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XVI.

Wie neugeboren verließ Paul das Rathaus. Was in langen Jahren den eigentlichen Inhalt seines gesamten Denkens und Fühlens gebildet, das, woran er unablässig gearbeitet, was das eigentliche Ziel seiner politischen Tätigkeit gewesen, war nun erreicht. Kein Jost vermochte ihm mehr dazwischen zu reden, denn dieser, sein Todfeind, war für immer verstummt.

Als er im Laufe des folgenden Tages von der Post Josts rückständige Miete in Höhe von sechshundert Mark erhielt, legte er das Geld gleichgültig in seine Kasse. Es fiel ihm gar nicht ein, danach zu fragen, wo Frau Jost die für ihre Verhältnisse hohe Summe so rasch hatte auftreiben können. Die ganze Sache war für ihn überhaupt mit dem Siege des Westprojektes und mit dem Tode seines Gegners erledigt. Die Häuser in der Zeisigstraße, an denen er nur das eine Interesse gehabt, durch ihren Besitz einen Druck auf Jost ausüben zu können, mochten nun stehen bleiben, bis sie von selbst zusammenfielen. Ob sie bewohnt wurden, wer darin wohnte, ob sie Zinsen trugen oder nicht, das focht ihn weiter nicht an. Denn nur die eine gewaltige Idee des Ausbaues seines grandiosen Westprojektes erfüllte ihn ganz.

So kam es, daß ihm auch die seltsame Veränderung, die sich plötzlich von heute auf morgen in dem Wesen Agathes vollzogen hatte, entging. Ein von seinen eigenen Gedanken und Plänen vollkommen Beherrschter sah er die anderen kaum. Obwohl wachend und seiner Sinne mächtig, schritt er wie in einem Traume umher. Denn die Entdeckung, die er vor Jahren bei der Durchsicht von Peters hinterlassenen Papieren gemacht, beherrschte ihn aufs neue. Wie ein Dämon, der ihn gepackt und nimmer ließ, stand Tag und Nacht hinter ihm die eine einzige Idee, daß es ihm nun vorbehalten sei, den gewaltigen Plan, den Peter zu Papier gebracht, in Wirklichkeit zu übersetzen.

Stundenlang wie früher saß er auch jetzt wieder in seinem Bureau und versenkte sich in diesen gewaltigen Traum einer neuen Stadt im Westen der alten, die zweifelsohne in wenigen Jahren in der Gegend des neuen Bahnhofes erstehen mußte und die Peter in großen Linien, als wenn er in der Tat ein Prophet gewesen, vorgezeichnet hatte. Und was ihn da so ganz und gar beherrschte, das war seltsamerweise gar nicht die Sucht nach Gewinn, die ihm der sterbende Jost mit seinen letzten Worten hatte vorhalten wollen! Er dachte gar nicht mehr daran, daß das Gelände sein und seiner Kinder Eigentum sei. Nein, der Beifall der Menge, das Jubeln der Demokraten gelegentlich seines schwer erfochtenen Sieges, die Lobreden in den Zeitungen und die Aussicht, seinen Namen unsterblich mit der Gründung dieser neuen Stadt verbinden zu können, berauschten ihn. »Hoch der Freund des Volkes«, so hatten sie schon damals in jener entscheidenden Sitzung der Stadtverordneten im Rathause gerufen. Sie würden neue Wunder erleben, wenn er erst mit seinen tatsächlichen Plänen hervortrat. Sie würden staunen, wenn sie sähen, daß nicht ein unbestimmtes Nebelbild dieser neuen Stadt vor seinen Augen schwebte, sondern daß er einen festumrissenen Plan in seinen Händen hielt, der diese Stadt als ein in allen seinen Einzelheiten bereits geschautes Ganze aus dem genialen Kopfe eines einzigen erstehen ließ. Und seine Schöpfung sollte die neue Stadt in der Tat werden. O, er hatte die Mittel dazu an der Hand! Nicht nur die Pläne Peters, die dieser Phantast, ein wahrer und genialer Künstler, spielend in den stillen und einsamen Nachtstunden seines Lebens entworfen hatte, nein, er besaß auch die Macht. Die Grundstücke waren in der Tat sein Eigentum, und wenn es nötig war, dann würde er die Ausführung seiner Pläne erzwingen, indem er sein eigenes Gelände nicht hergab, sondern hier nach seinem Willen und auf sein Risiko selber baute!

Und lange, ehe die Pläne der Eisenbahnverwaltung ausgearbeitet waren, ehe die Ingenieure daran gingen, das Gelände für den neuen Bahnhof abzustecken, wuchs und wuchs in Pauls Innerem an der Hand von Peters Zeichnungen die neue Stadt, die sich nach seinem Willen in Jahren und Jahren um den neuen Mittelpunkt des gewaltigen Verkehrs erheben sollte. Wie er es schon in seiner Rede gesagt, der Osten sollte der Industrie und der Arbeit, der Westen dem großstädtischen Verkehr und dem Luxus dienen. In diesem Sinne fielen in seinem Geiste Peters Entwürfe, die ein mächtiges Gelände mit Fabriken und Arbeiterwohnungen im fernen Westen vorgesehen, fort. In allen Einzelheiten studierte Paul die Lage der Grundstücke, die sein Schwiegervater dereinst in der gewissen Voraussicht dessen, was einmal kommen würde, an sich gebracht hatte. Und mit dem Momente, da endlich die Lage des Bahnhofes von seiten der Eisenbahnbehörde nach langen Verhandlungen festgestellt war, da er diesen gewaltigen Bau in Peters Pläne einzuzeichnen vermochte, hatte er den ersten festen Anhalt gefunden und nun schuf er im Geiste um diesen Bahnhof herum seine neue Stadt. Der Plan der alten, wie sie da war und da stand, lag auf seinem Tische, und an diese gliederte sich die neue an, die hier nach seinem Willen werden sollte.

