgebend gewesen sind.«

Nach Helmengießer hatte sich Jost zum Worte gemeldet.

Der Oberbürgermeister machte sich auf einen harten Kampf gefaßt. Die Einwendungen Grubers zurückzuweisen, das hatte er gar nicht für der Mühe wert gehalten. Und einen Menschen wie Helmengießer, den nahmen Stadtverordnete und Presse lediglich von der humoristischen Seite. Hier hatten die Rüge des Vorsitzenden und seine kurze, in militärischem Tone abgegebene Erklärung genügt. Aber Jost!

Unbeweglich, die Arme verschränkt, wie eine Bildsäule stand der berühmte und gefürchtete Agitator auf der Tribüne. Wie sein Gegner von Klopp hatte er vor der Rede die Brille abgelegt und blickte nun herausfordernd mit seinen stechenden, grauen Augen nach der kleinen Gruppe von Herren, die aus dem Oberbürgermeister und den Mitgliedern des Magistrates bestand. Jost hatte heute wieder einmal einen seiner großen Tage. Das merkte man schon an dem haarscharfen und ironisierenden Tone, der seiner ganzen Redeweise in dieser Stunde ihr charakteristisches Gepräge gab.

»Der Herr Oberbürgermeister«, so begann er, »hat die Sache sehr schlau angefangen, indem er die Hauptsache, die ungeheuren Kosten seines Projektes, gewissermaßen unter den Tisch fallen ließ und von vornherein aus der Verhandlung ausschied. Uns allen, meine Herren, hat der Herr Oberbürgermeister aber eine allerdings unvergeßliche Denkschrift aushändigen lassen, die über diesen wichtigsten Punkt der Debatte Aufschluß gibt. Der Voranschlag des Herrn Oberbürgermeisters schließt mit lumpigen dreiundzwanzig Millionen. Machen Sie sich diese Zahl klar, meine Herren, ehe Sie ein weiteres Wort in dieser unerhörten Sache, die einen Ruin der städtischen Finanzen bedeuten kann und eine unerhörte Steuerlast bedeuten wird, verlieren. Ich wiederhole noch einmal: dreiundzwanzig Millionen! Hat der Herr Oberbürgermeister einen Krösus an der Hand, der ihm zum Wohle der Stadt diese dreiundzwanzig Millionen unverzinst vorzuschießen entschlossen ist? Mein verehrter Herr Vorredner, Herr Schankwirt Helmengießer, mit dem ich, wie Sie wissen, sonst nicht immer einer Meinung bin, hat aber recht, wenn er in dieser Forderung bislang etwa die Hälfte der Kosten sieht, die aus der Ausführung eines solchen Riesenplanes, der, ich kann nur sagen, in den Sternen hängt, erwachsen werden! Die Sanierung der Altstadt! Über die hygienische und verkehrstechnische Notwendigkeit dieses in der Geschichte der Städte wohl noch niemals dagewesenen gigantischen und größenwahnsinnigen Planes brauche ich mich nicht weiter auszulassen. Ich kann nur sagen, daß hier Herr Helmengießer in der schlichten Ausdrucksweise des Volkes den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Meine Sache ist es hier, die finanziellen und vor allem die sozialen Gründe hervorzuheben, welche die Ausführung dieses Projektes für mich und meine politischen Freunde zu einem Dinge der Unmöglichkeit machen. Sie werden mir vorhalten, daß der kleine