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Wochen gingen dahin. Paul leitete die Geschäfte in derselben Art, wie er sie schon manches Mal zu Lebzeiten Peters geführt hatte, mit dem einzigen Unterschiede, daß er nur noch von Zeit zu Zeit im Laden und in der Backstube erschien und sonst seinen Platz in dem kleinen Privatbureau des verstorbenen Chefs hatte, wo er die Bücher über Lieferungen, Eingänge und Ausstände gewissenhaft prüfte. Und hier eröffnete sich ihm nun in mancher stillen Stunde der Berechnung und des Disponierens mit jedem Tage klarer und deutlicher ein Überblick über den von ihm selber früher kaum geahnten Aufschwung, den diese Geschäfte unter Peters Leitung infolge der günstigen Zeitläufte genommen hatten. Hier gewann er erst einen Begriff von dem, was ihm Agathe mit ihrer Hand zu bieten hatte, wenn er Peters Erbe nach seinen Plänen und Absichten, dem Geiste der Zeit entsprechend, erweiterte.
Denn Paul, so jung er noch war, hatte eine ganz bestimmte Vorstellung von dem, was er in seinem Sinne und für seine Zwecke kurzerhand den Geist seiner Zeit zu nennen pflegte. Unter Peters Leitung hatte der Grundsatz der Badrutts noch die Führung der Geschäfte in hohem Grade beeinflußt, und dieser ließ sich in den einen Satz zusammenfassen: »teuer und gut«. Peter war, wie einst sein Pflegevater Badrutt, von der Meinung ausgegangen, daß Konditoreiwaren zunächst Luxusartikel seien, und aus diesem Grunde hatte er die Preise für seine Waren, die allerdings ihresgleichen in der ganzen Stadt zu suchen hatten, so hoch wie nur irgend möglich gestellt.
Für die Tage der Badrutts und die ersten glänzenden Jahre von Peters Geschäftsführung hatten die beiden mit ihren Grundsätzen allerdings recht gehabt. Aber schon seit längerer Zeit wollte es Paul bedünken, als ob die Zahl der Aufträge, mit denen das Publikum das Lenzsche Haus bedachte, von Jahr zu Jahr im Abnehmen begriffen sei. Er stellte Vergleiche aus den Büchern an, indem er die Zahl dieser Aufträge aus früheren Jahren mit denen der jüngsten Zeit verglich, wobei er auch das in stetem Wachstum begriffene Bevölkerungsniveau der Stadt und ihrer rasch emporblühenden Vororte in Betracht zog. Seine Rechnung stimmte. Die Zahl der Aufträge hätte die doppelte, ja die dreifache sein können, wenn man sich rechtzeitig alle Absatzquellen erschlossen hätte. Er grübelte nach, er suchte die Gründe, aus denen in den letzten Jahren zweifelsohne ein gewisser Stillstand in dem Lenzschen Geschäfte eingetreten war. Er studierte die Konkurrenz. Er verschaffte sich deren Prospekte, Reklamen und Preislisten. Und schon nach Durchsicht der ihm nun in die Hände gekommenen Drucksachen eröffnete sich ihm für das Lenzsche Geschäft eine ganz neue Perspektive. In dem alten Schlendrian der Badrutts und Peters war dieses alte und blühende Geschäft nicht weiterzuführen, wenn man nicht in wenigen Jahren, vielleicht in einem Jahrzehnt, am Ende schon früher, von der Konkurrenz an die Wand gedrückt sein wollte.
Noch war es nicht so schlimm, noch war alles gut zu machen und zu erreichen. So wie in den Zentren des Luxus und des Handels, in Paris, Wien, Berlin und London, sah es hier in seiner Vaterstadt noch lange nicht aus. Dort feierten gerade die eben entstehenden Warenhäuser ihre ersten Triumphe, und diese hatten in ihren Räumen als Anziehungs- und Sammelpunkte Konditoreien errichtet, in denen man die Ware zur Hälfte der einst noch von Josef Badrutt für das Lenzsche Geschäft festgesetzten und von Peter beibehaltenen Preise dem Publikum zur Verfügung stellte. Kein Zweifel, daß diese Ware an Qualität hinter der im Lenzschen Hause fabrizierten zurückblieb. Aber, aber! Nichts war leichter verdorben, als der Geschmack, gerade auf seinem Gebiete. Und dann, der Kreis der Abnehmer, die Zahl der Interessenten konnten sich infolge einer derartigen Verbilligung der Ware in wenigen Jahren verdoppeln, verdrei-, verzehn-, verzwanzigfachen, wenn man nur das Mittel fand, die Ware in alle Absatzgebiete, in jeden Winkel der sich gewaltig von Monat zu Monat entwickelnden Stadt hineinzutragen. Und das Publikum dieser Stadt passierte Revue vor Pauls geistigem Auge. Wer kaufte in dem Lenzschen Geschäfte und wen sah man hier niemals? Es war eigentümlich, in den Bestellbüchern kehrten immer die gleichen Namen wieder. Und doch gab es Hunderte und Tausende in der Stadt, die ebenfalls das Bedürfnis nach seiner Ware hatten und denen die einst von Josef Badrutt normierten und von Peter beibehaltenen Preise zu hoch gegriffen waren.