Den Bahnhof, dessen Grundriß noch lange nicht feststand, konnte er sich nicht anders denken, als wie er ihn einst in Berlin im Geiste geschaut: Der Anhalter Bahnhof mit seiner gewaltigen und genial geschwungenen Halle dreimal nebeneinander gestellt! So mußte er aussehen und so zeichnete er ihn in den Plan. Von dem Promenadengürtel der Wälle sollte dann mitten durch das Terrain der alten Bahnhöfe eine gewaltige Straße führen, eine Siegesstraße, von deren Breite man in der alten Stadt bislang keine Vorstellung gehabt. Sie mündete vor dem Eingang des neuen Riesenbaues. Fast einen Kilometer lang sollte diese neue Straße werden … auch der Name Siegesstraße stand schon bei ihm fest. Sie mußte dereinst die ersten Geschäftshäuser der Stadt und die bedeutendsten Hotels und Vergnügungsetablissements in sich fassen. In unmittelbarer Nähe der Stelle, wo diese neue Straße den Promenadengürtel durchschneiden würde, hatte Paul schon lange mit dem Bau seines neuen Geschäftspalastes begonnen, der das nun nach der Annahme des Westprojektes sicher dem Untergang geweihte alte Haus am Ritterwall ersetzen sollte. Diese Siegesstraße und den gewaltigen Platz, der vor dem neuen Bahnhof erstehen würde, baute seine nie rastende Phantasie sich in allen Einzelheiten nun aus. Was sich sein Geist hier ausmalte, das waren eine Straße und ein Platz, von deren Dimensionen die biederen Städter noch keine Vorstellung besaßen. Gewaltige Kandelaber würden nötig sein, um diesen Riesenplatz des Nachts taghell zu erleuchten, und als Umrahmung dieses Platzes schuf er ungeheure sechs und sieben Stockwerke hohe Häuser, gewaltige Sandsteinfassaden sah er für diese vor. In ihren Räumen würden sich die ersten Geschäfte der Stadt, so weit sie in der Siegesstraße keinen Raum mehr fanden, und die, welche die unmittelbare Nähe des Bahnhofes nötig hatten, etablieren. Glänzend erleuchtete Cafés würden sich in ihren Erdgeschossen auftun. Die Hotels der Stadt würden ihre Stätte gegenüber dem neuen Bahnhof suchen, Theater und Varietés mußten hier für das Vergnügen der ankommenden und abreisenden Fremden sorgen. Und durch kostspielige Durchbrüche mußte der vornehme und stille Westen mit der neuen Siegesstraße und dem Bahnhofsplatze verbunden werden. Die Straßenbahn, deren Elektrisierung man schon lange erwog, würde diesen Bahnhof zum Mittelpunkte ihres Netzes machen und so den ganzen Verkehr der gewaltigen Stadt weit hinaus in diesen von ihm als Land der Zukunft gefeierten Westen lenken müssen. Und an die Vollendung des Bahnhofsplatzes und der Siegesstraße knüpften sich dann die kühnen Träume, die sein und Peters innerstes Eigentum waren, die erst das Werden einer neuen Stadt, weit, weit draußen, wo sein eigenes Gelände lag, gewährleisteten.

Was er da im Geiste sah, was Peter zum Teil auf seine Papiere gezeichnet hatte, daran dachte heute außer ihm sicher noch kein Mensch in der Stadt. Das war gigantisch, das war ungeheuer! Der alte Promenadengürtel im Inneren genügte schon lange nicht mehr. Hier, hier draußen mußte eine neue gewaltige Anlage mit Blumenparterres, Kaskaden und Springbrunnen in modernem Stile erstehen, eine Promenade, die sich an den schönsten Plätzen des unaufhörlich wachsenden Berlin würde messen können. Die Villen und vornehmen Mietshäuser der Reichen würden allmählich hinausrücken an den Rand dieser neuen Anlage, die einen Vorort mit dem anderen durch glänzende Straßen des Raffinements und des Luxus verbinden sollte. Städtische und Staatsgebäude von mächtiger architektonischer Wirkung, wahre moderne Paläste, deren die alte Stadt noch entbehrte, konnten und würden hier ihre Stätte finden. Die Eisenbahn, die alles belebende, die alles neu- und umschaffende, würde hier die Pionierin, die Wegweiserin einer neuen Zeit sein, in deren Zenith der helle Stern seines Ruhmes als Erneuerer der Stadt und Volksbeglücker stand!

Ihr prächtiges Verwaltungsgebäude sah er zunächst am Rande dieser neuen Anlage erstehen, und daneben stellte er alles, was seine eigene Phantasie für die Größe und die Schönheit der Stadt, die er beglücken wollte, ersann. Aus der Enge der Gassen in die Weite neuer Boulevards, prächtiger Straßen und gewaltiger Plätze sollte es hier im Westen hinauswachsen in wenigen Jahren und Jahrzehnten, das Ungeheure, das er und Peter erträumt hatten. Ein neues Schauspielhaus und eine neue Gemäldegalerie konnten hier ihren Platz finden, denn das alte Theater war zu eng und die Sammlung der Bilder fand in dem Hause, das man ihr seit einem Jahrhundert angewiesen, keinen Platz mehr. Neue Kirchen und neue Schulen würden einst diesen Westen zieren, das naturhistorische Museum, das Polizeipräsidium, der Justizpalast und die Oberpostdirektion mußten dereinst hier hinaus! Und dann sein Traum! Wenn es ihm gelang, das Gelände, das sein Schwiegervater an sich gebracht, in Millionen und Millionen umzusetzen, seine Stiftung, die die Krone des Ganzen werden mußte, die seinen Namen für ewig in das goldene Buch dieser Stadt einzeichnete. Die Gebäude dieser Stiftung sollten hier erstehen in diesem Westen, für dessen Ausbau er mit solcher Leidenschaft durch Vertretung der Westlage des neuen Bahnhofes eingetreten war! Etwas wie eine Universität sollte es werden! Aber keine Gelehrtenschule, wie die alten Universitäten, die aus Priesterseminaren und theologischen Fakultäten hervorgegangen waren, nein, die Schule einer neuen Zeit! Eine Schule, in der Handel und Industrie, soziales Leben und Technik, Verkehrswesen und Schiffahrt, Naturwissenschaften und Geographie im Vordergrunde standen. Eine Schule der neuen Wissenschaft, die sich nicht mehr abgab mit dem Aktenstaube verflossener Jahrhunderte, sondern sich in den Dienst ihrer Zeit stellte, die ihre Schüler lehrte, die Meilen der Erde durch den Willen und die Kraft ihres Geistes zu überfliegen, die ihnen zeigte, wie man Brücken über die Ströme spannte, wie man Eisenbahnen baute, wie man das Wort in Ton und Schrift blitzgleich von einem Ende der Erde zum anderen trug, wie man die Erde und das Wasser und schließlich das Luftmeer selber bezwang! Diese hohe Schule, seine Stiftung, sah Paul im Geiste leibhaftig vor sich, und ihre Kuppel krönte eine hohe Sternwarte mit einem Riesenfernrohr, das die anderen Welten zu erreichen sich erdreistete, und dort oben stand er, ein Greis, und überschaute noch einmal, lächelnd und zufrieden, das gewaltige Gelände der neuen Stadt, sein Werk!