Mann durch die unbedingt dieser Vorlage und ihrer Annahme auf dem Fuße folgende Erhöhung der Kommunalsteuer, die jetzt schon weit über hundert Prozent beträgt, weniger getroffen wird. Sie irren, meine Herren, indirekt wird gerade der kleine Mann und nur er durch dieses unerhörte Vorgehen getroffen, das Tausenden von Arbeitern und armen Leuten, die in den Gassen und Gäßchen der Altstadt ein billiges Logis gefunden, die Möglichkeit zum Wohnen entzieht. Sie wollen etwas für die Hebung des Gesundheitszustandes in den Gassen der Altstadt tun, und Sie schlagen das sehr einfache Mittel der Vernichtung dieser Gassen vor, ohne zu bedenken, daß Sie gar nicht in der Lage sind, etwas Gleichwertiges und vor allen Dingen Gleichbilliges an die Stelle dieser abgerissenen Häuser, den Unterschlüpfen des kleinen und kleinsten Mannes und dessen zahlreicher Familie, zu setzen. Sie können es mir glauben, daß gerade mir, dem Führer der eigentlichen Volkspartei, das Herz im Leibe blutet, wenn ich die Spelunken, deren Abbruch ich unter anderen Umständen mit Freuden begrüßen würde, als den letzten Unterschlupf des Armen in dieser maßlos teuren Stadt in Anspruch nehmen muß. Ja, meine Herren, ja, Herr Oberbürgermeister, der, wie man sagt, so gerne vierspännig fährt, haben Sie etwas, was Sie für den armen Mann an die Stelle der Kerben-, Nelken-, Schwarzemanns- und Fleischergasse stellen können, wo er auf wöchentliche Kündigung gegen ein paar Groschen Küche, Stube und Kammer für sich und die Seinen bekommen kann? Wenn Sie so etwas haben, dann rücken Sie gefälligst heraus mit Ihren Zusicherungen, Herr Oberbürgermeister, und das gewiß nicht in jeder Beziehung verwerfliche Projekt der Altstadtsanierung, das nach Ihrem eigenen Voranschlage dreiundzwanzig Millionen verschlingen wird, erscheint wenigstens nicht undiskutabel, es wird wenigstens human, wenn es die Handhabe dazu bietet, um Tausenden unserer ärmsten Mitbürger menschenwürdige Wohnungen, die sie bezahlen können, zu verschaffen. Aber wenn Sie uns nicht mit bestimmten Vorschlägen kommen können, dann bedeutet die Annahme dieses Projektes eine Dummheit und eine Grausamkeit. Eine Dummheit, weil die Stadt nach Expropriation der Hauseigentümer in den dem Untergang geweihten Straßen für tausend und tausend Obdachlose aus ihrem Säckel wird zu sorgen haben, und eine Grausamkeit, weil man nicht Leute, die bislang in ehrlicher und redlicher Arbeit für sich selber sorgen konnten, mit einem Schlage der öffentlichen Wohltätigkeit anheimfallen läßt! Ich richte also, ehe ich mich auf die Einzelheiten dieses Projektes des näheren im Namen meiner politischen Freunde einlasse, an den Herrn Oberbürgermeister vor aller Öffentlichkeit die Frage, ob er schon daran gedacht hat, wo eine Unterkunft, wo billige Wohnungen geschaffen werden für die Tausend und Tausend, die nach dem Abbruch der Kerben-, Nelken-, Fleischer- und Schwarzemannsgasse ihr Obdach für immer verloren haben werden?«