Wie lagen denn heute die Verhältnisse? Damals, als Josef Badrutt noch am Ruder gewesen, war es, wie seine Mutter ihm, wie oft schon, erzählt hatte, ein Privileg der Reichen, in eine Konditorei zu gehen. Damals, als die Hausfrau noch selber den Kochlöffel geschwungen, hatte es sich in Bürgerhäusern von selbst verstanden, daß man die süße Speise für den Sonntag, die Kuchen für die Feste, das Gebäck an Weihnachten daheim herstellte. Damals hatte man im Juli und August in jedem Haushalte ganze Eimer voll Früchte eingekocht und keine teuren Konserven gekannt. Und heute? Bei ihm kauften immer noch wenige! Aber da hatte sich schon seit einer Reihe von Jahren eine Wiener Feinbäckerei, die auch Konditoreiwaren herstellte, aufgetan, und in Kürze etwa dreißig Filialen in allen Teilen der Stadt errichtet, da war eine Fabrik, die billige Marmeladen und eingemachte Früchte in den Handel brachte, und ein halber Eimer von diesen Produkten, die doch gewiß auch genießbar sein mußten, kostete so viel wie bei Badrutts Berechnung ein Geleeglas voll.
Wie Schuppen fiel es Paul von den Augen. Der Absatz des Lenzschen Geschäftes konnte in kurzer Zeit verzehnfacht werden, wenn man sich rascher Hand entschloß, die Preise herabzusetzen und der Konkurrenz auf allen Gebieten die Spitze zu bieten.
Er brannte danach, so bald als möglich, das, was er sich zahlenmäßig, klar und deutlich in seinem Geiste vorstellte, in die Wirklichkeit zu übersetzen.
Die Wiener Feinbäckerei, deren Läden an jedem neuen Tage wieder überfüllt waren, wies ihm den ersten Weg. Auch er hatte schon davon gehört, daß Peter unter Umständen den Plan gehabt, das alte Haus am Ritterwall zu verkaufen und ein neues, ein dem modernen Geiste entsprechendes, elegantes, schon allein durch sein Vorhandensein von sich reden machendes Geschäftshaus in der Hauptverkehrsader der Stadt zu errichten. Das wollte ihm nicht in den Kopf. Das war nicht die erste Aufgabe, vor die er sich gestellt sah. Selbst vorausgesetzt den Fall, daß man das alte Haus am Ritterwall für einen außergewöhnlich hohen Preis losschlagen konnte, die Riesensumme, die ein wirklich imposanter Neubau auf einem Platze, von dem jeder Quadratmeter mit Gold aufgewogen werden mußte, verschlänge, blieb ein festgelegtes Kapital, von dem es sehr fraglich war, ob es überhaupt in absehbarer Zeit nennenswerte Zinsen abwerfe. Dieses Geld konnte ganz anders, konnte wirklich nutzbringend verwendet werden, wenn er sich die Wiener Feinbäckerei zum Muster nahm, wenn er die Preise für seine gute Ware im Sinne der Konkurrenz herabsetzte, und die Absatzgebiete durch die Aufmachung zahlreicher kleiner Filialen in allen Teilen der Stadt erweiterte und so zugleich das von den Badrutts und Peter sehr hoch angesetzte tägliche Verlustkonto an nicht verkaufter und mithin verdorbener Ware verminderte.
Das war das erste, was er nach seiner Überzeugung zu tun hatte. Von diesen seinen geheimen Plänen ließ er kein Wort verlauten. Über das, was er vor hatte, sprach er weder mit Agathe noch mit Frau Baumann, und so nahm das Leben der drei Menschen in dem alten Hause am Ritterwall monatelang seinen ruhigen Gang.
Paul arbeitete in dem Geschäfte und gab sich stundenlang der Berechnung aller Einzelheiten seines neuen Geschäftsplanes hin, mit dessen Verwirklichung er sofort beginnen wollte, sobald ihm Agathe durch ihre Heirat die Mittel und das Recht dazu in die Hände gegeben. Frau Baumann hatte sich wenige Wochen, nachdem sie ihren Einzug in das alte Haus am Ritterwall gehalten, der Führung des ausgedehnten Haushaltes bemächtigt, denn Agathes Wesen war von Tag zu Tag seltsamer und verwunderlicher geworden.