In einer der nächsten Sitzungen der Stadtverordneten war die Kommission zur Bearbeitung des Bahnhofsprojektes gewählt worden. Selbstverständlich befand sich Paul unter ihren Mitgliedern. Von diesem Tage an fand ihn kein Abend mehr zu Hause. An jedem Tage gab es neue Besprechungen und neue Arbeiten. Er vergaß seine ganze Umgebung. Nur dadurch war es zu erklären, daß ihm die seltsame Veränderung völlig entging, die in den der entscheidenden Sitzung folgenden Tagen und Wochen mit Agathe vor sich gegangen war! Vergeblich hatte ihn die alte Frau Baumann auf das seltsame Gebaren ihrer Schwiegertochter aufmerksam gemacht.

»Laß sie nur gewähren, Mutter«, hatte er in aller Ruhe gesagt und dabei von dem Abgrunde keine Ahnung gehabt, an dessen Rande er und seine Kinder wandelten.

Denn Agathe schien krank. Es schien das keine Krankheit, die sich in Verschlossenheit oder Melancholie äußerte. Nein, die Frau war wohlauf und vergnügt. Aber dem genauer Zusehenden mußte es auffallen, daß sich ihres Wesens plötzlich eine ganz unmotivierte Heiterkeit und Unternehmungslust bemächtigt hatten, die zu ihrem früheren Fühlen und Denken schlechterdings nicht passen mochten. Sie sprach und handelte konsequent, vollständig wie ein normaler Mensch. Aber eigentümlich, alles was sie wollte und tat, nahm sich wie der Ausflug eines plötzlich hysterisch gesteigerten, eines potenzierten Willens aus. Paul bemerkte es nicht. Er hatte den Kopf voll von seinen gewaltigen Plänen, und in seinem grenzenlosen Egoismus und Ehrgeiz wollte er sich durch nichts stören lassen. Die sonst verhältnismäßig stille und zurückhaltende Frau war mit einem Schlage ungemein gesprächig geworden. Nur Paul gegenüber hielt sie sich zurück. Frau Baumann fiel es auf, daß sie ganz unvermittelt von Reisen und Unternehmungen zu reden begann, und sie warnte ihren Sohn. Sie sagte ihm, daß Agathe in ein kritisches Alter eintrete, in dem bei manchen Frauen größte Vorsicht am Platze sei, sie bat ihn, doch einen Arzt zu konsultieren, aber Paul, der wie in einem Rausche einherging, wies die Vorhaltungen seiner alten Mutter zurück.

Und nach seinem Willen und Wunsche ließ man Frau Agathe gewähren. Damals, als sie sich zusammen über Pauls soziale Tätigkeit ausgesprochen, als Agathe großmütig in die Schenkung des alten Hauses am Ritterwall gewilligt, hatte Paul, um sich selber von einem Alp, der auf ihm lastete, zu befreien, Agathe in die selbständige Verwaltung des ihr von Haus aus zustehenden Vermögens eingesetzt. Die Summe, deren Wert das nun an die Stadt fallende Haus darstellte, und eine weitere, die nach ungefährer Schätzung die Höhe ihrer Mitgift erreichte, hatte er bei einer Bank auf den Namen seiner Frau als Guthaben eingezahlt. Ein Akt der Befreiung war das damals für ihn selber gewesen! Es war ihm vorgekommen, als wenn mit diesem Moment sich das Konrad durch die Macht des Wunsches entrissene Gut von ihm löse. Mit diesen Mitteln hatte Agathe im Laufe der Jahre nach ihrem Gutdünken geschaltet und gewaltet. Es war keine kleine Summe, die ihr zur Verfügung stand. Das alte Haus am Ritterwall hatte einen Wert von zweihunderttausend Mark, und dieser Summe hatte Paul noch ein Hunderttausend hinzugefügt.

Und nun hätte das seltsame Wesen dieser Frau einen aufmerksamen Beobachter mit Angst erfüllen müssen. Die einzige, die sie nicht aus den Augen ließ, war die alte Frau Baumann, und deren Bedenken wurden von Paul, der nichts von einer Störung seiner gewaltigen Pläne wissen wollte, nicht geteilt.

Die Kinder unterstanden nach wie vor ausschließlich Agathes Führung. Paul hatte als Staatsmann und Volksbeglücker keine Zeit, sich um seine heranwachsenden Söhne und Töchter zu bekümmern, die mit einer rührenden Liebe und Dankbarkeit an ihrer blonden Mutter hingen. Vor allem der Älteste, Robert, das Ebenbild der Mutter, war deren Augapfel. Er war jetzt sechzehn und hatte sein Einjähriges in der Tasche. In Abständen folgten ihm Anna, die die zweite Klasse der Höheren Töchterschule besuchte, der Quartaner Gustav und die kleine Luise, die eben ihre ersten französischen Studien trieb.

