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VIII.

Als Paul in später Nachtstunde nach Hause zurückkehrte, fand er zu seinem Erstaunen Frau Agathe noch auf.

Schon im Treppenhause empfing sie ihn und warf sich mit einer leidenschaftlichen Aufwallung ihrer Gefühle, wie er sie seit der Stunde ihrer Verheiratung nie mehr an ihr bemerkt hatte, in seine Arme.

»Heute muß ich mit dir reden, Paul«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Er hatte seine liebe Not, sich in die so plötzlich gegebene Lage hineinzufinden. Sein Kopf brannte. Er war noch übervoll von den Eindrücken, die er soeben empfangen hatte, und so bedurfte er der äußersten Anstrengung seines Willens, um Agathe und deren Gefühlsausbruch zu begreifen.

Sie führte ihn in das alte Eßzimmer, in dem die Hängelampe über dem Tische brannte. Seltsam! Heute nach beinahe zwölf Jahren fiel ihm nun hier plötzlich jene Nacht ein, in der er Agathe, ebenfalls hier in diesem Raume, wortlos gegenüber gesessen hatte, ohne die Fähigkeit, die von Jugend auf geliebte und heißbegehrte in seine Arme schließen zu können. Die alte Standuhr im Eßzimmer schlug halb eins.

Damals vor etwa zwölf Jahren mochte es dieselbe nächtliche Stunde gewesen sein, da Agathe, vor seiner Kälte erzitternd, in tiefer Scham darüber, daß sie sich ihm angeboten hatte, aus seiner Nähe geflohen war. Und nun waren sie in dieser Nacht an dieser selben Stelle heute wieder allein. Mann und Frau, die zwölf Jahre miteinander verheiratet waren, die vier Kinder zusammen gezeugt hatten, und dennoch, mehr als damals, zwei Fremde, von denen eines des anderen innerste Gedanken und Gefühle nicht mehr begreifen konnte.

»Ich muß mich mit dir aussprechen, Paul«, begann nun Agathe.

»Was hast du, Liebste?«

Sie unterbrach ihn.

»Nenne mich nicht so, Paul, du darfst mich nicht so nennen! Zwischen deine und meine Liebe ist schon in der ersten Nacht die Schuld getreten und die ist wie der Mehltau auf eine Knospe gefallen, die sich eben erschließen wollte, denn neben der Liebe stand ein anderes, das uns zusammengeführt hat, ein anderes, auf dem wir diese Ehe aufgebaut haben, die nun schon zwölf lange Jahre dauert, in der wir uns fremd geworden sind, fremd wie zwei Menschen, die nichts miteinander zu schaffen haben.«

Entsetzt sah er sie an.

»Ich verstehe dich nicht, Agathe!«

Und sie erwiderte:

»Höre mir genau zu, Paul! Das, was ich jetzt sage, ist wie ein Bekenntnis, ja mehr eine Beichte. Es wird dir alles erklären, wenn du die Fähigkeit, mich zu verstehen, nicht völlig verlernt hast. Wir waren zwei Schulkinder, als wir uns kennen lernten. Du warst der Kamerad meines Bruders, und mir gefiel es, daß du nicht hochmütig und stolz warst wie die anderen Gymnasiasten, die mit uns, den Zuckerbäckerskindern, niemals so recht etwas zu tun haben wollten. Dann kamst du in unser Geschäft, warst der Einwohner dieses Hauses, das Kind meines Vaters, wie Konrad und ich, und dennoch ein Fremder, einer, den man mit anderen Augen betrachtet und betrachten mußte, als seinen Bruder, wenn man ein junges und heißblütiges Mädel ist! Und mit diesen Augen lernte ich dich betrachten und ich meinte, du liebtest mich!«

»Ich liebte dich, Agathe«, warf er nun dazwischen.