Es war, als ob das einzige Kind und die Erbin dieses Hauses eine seelische Last mit sich herumschleppe, die sie zu erdrücken drohte. Seit dem Tode des Vaters und Bruders, seit jenem ersten nächtlichen Zusammensein mit Paul, hatte sich ihrer eine Resignation bemächtigt, die allmählich die Form einer krankhaften Apathie anzunehmen schien. Es war ein seltsamer Zustand. Still und melancholisch konnte man Agathe nicht nennen, im Gegenteil, sie machte auf den Unbefangenen und in die näheren Verhältnisse nicht Eingeweihten einen vergnügten und heiteren Eindruck. Sie schien sorglos. Sie lebte in den Tag hinein, aß und trank, lachte und scherzte, schlief vorzüglich, und dennoch, gerade über die Dinge, die die beiden anderen innerlich beschäftigten, über die Ausgestaltung der nächsten Zukunft, vermochte man mit Agathe nicht zu sprechen.
Wenn Frau Baumann oder Paul in ihrer Gegenwart das Gespräch auf dieses Thema lenkten, dann sah sie die beiden erstaunt, wie fremd aus ihren großen, blauen Augen an, dann ließ sie dieses Thema sofort fallen, um über das gleichgültigste Ding von der Welt zu plaudern, und Paul und Frau Baumann mußten sie schlechterdings gehen lassen, sie mußten warten und warten, bis Agathe einmal selber das Wort in bezug auf die Ausgestaltung ihrer eigenen Zukunft ergriff.
So war der Winter vergangen.
Und endlich eines schönen Tages, schon war es April und die ersten Schwalben flogen zwitschernd durch die blaue Luft, brach Agathe das monatelange Schweigen.
Sie war am Vormittag mehrere Stunden von Hause fort gewesen, und Frau Baumann hatte, wie das schon lange ihre Gewohnheit war, den Morgen über in der Küche und im Hause gewirtschaftet. Nach dem gemeinsam eingenommenen Mittagessen begann Agathe.
»Die Wartezeit ist nun um!«
Erstaunt sahen sie Paul und Frau Baumann an, doch sie fuhr nun unbeirrt fort:
»Ich bin diesen Vormittag bei Rechtsanwalt Würzburger gewesen. Wir müssen nun ernstlich an die Zukunft denken und für diese sorgen, Paul! Du hast die Geschäfte diesen Winter hindurch geführt. Führe sie weiter für mich und für dich! Aber nicht in dieser ungewissen Stellung, sondern so, wie der Vater es gewollt hat, als mein Gatte und als Herr und Besitzer von alledem, was mein ist! Willst du das, Paul?«
In stummer Bejahung drückte er ihre Hand.
»Da ich noch nicht volljährig bin, ist die rechtliche Lage, wie mir Rechtsanwalt Würzburger auseinandergesetzt hatte, die folgende: Ich habe von meinem Vormund die Einwilligung zu meiner Verheiratung einzuholen, die mir dieser aber nicht verweigern kann. Und nach erfolgter Eheschließung hört das Vormundschaftsverhältnis auf. Ich bin bereit, Paul!«
Er konnte keine Worte finden, und Frau Baumann legte feierlich die Hand auf Agathes blondes Haar.
Wie seltsam sie war, mußte er auch jetzt wieder denken, noch seltsamer, als in jener Nacht, da sie sich voll Leidenschaft in seine Arme hatte drängen wollen.
Frau Baumann, die der Meinung sein mochte, daß sich die beiden noch manches unter vier Augen zu sagen hätten, entfernte sich aus dem Zimmer.
Da nahm Paul Agathe in seine Arme und preßte sie leidenschaftlich an sich.
Und sie wehrte ihm nicht, aber ihre Küsse hatten keine Kraft und ihre Arme legten sich schlaff um seinen Hals.
Er schauerte zusammen.
»Was hast du, Agathe, was fehlt dir«, stotterte er.
»Nichts, Paul, nichts! Fühlst du dich denn nicht glücklich, da du dich nun am Ziele deiner Wünsche siehst?«
Und er log: »Ich bin über die Maßen glücklich, Agathe, ich liebe dich, du schenkst mir den Himmel auf Erden.«
Wie er nur zu diesen Phrasen kam? Es war ihm, als wenn er diese Redensarten irgendwo gelesen hätte und als ob er sie nun dahinplappere, ohne ihren Sinn und Inhalt zu begreifen.