Die Schulferien standen wieder einmal vor der Tür, und die Kinder waren außer sich vor Freude, denn ganz aus sich heraus hatte ihnen Frau Agathe zum Lohne dafür, daß Robert so glänzend versetzt worden war, die erste größere Reise versprochen. Die Untersekundaner hatten im letzten Winter mit ihrem Ordinarius Schillers Wilhelm Tell gelesen, Robert schwärmte für die Schweiz. Nach Brunnen an den Vierwaldstätter See sollte es gehen. Dort wollte Frau Agathe mit ihren Kindern längeren Aufenthalt nehmen und von da aus Ausflüge nach der Tellskapelle und dem Rütli, sowie hinauf in den Kanton Uri bis nach dem Gotthard machen. In dem alten Hause am Ritterwall war seit Wochen von nichts anderem mehr die Rede. Nur wenn der Vater zufällig einmal beim Essen anwesend war, meistens speiste er zusammen mit den Herren von der Kommission im Keller des Rathauses, mußte man sich ruhig verhalten. Frau Baumann war nicht entzückt von diesen Reiseplänen, aber Paul, dem das Daheimsein der Kinder während der langen Ferien unbequem war und der auch glaubte, daß eine Zerstreuung günstig auf den aufgeregten Zustand Agathes einwirke, hatte kurzerhand seine Einwilligung erteilt.

Sorgsam traf Frau Agathe die Vorbereitungen für diese Reise, als ob es nicht auf vier kurze Wochen an den Vierwaldstädter See, sondern für lange Zeit bis an die Enden der Erde gehen sollte. Man nahm offenbar viel mehr Koffer mit, als eigentlich nötig gewesen wäre. Und die Kinder waren hocherfreut. Die Mutter legte ihren Wünschen keinerlei Beschränkung auf. Ihre Lieblingssachen durften sie alle sorgfältig einpacken, um sich nicht während der Ferien von diesen trennen zu müssen.

Und seltsam, seitdem Frau Agathe die Vorbereitungen zu dieser Reise traf, schien wieder eine merkwürdige Ruhe über sie gekommen zu sein. Die Aufregung war wieder völlig aus ihrem Wesen geschwunden und Frau Baumann hoffte nun in der Tat, daß der Aufenthalt in den Bergen des weiteren einen günstigen Einfluß auf das seelische Befinden ihrer Schwiegertochter ausüben werde.

Gerne hätte sie der Sicherheit halber diese Reise mitgemacht. Aber jede Andeutung in dieser Beziehung hatte Agathe mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen, und dann, sie war jetzt nicht mehr weit von den siebenzig, sie hatte in ihrem Leben nie viel in der Eisenbahn gefahren und fürchtete sich vor den Anstrengungen der Fahrt und vor dem Wechsel in Wohnung und Kost.

Die letzte Woche der Schule nahm ihren Anfang. Man sah Frau Agathe viel in der Stadt. Sie hatte noch mancherlei zu besorgen und fuhr in einer Droschke vor die einzelnen Geschäfte, wo sie ihre Einkäufe machte. Und sonderbar, auch die Art dieser Einkäufe hätte wohl auf manchen den Eindruck machen können, als wenn die Frau, die für eine einfache Schweizerreise in dieser Art einkaufte, doch nicht ganz normal sei. Sie stattete die Kinder von Kopf bis zu Fuß neu aus. Lange hatte sie auf der Bank zu tun, wo sie sich mit dem Direktor persönlich unterhielt und diesem ihre Anweisungen gab. Und dann kam der Abend vor der Abreise. Paul war natürlich wieder in einer Kommissionssitzung und speiste dann mit den Herren. Frau Baumann war wie immer zeitig zur Ruhe gegangen. Agathe hatte die Kinder zu Bett geschickt, denn morgen in aller Frühe ging der Zug nach Basel. Sie waren alle sehr aufgeregt und mußten zeitig bei der Hand sein. Sie war allein. Und in dieser letzten Abendstunde, wie sie wußte der letzten, die sie in diesem dem Untergange geweihten alten Hause am Ritterwall verbringen würde, schlich sie sich noch einmal durch dieses ihr von Kindheit an so wohlvertraute Gebäude, in dem die Wiege ihrer Kindheit und Jugend gestanden, und in dem mit dem Eintritt Pauls das Schicksal ihres Lebens seinen Anfang genommen hatte. Dieses Haus, die Quelle der Wohlhabenheit und des Segens der Lenz' und der Badrutts, das Bürgerhaus der guten alten Tage würde sie nie im Leben wieder sehen! Dem Geiste einer neuen Zeit mußte es nach dem Willen ihres Mannes, wie schon ein gut Teil der Altstadt, zum Opfer fallen. Versinken, zusammenbrechen würde dieses Haus mit seinen behaglichen Zimmern, seinen breiten Treppen und bequemen Gängen, das Heim, in dem der Vater gestorben war, in dem sie zusammen mit Konrad, ein unschuldiges Mädchen, das von der Welt und ihren Tücken noch nichts wußte, groß geworden, bis sich eines Tages, von Pauls begehrlichen Blicken genährt, der verbrecherische Wunsch, alles für ihn und sich allein zu besitzen, in ihrer Seele geregt hatte. Fallen würde dieses Haus nach dem Wunsche ihres Mannes, der sich auch in dieser Stunde nicht um sie kümmerte, die ihre letzte Stunde in diesem alten Hause war! Und er sollte sich nichts um sie bekümmern! Aus der Erzählung der unglücklichen Frau Jost, deren armer Mann nun schon lange im kühlen Grabe ruhte, hatte sie ihn erst völlig erkannt. Ja, er war das, wofür sie ihn immer genommen hatte, und seinem unglückseligen Einflusse mußte sie die Kinder entreißen, vor allem ihren Robert, der unter der Leitung der Mutter die Güte selber geworden war. Sie sollten nicht groß und verständig werden und mit ansehen, wie der Vater alles und jedes seinem egoistischen Streben nach Geld und Ruhm zum Opfer brachte. Darum diese Reise und darum ihre sorgsamen Vorbereitungen, die Reise, von der die Kinder meinten, daß sie an den Vierwaldstätter See gehen sollte. Die Kinder würden nicht enttäuscht werden. Dorthin würde die Reise gehen! Aber dann nicht mehr zurück, nein, vorwärts in eine neue Welt und in eine neue Zukunft, hinaus aus dem alten Hause am Ritterwall, das ein Ausbau und Resultat philiströsen Kleinbürgertums und egoistischer Habgier gewesen war. Hinaus, über das Weltmeer, wenn es denn sein mußte!