»O nein, Paul«, sagte sie nun mit leiser, resignierter Stimme, »o nein, nicht mich, Paul, nicht mich! Wenn das der Fall gewesen wäre, dann hätte ich ja die Schuld nicht auf mich zu laden brauchen, dann wären wir ja ohne diese Schuld glücklich geworden, dann hätte Konrad ruhig in der Heimat bleiben können, dann wäre der Vater nicht vorzeitig gestorben, o nein, Paul!«

Sie hielt eine Weile inne, und er schwieg.

Es war zu furchtbar, wie diese da, der er das niemals zugetraut hätte, in seinem Innersten las, auch ohne daß sie eine Ahnung davon hatte, wie mächtig auch in seiner jungen Seele damals der glühende Wunsch nach dem Erbe des Freundes gewesen war.

Und Agathe fuhr in demselben Tone fort:

»Ich will dir den Beweis liefern, daß du nicht mich oder sagen wir nicht mich allein geliebt hast, damals, als du deine Hand zum ersten Male in Gedanken nach diesem alten Hause am Ritterwall und nach dessen einziger Tochter ausgestreckt hast! Wäre ich allein dein Begehr gewesen, dann hättest du mich damals, als ich allein mit dir in diesem Hause in tiefer Nacht gewesen, in deine Arme nehmen können, aber das konntest du nicht, Paul, weil der Schatten des Toten, an dessen Untergange wir beide die geheime Schuld des Wunsches tragen, bereits zwischen uns stand. Und noch aus einem anderen Grunde konntest du es nicht!«

»Noch aus einem anderen Grunde, Agathe?«

»Ja, Paul, weil … dein Begehren weniger auf mich, als auf die Erbin dieses Hauses und dieses Geschäftes gerichtet war!«

»Du tust mir unrecht, Agathe!« Er stieß diese Worte, die eine platte Lüge waren, leidenschaftlich hervor, aber er fand nicht den Mut, sie in seine Arme zu schließen, sondern er saß ihr kalt und ruhig gegenüber, wie damals, da ihn Schuld, die, wie sie ihm jetzt klipp und klar sagte, die Habgier geboren, von ihr getrennt hatte.

Und sie schien dieser Versicherung auch weiter keine Bedeutung beizumessen, denn sie fuhr unbeirrt fort:

»Meine Leidenschaft war eben größer und stärker, Paul, als die Kraft meiner Erkenntnis und der Wille zum Guten. Nachdem du einmal in das Geschäft meines Vaters eingetreten warst, wußte ich genau, was du erwartetest und was du verlangtest, und so trieb ich den Vater auf den Weg, den er und ich zum Verderben Konrads und zu unserem eigenen Verderben betreten haben.«

»Auf welchen Weg, Agathe?«

»Auf den Weg der Schuld, auf den Weg des verbrecherischen Wunsches, daß irgendein Zufall Konrad an der Übernahme des Geschäftes verhindern möchte, damit du, du allein, der Nachfolger und der eigentliche Erbe meines Vaters werden könntest.«

»Den Weg eines verbrecherischen Wunsches nennst du das?«

»Ja, Paul. Aber den Vater muß ich bei diesem meinem Bekenntnis und meiner Beichte in Schutz nehmen, denn ich lehrte ihn, Konrad und die Welt mit meinen Augen zu betrachten, ich nährte in dem Inneren meines Bruders die Sehnsucht nach der Ferne, damit er dir Platz machen sollte, und in deinem Herzen die Liebe zu der Heimat, zu dem Hause, das das deine werden sollte. Der Vater durchschaute mich nicht! Er war wirklich der Meinung, daß Konrad halsstarrig sei, daß ihn die Fremde eines Bessern belehren, daß er reuig heimkehren würde. Da kam der blinde Zufall in den Bergen und mein Wunsch ward schrecklich erfüllt.«

Agathe schwieg und Paul sann nach.

»Du bist eine Närrin, Agathe«, suchte er sie nun nach einer Weile zu trösten, »eine große Närrin, weil du die Eigenheit Konrads und seine ganze Lebensführung und Lebensauffassung einfach ausschaltest, indem du dich auf den romantischen und, verzeihe mir, überspannten Standpunkt stellst, daß ein Wunsch, der dich beherrscht hat, nach außen hin irgendeine Wirkung auszuüben imstande sei.«

Sie unterbrach ihn.