»Es war ein merkwürdiger Weg, Paul, den wir von Kindheit an zusammen gegangen sind und der uns nun zusammengeführt hat. Die anderen Gymnasiasten sahen mich über die Schulter an und mochten mich nicht leiden. Doch du bist immer gut zu mir gewesen. Und dann kamst du in unser Haus, und mir ist es immer so gewesen, als ob du in diesem Hause eine neue Heimat finden müßtest und als ob …« Sie schwieg.
»Was meinst du, Agathe«, forschte er nun, fast geängstigt, »was meinst du, als ob?«
»Als ob Konrads Platz der deine wäre und der deine werden sollte«, vollendete sie nun.
»Das hast du immer empfunden?« fragte er weiter.
»Und gewünscht«, fügte sie nun hinzu, »und dieser Wunsch, der ein Unrecht war, ist mein Verhängnis geworden.«
Sie zitterte an allen Gliedern.
Er schwieg eine Weile. Dann fragte er:
»Soll ich also die nötigen Formalitäten wegen der Hochzeit erledigen?«
Und sie antwortete: »Von einer Hochzeit kann unter den gegebenen Umständen doch nicht die Rede sein, Paul. Der Vater tot, der Bruder tot! Du meinst die Trauung, Paul, nicht die Hochzeit!«
Sie zitterte und er erbebte unter ihren Worten. Sie hatten ein Gefühl, als seien sie zwei Verbrecher, die sich im Dunkel der Nacht die errungene Beute zu teilen gekommen waren, und nicht ein Brautpaar, das Hochzeit machen will!
»So meinte ich es auch, Agathe«, sagte er nun rasch, »natürlich die Trauung. Ein lärmendes Fest wäre ja unter diesen Verhältnissen undenkbar, es bleibt alles wie es war, das Haus und das Geschäft. Es wird kaum eine Änderung geben, Agathe!«
»Kaum eine Änderung«, wiederholte sie, und mit diesen ihren Worten vermischte sich ein Seufzer der Verzweiflung.
»Wir halten natürlich keine Hochzeit mit Essen und Tanzen, mit guten Freunden und Bekannten«, sagte er nun rasch.
»Ich habe es mir so gedacht, Paul«, begann sie nun. Nach Ostern, wenn die stillen Tage im Geschäfte kommen, dann fahren wir auf das Standesamt und lassen uns von dem Pfarrer in dessen Wohnung einsegnen. Dann kehren wir nach Hause zurück, wie an jedem anderen Tage. Das wird die Ruhe der Toten nicht stören.«
Und nachdem er ihr nun sein Einverständnis mit diesem ihrem Vorschlage erklärt hatte, sagte sie weiter:
»Rechtsanwalt Würzburger verwahrt Papas wichtige Papiere. Da du nun in meine Rechte eintrittst, Paul, wird es gut sein, wenn du dich mit ihm in Verbindung setzst, um den Nachlaß zu sichten.«
»Ich werde alles ordnen, Agathe.«
Sie stand auf. Er begab sich hinunter in die Backstuben, wo man ihn um diese Zeit an jedem Tage erwartete.
Ein banges Gefühl beherrschte seine Seele, ihm war, als wenn er in dieser Stunde den größten Wunsch seines Lebens gegen eine Erfüllung eingetauscht hätte, die in der Tat gar keine Erfüllung war.
Und die stillen Geschäftstage nach Ostern kamen heran. Das Fest war in diesem Jahre spät gefallen, und so schrieb man schon Anfang Mai, als an einem blauen Frühlingstage zwei Wagen vor dem altertümlichen Rathause vorfuhren, in dessen erstem Stockwerk das Standesamt lag. In dem ersten Wagen saß das Brautpaar: Paul Baumann und Agathe Lenz, in dem zweiten Frau Baumann und zwei Herren, Bekannte der Familie, die man als Trauzeugen gebeten hatte.
Einfach und still, ohne jeden Pomp, fast ohne Feierlichkeit, ging alles von statten, so wie es Agathe gewünscht hatte. Das Ganze machte gar nicht den Eindruck einer Hochzeit, insonderheit nicht der einer von noch so jungen Leuten, die aller Voraussicht nach ein langes Leben vor sich hatten und für die kein Grund vorhanden schien, diesen Tag nicht als den verheißungsvollsten ihres jungen Lebens zu feiern. Am Abend führte Paul seine junge Frau in das eheliche Schlafgemach. Es war dasselbe mit den gleichen Möbeln und den gleichen Betten, in dem schon Peter mit seiner Frau geschlafen hatte, in dem Agathe und Konrad geboren worden waren.
Nichts hatte sich hier geändert. So hatte Paul Baumann die Erbschaft der Lenz' und der Badrutts angetreten.