Und am Vorabend dieser Abreise, als sich alles zur Ruhe begeben und als sie ganz allein war, durchwanderte sie noch einmal dieses dem Untergang geweihte Haus. Sie fand keine Ruhe in dem altmodischen Schlafzimmer, das einst auch das eheliche Gemach ihrer Eltern gewesen und in dem die Mutter ihr und Konrad das Leben geschenkt. Ihr Blick mied das in den letzten Wochen und Monaten von ihrem Manne meist erst in tiefer Nacht aufgesuchte Bett. Es war ihr, als ob sie nichts mehr an diese Ehe, die sie um ihrer Kinder willen durch die Flucht zu lösen entschlossen war, erinnern sollte. In dem trauten Raume, der zuletzt vor Eintritt der Katastrophe das gemeinschaftliche Wohn- und Eßzimmer gewesen, der es auch heute noch war, weilte sie lange! Und dann schritt sie, das Licht in der Hand, über die breiten Treppen. Hier fiel ihr Blick auf die alten Bilder und Prospekte, die Peter dereinst, ein unermüdlicher Sammler, zusammengebracht hatte, und auf einem Tischchen in der Ecke des Treppenhauses gewahrte sie das alte Modell »Abschied des Toggenburgers«, mit dessen Anfertigung sich Paul zuerst, ein noch nicht Zwanzigjähriger, einen Platz in dem Herzen ihres Vaters erobert hatte. Sie ging hinaus in den Hof. Dort setzte sie sich auf die Gartenbank. Es war eine wundervolle Nacht des nun beginnenden Hochsommers. Über die Giebeldächer der alten Stadt, deren einzelne von hier aus man zu sehen vermochte, schwebte die Sichel des zunehmenden Mondes wie eine silberne Gondel. Tiefer Friede schien über dem Häusermeere zu lagern, in dessen Eingeweide die rastlose Phantasie und die Habgier ihres Mannes unablässig, wie sie wußte, wühlten. Die Sterne standen am Himmel. Kein Wölkchen trübte sein von dem silbernen Glanze des Mondes überflutetes, nächtliches Blau. Gerade zu ihren Häupten stand der Wagen, sieben glitzernde, helle, große Sterne, die freundlich über ihrem Scheitel kündeten, daß des Heimatlosen Heimat überall unter diesem waltenden Himmel zu finden sei. »Um der Kinder willen«, sagte sie leise vor sich hin, »die nicht ein Leben der Habsucht und des Egoismus führen dürfen wie er« … »wie wir«, fügte sie rasch hinzu, denn wieder gedachte sie Konrads und des verbrecherischen Wunsches, der den Bruder aus Besitz und Heimat und schließlich aus dem Leben selber getrieben hatte.

Und in dieser Erinnerung an Konrad stieg noch einmal die ganze Vergangenheit, die sie von dem ersten Lallen des kleinen Mädchens an in diesem alten, nun dem Untergange geweihten Bürgerhause am Ritterwall verbracht hatte, aus dem Schoße der Sommernacht empor. Drinnen in dem gemeinschaftlichen Eß- und Wohnzimmer hingen in wurmzerfressenen vergoldeten Holzrahmen die Bilder der Lenz' und der Badrutts, die die Erbauer und Mehrer dieses Hauses gewesen waren. Der alte Urgroßvater Lenz und die Urgroßmutter, die einst keine Söhne gehabt und darum den fremden Josef Badrutt, den Engadiner, den Schwieger, in den Besitz des Geschäftes eingesetzt hatten. Wie oft hatte ihr die Mutter von diesen Ereignissen erzählt, die damals in der ganzen Stadt besprochen worden waren. Und neben dem würdigen Paare des Bäckermeisters und der Meisterin sah man den charakteristischen und schwarzgelockten Kopf Josefs, des Neuerers und Schöpfers, der des alten Lenz einziges Töchterchen geheiratet und die Firma der Lenz trotz seines schönen und fremdländischen Namens beibehalten hatte. Er und seine Frau waren die Pflegeeltern ihres Vaters, eines von Hause aus armen Knaben, des Gründers einer neuen Generation der Lenz, geworden. Und nun hatte es so geendet! Der Bruder tot in der Blüte seiner Jünglingsjahre, der Name der Lenz' und der Badrutts erloschen, und sie, die Erbin, die Frau Paul Baumanns, vor dessen unersättlicher Habgier, vor dessen alles überwucherndem Egoismus sie nun um der Kinder willen in die Fremde floh! Ja, es war in der Tat so! Ungemessen, ohne Grenze schien die Seele dieses Mannes zu sein, dem sie sich und das Ihre anvertraut hatte, und das alte Haus am Ritterwall, das nun fiel, war wie ein Symbol der versinkenden alten Zeit und ihres Glückes, über das er hinwegschritt kalten Herzens, den hoch in den Sternen hängenden Kranz der Ehrsucht und des Ruhmes, koste es auch was es wolle, zu ergreifen. Über sie und über die Kinder würde sein Weg gehen, wenn sie die Kinder nicht rechtzeitig seinem verderblichen Einfluß entzog, wenn sie blieb.