»Das habe ich nicht so gemeint, Paul, mein Wunsch und die Schuld, die ich durch diesen Wunsch auf mich lade, bleiben dieselben, bleiben gleich verbrecherisch, ob sie nun eine äußere Folge gehabt haben oder nicht. Man kann auch in Gedanken stehlen und in Gedanken töten, Paul!«

»Laß mich zu Ende reden, Agathe«, sagte er nun vorwurfsvoll, »du wirst mir recht geben und dich beruhigen. Du hast vorhin gesagt, der Vater sei der Ansicht gewesen, daß Konrad halsstarrig gewesen sei und daß die Fremde ihn heilen würde. Der Vater hat recht gehabt. Wenn Konrad wirklich den Wunsch gehabt hätte, das Seine zu halten, dann hätte ihn nichts in die Ferne gezogen, zumal da er doch nach dem Willen des Vaters hierbleiben sollte, und dann hätte er zum mindesten aus der Fremde den Wunsch geäußert, nach Hause zurückzukehren.«

Und sie zu überzeugen, sich selber weiter und weiter in seine Trugschlüsse und Folgerungen hineinzuführen, beharrte er auf dem von ihm wohl als falsch erkannten Standpunkte der Anklagen gegen Konrad, der Vorwürfe gegen den Toten, der ihm ja nichts mehr erwidern konnte.

»Den Leichtsinn Konrads und seine Genußsucht, seine Lust am Abenteuer und seine Scheu vor der Arbeit, das alles, was dieses Geschäft unter seiner Führung vielleicht an den Rand des Abgrundes gebracht hätte, führst du nicht an, Agathe, das vergißt du, weil dein Wunsch ihn in den Tod getrieben haben soll, den doch nichts als ein blinder Zufall über ihn verhängt hat.«

»Wie wir doch die Welt so seltsam verschieden betrachten, Paul, wir, die wir uns einst so ähnlich zu sein glaubten!«

Sie schüttelte den blonden Kopf.

»Du siehst nur die Tatsachen, nur die Erscheinung! Du sagst immer, das ist so, weil es so ist! Und ich habe so ganz anders schauen gelernt, seitdem mir der Tod Konrads die Augen so schrecklich geöffnet hat!«

»Was soll das heißen, Agathe?«

»Das soll heißen, Paul, daß ich in all den zwölf Jahren, in denen wir nun nebeneinander hergehen, immer nur nach innen geschaut habe, während du immer nur nach außen gesehen hast!«

»Und konnte ich dich jemals lehren, mit mir nach außen zu schauen, Agathe, dich, die es sich immer verbat, daß ich mit dir von dem sprach, was mich innerlich bewegte, von den Geschäften, die mir der Vater sterbend auf die Seele band?«

»Er hätte es nicht getan, wenn er meinen Wunsch gekannt hätte, Paul, glaube mir, er, der an Konrads Tode zugrunde ging, er hätte es nicht getan! Dies war und ist der Punkt, durch den wir einander fremd werden mußten, denn ich habe nicht die Kraft, dich zu lehren, daß du nach innen schaust, und ich selber, ich darf mit dir nicht nach außen schauen, weil der Besitz und die Ausgestaltung dessen, was dich allein bewegt, die Frucht meines verbrecherischen Wunsches ist! Die Geschäfte! Mit wachsendem Schrecken, Paul, habe ich sie von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr trotz allem verfolgt. Ich habe mit angesehen, wie sie dich ganz gefangen nahmen, wie sie den inneren Menschen in dir ertöteten, auf den dein Blick niemals gerichtet war. Nicht einmal um die Kinder hast du dich gekümmert!«

»Sie besuchen ihre Schule, sie sind in deinen Händen vortrefflich aufgehoben, da du dich doch nur mit ihnen allein beschäftigst.«