Jost schwieg eine Weile und sah sich triumphierend um. Er glaubte sich seiner Sache sicher. Er war davon überzeugt, daß ihm der Oberbürgermeister auf diese seine Frage die Antwort schuldig bleiben werde, und er hatte das Gefühl, daß er mit dem Aufrollen der von ihm vorgetragenen Eventualität einen Teil der Stadtverordneten auf seine Seite hinüberziehen und so die Annahme der Vorlage in Frage stellen könne.

Aber schon vernahm er die scharfe Stimme von Klopps:

»Wenn der Herr Redner es wünscht, dann will ich ihm sofort die Antwort auf diese Frage, die ihm wichtig vor allen anderen erscheint, erteilen. Ich wäre sowieso bei der Beratung der Einzelheiten auf diese Sache zu sprechen gekommen. Der Herr Redner bemerkt ganz richtig, daß mit dem Fall der in unserem Plane mit roter Farbe eingezeichneten Gassen ein paar hundert, nicht ein paar tausend, wie Herr Dr. Jost übertreibend meint, Leute aus den untersten Volksschichten ihre Heimat verlieren werden. Nun! Auch wir sind nicht müßig gewesen. Ich habe hier – von Klopp hob ein umfangreiches Schreiben in die Höhe und hielt es Jost unter die Nase – ich habe hier das sehr günstige Angebot der Concordia, Gesellschaft zur Verwertung von Grundbesitz in Berlin, das von deren Direktor Blümlein unterzeichnet ist. Ich habe mich in Berlin nach der Gesellschaft erkundigt und habe in Erfahrung gebracht, daß sie auf sehr solider Basis steht und hier im Westen der Stadt bedeutendes Gelände angekauft hat, um dort billige Arbeiterwohnungen und Einfamilienhäuser für kleine Beamte zu errichten. Gegen gewisse, von der Stadt zu gewährende Vorteile, wie kostenlose Anlegung der Straßen und Kanalisation, hat sich die Direktion der Gesellschaft bereit erklärt, schon in den nächsten Monaten mit der Anlage großer Arbeiterwohnhäuser zu beginnen, und es liegt in meiner Absicht, dort mit Hilfe dieser Gesellschaft ein Unterkommen, und zwar ein gesundes und billiges Unterkommen, für die zu schaffen, welche durch den Abbruch in der Altstadt um ihre Heimat gebracht werden. Herr Dr. Jost hat mich gezwungen, schon jetzt mit dieser Sache herauszurücken, die ich naturgemäß erst im Verlauf der Debatte erwähnt hätte.«

Paul Baumann, der in der zweiten Reihe unweit von dem Platze des Oberbürgermeisters saß, lächelte leise vor sich hin. Von Klopp hatte keine Ahnung, wer sich eigentlich hinter dem Namen der Concordia verbarg, und daß Blümlein schon vor Monaten in Pauls Auftrag den Plan unterbreitet hatte, der heute dem Oberbürgermeister zur Durchbringung seiner Vorlage so ungemein dienlich war.

Bei dieser Mitteilung des Oberbürgermeisters stutzte Jost. Er war der Meinung, daß ihm dieser die Antwort auf seine Frage schuldig bliebe und nun sah er, wie durch die prompte Entgegnung von Klopps die Stimmung unter den Stadtverordneten plötzlich zu seinen Ungunsten umschlug. Ohne eine Ahnung davon zu haben, daß er hier wirklich den Finger in eine eiternde Wunde legte, nur um die Situation zu retten, sagte nun Jost:

»Vielleicht hat der Herr Oberbürgermeister die Güte, uns die Leute zu nennen, die ihr gutes Geld in diese Gesellschaft zur Verwertung von Grundbesitz, die mir völlig unbekannt ist, hineingesteckt haben. Man kann doch nicht wissen, welche persönlichen Interessen sich hinter dieses von Humanität übertriefende Angebot an die städtische Verwaltung verkrochen haben.«

Paul wurde leichenblaß.

Sollte wirklich der da, der allein, die Sache ausgeheckt haben und nun durch irgendeine Enthüllung die Ausführung seines gigantischen Planes, noch ehe von diesem selber die Rede gewesen, zu einem Dinge der Unmöglichkeit machen?«

Der Saal mit Jost und den Stadtverordneten begann vor Pauls Augen zu tanzen. Die Wut über diesen Menschen übermannte ihn. Etwas von Verleumder und Ehrabschneider hatte er auf seinen Lippen. Doch im rechten Momente besann er sich. Niemand durfte fürs erste eine Ahnung davon haben, von Klopp nicht und Jost erst recht nicht, daß er in irgendeinem Zusammenhange mit der Concordia stand.

Glücklicherweise schien von Klopp diese Frage Josts keiner Erwiderung für wert zu halten.

Die Debatte nahm ihren Fortgang. Nachdem Jost in mehr als einstündiger Auseinandersetzung die Unausführbarkeit der von Kloppschen Vorlage dargetan, kam noch ein halbes Dutzend Redner in leidenschaftlichem Für und Wider zum Wort.

Endlich schritt man zur Abstimmung.

Das Altstadtsanierungsprojekt wurde mit vierundvierzig gegen elf Stimmen angenommen. Dagegen stimmten die Sozialdemokraten geschlossen, Professor Gruber und der dicke Schankwirt Helmengießer.


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