Ungeheuer war das, was er in den Jahren ihrer Ehe geschäftlich erreicht hatte, und ungemessen würde das sein, was er noch erstrebte. Denn der Geist der Baumanns, der das Erbteil seiner Mutter sein mußte, lebte auch in ihm! Diese Frau, die nun nicht mehr weit von den siebenzig war, mußte diese maßlose Energie in sich haben, die sie auf alle ihre Kinder, insonderheit aber auf ihre Söhne, übertragen hatte. Und sie, die in engen Grenzen Aufgewachsene und enge Grenzen sich selbst Ziehende, hatte ihr Schicksal an das Schicksal dieses Mannes gebunden, sie hatte ihm die Hand gereicht. Und nun mußte sie sich losreißen von ihm in raschem Entschlusse, wenn sie nicht ihre Kinder, die ja auch etwas von dem Geiste der Baumanns empfangen haben konnten, zum Opfer bringen wollte! Wahnsinnig und abenteuerlich wäre den Augen eines jeden anderen das gewesen, was Paul Jahr für Jahr, vom Erfolge niemals im Stich gelassen, wie ein sein Leben für nichts achtender Seiltänzer, in Szene gesetzt hatte. Die Gründung der Filialen, deren Zahl nun die sechzig überschritten hatte, der Kampf mit der Bäckerinnung, die gewaltige Fabrikanlage und die Einführung des Maschinenbrotes, an der jeder andere gescheitert wäre, seine aufreibende Tätigkeit im Dienste der Politik, die Vernichtung des Vaterhauses, ihres alten Erbes, und dessen Schenkung an die Stadt, der gewaltige Geschäftspalast, der nun als Ersatz für dieses Haus am Rande des Promenadengürtels entstand! Der Geist der Baumanns, der in ihm wühlte und wirkte, der ihn sicher und unbekümmert um sie und die anderen wie einen Nachtwandler seinen Weg gehen und finden hieß! Was sie von diesen Baumanns gehört und gelesen, trat nun in dieser Nacht der letzten Durchsicht der Vergangenheit als Seitenstück zu dem Bilde des kleinbürgerlichen und bescheidenen Lebens, das, so weit sie wußte, die Lenz' und die Badrutts geführt hatten. Grausige Geschichten hatte man ihr schon in ihrer Kindheit von Pauls ältestem Bruder Ewald erzählt. Ihre Schwiegermutter selber hatte in all den langen Jahren, die sie nun bei ihr in dem alten Hause am Ritterwall wohnte, niemals davon gesprochen. Daß Hilde Tänzerin gewesen und das elterliche Haus gegen den Willen ihres Vaters verlassen, wußte sie, sie kannte sie nun als die Frau Harry Seligers, für dessen Millionen es kein Ding der Unmöglichkeit gab und den die Leute in der Stadt den Börsenkönig nannten. Nur für Martha hatte sie ein zartes Verstehen, von Rolf, dem Unglückseligen, gar nicht zu reden und nun … Paul! Was plante, was wollte er? Einerlei! Sie hatte nur noch das bestimmte Gefühl, daß sie mit den Kindern Pauls Wege nicht gehen dürfe, daß er sie und die Kinder auf diesen Wegen, die in das Ungemessene führen mußten, zertreten werde. Der Geist der Lenz' und der Badrutts ließ sich mit dem der Baumanns nicht vermählen, und sie hatte geglaubt, dem Schicksal trotzen zu können, und hatte es dennoch getan!

Wohl zwei Stunden lang hatte Agathe einsam in tiefer Sommernacht auf der Bank des Hofes gesessen und alles war noch einmal im Bilde an ihr vorüber gerauscht im Schoße dieses alten Hauses, von dem sie wußte, daß sie es niemals wieder im Leben betreten würde. Alles: Kindheit und Jugend, der Vater, die früh verstorbene Mutter, der Bruder und der Freund, mit dem sie diese Ehe eingegangen, die gleich in der ersten Nacht durch uneingestandene und schwere Schuld getrübt worden war! Das Lallen der Kinder und das Jauchzen ihrer zarten Stimmen vernahm sie in dieser Nacht noch einmal in diesem Hause, ihre Freude wandelte noch einmal verklärt durch die alten Räume, wenn ein Geburtstag oder ein Weihnachtsfest gewesen! Die Kinder und diese Ehe, die niemals eine Ehe, die nichts weiter als ein Dahinleben an der Seite eines Mannes gewesen, in dessen Innerstem Frau und Kinder auch nicht den kleinsten Platz gefunden, die Ehe, die frühe Schuld eines verbrecherischen Wunsches in ihren ersten Anfängen beschmutzt und besudelt hatte!

Und leise hatte Frau Agathe in Gedanken an all das Vergangene vor sich hingeweint. Und dann war sie fröstelnd in das Schlafzimmer gegangen und hatte sich zum letzten Male in das Bett gelegt, das zur Seite des auch in dieser vorgerückten Stunde immer noch leeren Lagers ihres Mannes stand.

Und die Müdigkeit überwältigte sie. Sie schlief ein. Sie hatte Paul nicht zurückkommen hören, auch in dieser letzten Nacht nicht, wie so oft schon nicht in mancher Nacht!

Das Jauchzen der reiselustigen Kinder weckte sie in aller Frühe. Sie hatte alle Hände voll zu tun, um mit den vier aufgeregten jungen Menschenkindern fertig zu werden. Paul hatte schon gefrühstückt, als sie endlich mit den Kleinen im Eßzimmer erschien. Er entschuldigte sich, er habe es eilig, dringende Sachen seien wieder für diesen Vormittag anberaumt. Er wünschte den Kleinen frohe Ferien und küßte sie flüchtig. Leider könne er nicht mit zur Bahn gehen, und Agathe sei ja so selbständig, sie würde gewiß schon allein fertig werden. Sie lächelte trübe vor sich hin und reichte ihm, als er ging, die Hand. Sie hatte es auf den Lippen: »Paul, Paul«, und eine Zärtlichkeit von seiner Seite in diesem Augenblicke hätte sie vielleicht in allen ihren Entschlüssen wankend gemacht. Aber nichts dergleichen geschah. Wie an jedem Morgen ging Paul. Und sie küßte ihn nicht, sie wußte, daß er kein Freund von Zärtlichkeiten war, daß er sich den keuschen Kuß der Liebe und Freundschaft geflissentlich verbeten hatte.

In einer Stunde ging der Schnellzug nach Luzern, wohin durchzufahren Frau Agathe sich entschlossen hatte. Die alte Frau Baumann trank seit einiger Zeit ihren Kaffee im Bett. Die Kinder eilten hinauf in das Zimmer der Großmutter und verabschiedeten sich auf Agathes Weisung von dieser. Auch Agathe erschien für einen Moment. Dann rollte die Droschke mit der Frau und den Kindern, der wegen des vielen Gepäckes noch eine zweite folgte, nach dem alten Südbahnhof, der samt seinen benachbarten Genossen, gleich dem alten Hause am Ritterwall keine Zukunft mehr hatte.