»Weißt du das mit aller Bestimmtheit, Paul? Und wenn sie nun das Gegenteil ihres Vaters würden, wenn sie eben nur nach innen zu blicken gelernt hätten? Paul, Paul! Ich besaß dich nicht mehr, als die Geschäfte wuchsen und wuchsen und als ich mich um diese Geschäfte nicht mehr bekümmern wollte und durfte. Ich kann dich also heute nicht mehr verlieren. Aber ich warne dich! Du planst Ungeheures, o, ich weiß es! Ich ahne es! Dein Blick ist mehr denn je nach außen gerichtet, und was du dahingibst, du glaubst es nicht!«

»Was weißt du, Agathe?«

Zitternd hatte er diese Frage hervorgestoßen, als wenn er fürchtete, daß jemand an das Geheimnis seiner gewaltigen Pläne gerührt hatte.

»Ich weiß nichts«, sagte Agathe voll Ruhe. »Aber ich kenne dich! Wenn du eine Sache mit solcher Leidenschaft ergreifst wie eben die Wahl, dann mußt du Pläne in deinem Innern erwägen, Paul, die das, was du bislang erreicht und geleistet hast, gewaltig übersteigen. Ich ahne Ungeheures, das vielleicht dich und uns alle zugrunde richten wird, aber ich weiß nichts.«

Einen Augenblick verlor er seine Selbstbeherrschung.

»Agathe«, stammelte er.

Dann hatte er sich wieder völlig in der Gewalt und in erstaunlicher Ruhe sagte er nun lächelnd:

»Du irrst, Agathe.«

Und nun entwickelte er ihr die große Lüge seines Lebens, an die er in diesem Augenblicke beinahe selber glaubte.

»Ich habe fast übergenug von den Geschäften«, begann er. »Ich habe in den zwölf Jahren, in denen ich nun diese Geschäfte führe, mehr erreicht, als ich jemals zu hoffen gewagt. Wir sind reich. Agathe, doppelt, dreifach, vierfach so reich, als wir beim Tode des Vaters waren, und die Geschäfte gehen unter der Leitung meiner Direktoren weiter, ob ich eine Hand dazu rühre oder nicht! Das ist wie eine große Maschine, in der alle Räder ineinandergreifen und die nichts mehr zum Stillstand bringen kann. Und nun soll meine Arbeit, die zwölf Jahre hindurch nur mir gegolten hat, den anderen gelten, der Vaterstadt, der Bürgerschaft, dem Wohle des Ganzen. Das ist der Sinn dieser Wahl! Du hast mich bei meiner Rückkehr mit deinem Aufbleiben und der Mitteilung deiner Sorgen und Gedanken überrascht, und ich habe dich zu Ende sprechen lassen, Agathe! Vielleicht bringst du nun meiner neuen Beschäftigung dein Interesse entgegen, die nun nichts mehr mit dem, wie du sagst, aus einem verbrecherischen Wunsche erworbenen Geschäfte deines Vaters zu tun haben wird.«

Er lächelte überlegen, als ob er das alles, was er da sagte, selber glaubte, als ob nicht sein inneres Auge schon wieder auf dem Plane der neuen Stadt ruhte, die auf dem von Peter erworbenen Terrain um einen neuen Riesenbahnhof entstehen sollte, und er sah, daß Agathe seinen Worten auf einmal ein ganz ungeahntes Interesse entgegenzubringen schien.

»Im Dienste der anderen willst du jetzt arbeiten, Paul«, rief sie erfreut, als wenn sie mit einem Schlage umgewandelt wäre, »das wolltest du, das wolltest du wirklich? Im Dienste des Ganzen, für die Güte, Paul?«

Er ergriff ihre Hand.

»Das will ich, Agathe«, log er nun weiter mit fester Stimme. »Im Dienste des Ganzen für die Allgemeinheit, wie du dich ausgedrückt hast, für die Güte! Meinst du denn, das Leben, das ich bislang geführt habe, hätte mich befriedigt? Geschäft und immer wieder Geschäft! Du hast mich darben lassen, Agathe, du hast dich von mir zurückgezogen, und gerade dieser Umstand trieb mich tiefer und tiefer mit jedem neuen Tage in diese Arbeit hinein. Aber eines hast auch du übersehen, das eine nämlich, daß auch meine Geschäfte, auch die, welche ich in den letzten Jahren begründet und geführt habe, nicht lediglich den Zweck des Geldverdienens verfolgten.«

Erstaunt, ungläubig sah sie ihn an.

»Nicht lediglich den Zweck des Geldverdienens, Paul«, wiederholte sie.

»Allerdings mit dem Gedanken, den Kreis unserer Kunden zu erweitern, nahm die Sache ihren Anfang, Agathe! Aber bald sah ich ein, daß das nicht das einzige war und nicht das einzige sein konnte. Meine Ideen schlugen glänzend ein, meine Pläne verwirklichten sich in von mir selbst wohl kaum geahnter Weise. Die Gründung der kleinen Filialen, von denen du ja auch trotz deiner sonstigen Teilnahmslosigkeit weißt, war der richtige Weg, auf dem ich den ersten verheißungsvollen Schritt tat, indem sie Tausende und Abertausende, die von der Existenz unseres Geschäftes kaum eine Ahnung hatten, in unser Interessegebiet hineinzogen. Und aus der Gründung dieser Filialen erwuchs wie von selber das Größte, was ich bislang ins Leben gerufen habe, die Brotfabrik, die heute den wichtigsten Teil unseres Geschäftes ausmacht. Sie beschäftigt jetzt schon über dreihundert Arbeiter, sie liefert an jedem Tage zirka 50 000 Laibe Brot, die halbe Stadt, vor allem die armen Arbeiter beziehen dies wichtigste Nahrungsmittel von uns, billiger und besser, als es die Bäcker zu liefern imstande sind, das ist doch auch schon eine Tat im Dienste des Ganzen, zum Wohle der Allgemeinheit!«

»Das wäre es wohl, Paul«, meinte nun Agathe mit ernster Miene, »wenn du nicht, wie du vorhin gesagt hast, durch diese Gründungen das Vermögen der Lenz' und der Badrutts verdrei- und vervierfacht hättest. Aber so, Paul, so, so vermag ich nicht recht an diese soziale Tat im Dienste der Allgemeinheit zu glauben.«

»Ich habe dir ja schon zugegeben, daß diese Gründungen nicht frei von jedem Egoismus waren. Daß sie uns einander so entfremden würden, das freilich habe ich nicht gewußt.«

»Nicht diese Gründungen, Paul, die Schuld des Wunsches aber, von der ich vorhin gesprochen habe.«

»Lassen wir das, Agathe. Ich habe dir meine Meinung über den Teil der Schuld, den Konrad sich selber zuzuschreiben hat, bereits auseinandergesetzt. Du hast die Zeitungen gelesen? Du weißt, wo ich an diesem Abend gewesen bin?«

»Du meinst, Paul?«

»Nun, das Komitee der demokratischen Partei hat mich, wie du wohl weißt, zum Kandidaten für die in kurzer Zeit stattfindende Neuwahl vorgeschlagen. Es ist die Stellung von Alexis Moser, die durch dessen Krankheit frei geworden ist. Er war der Führer der städtischen Politik, Agathe! Sein Nachfolger kann und wird sich zu eben dieser Stellung emporschwingen. Heute abend war die erste Wahlversammlung, in der ich für das Ganze, im Dienste der Allgemeinheit, zum Wohle dieser Stadt, für die Güte mein Programm entwickelt habe, und gleich an diesem ersten Abend hat man …«

»Was hat man, Paul?«

Voll Spannung kam diese Frage von ihren Lippen.