Als der Zug sich in Bewegung setzte, sangen die Kinder. Robert stimmte an:

Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus,
Städtle hinaus, ade!

Da nahm Agathe ihr Tuch vor das Gesicht, ihr ganzer Körper schüttelte sich und sie schluchzte laut auf.

Die Ferien dauerten vier Wochen. In den ersten Tagen trafen regelmäßig Postkarten in dem alten Hause am Ritterwall ein, die von Agathe geschrieben und von den Kindern unterzeichnet waren. Sie erzählten von Ausflügen, die man gemacht hatte und von der Schönheit der Berge. Dann kam lange nichts. Frau Baumann ängstigte sich und Paul tröstete, sie werden sich eben zu gut amüsieren. Endlich am Beginn der vierten Ferienwoche brachte der Briefträger einen eingeschriebenen Brief. Er trug den Poststempel Genua, und von Sekunde zu Sekunde zitterte Pauls Hand heftiger, als er diesen Brief las:

 

Lieber Paul!

Eine Stunde, bevor unser Dampfer in See sticht, gebe ich diesen Brief zur Post. Es war eine unerträgliche Last, die Jahre dieser Ehe, eine Last, der ich mich nicht mehr gewachsen fühle. Denn ich weiß es mit aller Bestimmtheit, ein Unausgesprochenes, eine Schuld hat vom ersten Tage zwischen uns beiden gestanden und hat uns nie zusammenkommen lassen. Die Kinder, um die Du Dich nichts gekümmert, die Du also auch wohl als mein Eigentum anerkennen wirst, sollen in einer neuen Umgebung andere Menschen werden. Für ihren und meinen Unterhalt ist ja gesorgt.

Vielleicht sehen wir uns wieder nach Jahren. Vielleicht vermögen wir zusammen die Bürde des Alters zu tragen, wir, die die Freuden der Jugend und die Arbeit auf der Höhe des Lebens nicht zu teilen vermochten.

Mein wohlerwogener Schritt war unvermeidlich, denn ich und die Kinder, wir wären dort in der hastigen Jagd nach Unerreichbarem und Ungemessenem zugrunde gegangen. Ich habe die Grenzen erkannt und ich kann und darf die letzten menschlichen Gefühle gigantischen Träumen nicht zum Opfer bringen.

Leb wohl! Vielleicht kreuzen sich unsere Pfade wieder nach Jahren. Vielleicht in einer Zeit, wenn auch Du mich verstehen wirst.

Agathe.

 

Stundenlang brütete Paul über diesem Briefe. Und endlich rannen ihm Tränen, die er seit seiner Kindheit nicht wieder geweint hatte, über die Wangen. So fand ihn die alte Frau Baumann. Stumm reichte er ihr das Blatt. Und wortlos wankte die Mutter hinaus, nachdem sie dieses gelesen.

Wie ein Hauch schwebte es auf ihren welken Lippen: Vergeltung!

Es war Abend geworden und immer noch nicht war Paul zu einem Entschlusse gekommen. Was sollte er tun? Schon mehr als hundertmal hatte er es sich klar gemacht. »Eine Stunde, bevor unser Dampfer in See sticht, gebe ich diesen Brief auf die Post.« Vorgestern in der Mittagsstunde war dieser Brief in Genua abgestempelt worden. Weit über achtundvierzig Stunden waren seitdem verflossen, schon länger als achtundvierzig Stunden arbeiteten die Maschinen des Schiffes, griffen die Räder in die schäumenden Meereswogen, um die Meilen, die sich zwischen ihn und seine Frau mit den Kindern legten, zu vervielfachen.

Und welches Schiffes? Wo hatte sich Agathe mit den Kindern hingewandt, wohin war sie vor ihm geflohen? Anfänglich hatte er daran gedacht, die Polizei zu benachrichtigen oder noch besser selber an den deutschen Konsul in Genua zu telegraphieren! Bei diesem konnte er ja anfragen, welcher Dampfer vorgestern in der Mittagsstunde oder bald darauf den Hafen von Genua verlassen habe. Auch an die Direktionen der großen Schiffahrtsgesellschaften, die dort in Genua ihren Sitz oder ihre Agenturen hatten, konnte er sich per Draht wenden, an den Lloyd, an die Hamburg-Amerika-Linie, an die Veloce, an die Navigazione Italiana, an den Kosmos, an die Red Star – die Namen schwirrten ihm nur so durch den Kopf. Hier konnte er sich erkundigen, auf welchem Schiff eine Dame mit vier Kindern unter dem Namen Baumann Passage genommen habe. Aber wußte er denn, ob sie unter diesen Umständen ihren richtigen Namen in die Schiffsliste eingetragen hatte? Und was konnte ihm diese Erkundigung nutzen, da Agathe ja doch schon mit den Kindern auf hoher See schwamm und er kein Mittel an der Hand hatte, sie zur Rückkehr zu zwingen. Und dann! Wenn er Glück hatte, wenn er von einer der Gesellschaften erfuhr, daß sich Agathe auf dem und dem Dampfer eingeschifft habe, welches Mittel hatte er dann weiter an der Hand? Wie er sie kannte, hatte sie ihre Papiere sicher in Ordnung. Kein Mensch auf der Welt konnte die Frau, die Herrin ihres freien Willens war und über die nötigen Mittel verfügte, in Newyork oder sonstwo an der Landung verhindern. Er wußte, wohin sie fuhr, das war das einzige, was er erreichen konnte, nachdem sich das Weltmeer einmal zwischen ihn und diese Frau zu schieben begonnen hatte. Das Gesetz stand auf seiner Seite, aber das Gesetz nahm einen langsamen Gang. Wegen böswilliger Verlassung konnte er auf Scheidung klagen, konnte ihr die Kinder im Wege des Prozesses streitig machen. Aber damit war noch nichts geschehen, damit war die Reise nicht aus der Welt geschafft, waren die Meilen nicht überwunden, die sich nun unaufhaltsam zwischen ihn und Agathe legten.

Wenn er sich jetzt zunächst an die Polizei, den deutschen Konsul und die Direktionen der Schifffahrtsgesellschaften telegraphisch wandte, dann würde er vielleicht nach Tagen und Wochen in Erfahrung bringen, auf welchem Dampfer Agathe die Fahrt über das Meer angetreten hatte. Und das war und blieb auch alles! Aber eins würde er sicher erreichen, die Stadt, deren Beglücker zu werden er entschlossen war, in deren Mittelpunkte er heute schon stand, würde ein paar Wochen früher, als das sonst der Fall wäre, sich dieses interessanten Ereignisses bemächtigen, und schon morgen würde es von Mund zu Mund fliegen, daß es Agathe bei ihm nicht gehalten, daß Frau und Kinder von ihm auf und davon gegangen seien. Es war genug, wenn das langsam und allmählich bekannt wurde, wenn man Zeit gewann, sich zu überlegen, zu welchen Mitteln und Ausflüchten man greifen könne, um die Abreise Agathes und der Kinder, ihre Übersiedelung irgendwo anders hin, den Augen der Welt erklärlich erscheinen zu lassen! Der gewaltige Schmerz, den er selber für einen ehrlich empfundenen gehalten, konnte nach wenigen Stunden bereits derartigen Erwägungen der Klugheit Raum geben. Das große Werk, das er begonnen und das zu Ende zu führen er fest entschlossen war, drängte sich in der Tat schon an diesem ersten Tage zwischen ihn, Agathe und die Kinder – wie jenes Unausgesprochene, von dem sie in ihrem Briefe meinte, daß es immer zwischen ihnen beiden gestanden habe.

Und wenn seine Erkundigungen in Genua vergeblich wären, er glaubte beinahe, daß sie vergeblich sein würden, was dann? Dann hatte er hier dem Skandal vorzeitig die Tore geöffnet und jedes weitere Suchen nach Agathe und den Kindern würde ihm unmöglich und zwecklos sein. Wer sagte ihm denn, daß sie nach Newyork gefahren war, daß sie dort hin fuhr? Wie war er vorhin in seinen Gedanken gerade auf diese Stadt gekommen? Keine Andeutung in ihrem Briefe, von keinem Lande der Erde die Rede, nicht von Amerika und von einem anderen nicht! Der Satz: Eine Stunde, bevor unser Dampfer in See sticht und der Poststempel Genua, das war alles. Und Dutzende von Schiffen verließen an jedem neuen Tage diesen großen Hafen des Mittelmeeres in jeder Richtung nach allen Teilen der bewohnten Erde. Wo war eine Sicherheit, daß sich Agathe mit den Kindern nach Newyork gewandt habe! Nach dem Orient und nach Afrika, nach Ostindien, China und Japan führten hier die Wege bis in den fernsten Osten, und wenn man die Straße von Gibraltar durchfuhr, dann eröffneten der Atlantische Ozean und der Westen ihr endloses Gebiet. Wenn sie sich in der Tat west- und nicht ost- oder südwärts gewandt hatte, dann konnte sie gerade so gut wie in Newyork in Mexiko, in Rio oder Buenos landen oder sie konnte die Südspitze des Kontinents umfahren und erst in Valparaiso, Lima oder San Franzisko den Fuß auf amerikanischen Boden setzen. Schier unzählbar waren die Möglichkeiten, die sich den Flüchtigen vom Genueser Hafen aus eröffneten!

In der Tat, er hatte kein Mittel gegen sie in der Hand. Steckbrieflich verfolgen, verhaften lassen konnte er sie nicht, denn sie war nach dem Gesetze so gut wie er Richterin ihrer Taten und Pläne. Nichts vermochte er gegen sie, selbst wenn ihm der Zufall in diesem Augenblicke mitgeteilt hätte, wo sie eigentlich war!

Am folgenden Tage machte er dem Vorstand der Bank, bei der er ihr Guthaben eingezahlt hatte, persönlich einen Besuch und erkundigte sich vorsichtig, welche Bestimmungen seine Frau vor ihrer Abreise getroffen hätte. Und hier erfuhr er denn, daß sie schon vor Wochen ihr ganzes Guthaben bis auf einen kleinen Rest abgehoben und dessen Überweisung an ein Bankhaus in Newyork verfügt habe.

Das war ein Fingerzeig.

Paul verabschiedete sich von dem Direktor und dieser sah ihm kopfschüttelnd nach. Irgend etwas schien da nicht in Ordnung zu sein, da der Ehemann keine Ahnung von so wichtigen Dispositionen seiner Frau hatte.

Also reiflich überlegt und wohl durchdacht war Agathes Plan, das mußte sich Paul jetzt sagen. Schon vor Wochen hatte sie im stillen ihre Vorbereitungen getroffen, hatte sie den Entschluß gefaßt, sich und die Kinder seinem Einflusse zu entziehen. Was seine Mutter meinte, daß Agathe in einem plötzlichen Anfall geistiger Umnachtung in Genua das Schiff bestiegen habe und ohne Grund auf und davon gefahren sei, war also nicht richtig.

So vergingen Wochen und Paul tat nichts, um Agathe und die Kinder zu finden. Aber in den Schulen meldete er die letzteren ab und gab an, daß seine Frau, die den Lärm der Großstadt nicht vertragen könne, mit den Kindern für ein paar Jahre in ein kleines Landstädtchen übergesiedelt sei, und mit dieser seiner Angabe fand er nicht nur hier, sondern bei den meisten, die das hörten, Glauben. Man bedauerte ihn.

Und Paul, der so ganz von seinen Plänen erfüllte, überwand auch diesen Schmerz. Noch ein paar Monate sollte es dauern, dann würden, die Maurer die Hacke an das alte Haus am Ritterwall legen, dann würde dieses Haus vom Erdboden verschwinden, und der erste Spatenstich für den neuen Bahnhof, den Verwirklicher des Westprojektes, würde dann getan.

Er war allein! Und in manchen Stunden wollte es ihm scheinen, als ob er jetzt erst, von allem losgelöst, die wahre Kraft zur Erreichung seiner Ziele, ohne Ketten und ohne Fesseln, in sich fühle.


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