Und er vollendete:

»Hat man von gegnerischer Seite dasselbe versucht, was du soeben getan hast. Man hat meiner Programmentwicklung, der Politik, die ich führen zu wollen öffentlich verkündigt, egoistische Beweggründe untergeschoben.«

»Und du, was hast du auf diesen Vorwurf geantwortet?«

»Ich habe mit einer kühnen, vielleicht allzu kühnen Wendung die Situation für diesen Abend gerettet. Aber nur für diesen Abend! Wenn ich meinen Worten nicht die Tat folgen lasse, wenn ich den Wählern und der ganzen Stadt nicht den unumstößlichen Beweis liefere, daß der Vorwurf, den man gegen mich erhoben, ein durchaus unberechtigter war, dann kann schon heute alles verloren sein. Und zur Lieferung dieses Beweises bedarf ich deiner Hilfe, Agathe!«

»Meiner Hilfe? Du, der niemals in zwölf langen Jahren nach meiner Meinung gefragt hat?«

»Ja! Die Stunde ist günstig. Was ich bei meinem Eintritt in dieses Haus heute abend noch für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten, es ist, wenn du willst, Agathe, durch unsere Aussprache möglich geworden. Aber es ist ein großes Opfer, das ich von dir verlange.«

»Wenn dieses Opfer in meinen Kräften steht, wenn es die Fähigkeit in sich trägt, uns einander nahe zu bringen, wenn es dich dafür gewinnen sollte, deine Kraft in den Dienst der anderen ohne den Stachel des Egoismus zu stellen, wenn es die Schuld des verbrecherischen Wunsches sühnen kann, dann, Paul …«

»Ich glaube, daß es diese Zauberkraft in sich trägt, Agathe. Aber du wirst viel aufgeben müssen, etwas, wovon ich glaube, daß es dir ganz besonders wert und teuer ist!«

»Nenne es, Paul!«

»Ich muß es dir genau erklären, Agathe, damit du mich ganz verstehst. Du bist die alleinige Erbin des gesamten Besitzes der Lenz' und der Badrutts. Auch dieses Haus ist dein uneingeschränktes Eigentum.«

»Und deines, Paul.«

»Doch nicht so ganz, Agathe! Was wir gemeinsam erworben, das ist unser, dein, was du mit in die Ehe gebracht hast, also auch dieses Haus, und um dieses Haus handelt es sich. Es ist dein Vaterhaus, die Heimat deiner Eltern, unsere Heimat, die Stätte, wo du den Kindern das Leben geschenkt hast, und mehr als das, das alte Wahrzeichen, die Stammburg der Lenz' und der Badrutts! Ich liebe dieses Haus, auch ich, der Fremdling, der in dieses Haus eingedrungen, ich liebe es!«

»Nun?«

»Zwar habe ich schon lange den Plan, fern von der Altstadt mitten im Verkehre ein großes, neues Geschäftshaus, eine Zentrale, zu errichten. Denn dieses Haus genügt den Anforderungen der vergrößerten Geschäfte schon lange nicht mehr. Aber ich hatte immer die Absicht, das Stammhaus der Lenz' und der Badrutts als Wahrzeichen des Handwerkes, das seinen goldenen Boden hat, zu erhalten, einerlei um welchen Preis, wenn auch die Baumanns die Geschäfte in einem anderen, in einem der Neuzeit entsprechenderen Hause führen würden. Der alte Kasten, wie er hier steht, stellt noch nicht den Wert von Hunderttausend dar. Aber der Grund und Boden könnte unter gewissen Umständen auf das Doppelte dieses Wertes steigen, und gerade diese Tatsache ist es, die sich mir und meinen Plänen, als dereinstiger Führer der demokratischen Partei im Dienste der Allgemeinheit wirken zu können, schon heute hindernd in den Weg stellt. Hast du etwas von dem Projekte der sogenannten Sanierung der Altstadt gelesen, Agathe, das sich Oberbürgermeister von Klopp ausgearbeitet hat?«

»Ich habe mich nie mit solchen Fragen beschäftigt, Paul!«

»Nun, das Projekt des Oberbürgermeisters geht dahin, den Osten der Stadt durch eine große und breite Straße, der ein gut Teil der Altstadt zum Opfer fallen müßte, mit dem Westen zu verbinden. Diese für den Verkehr und die Entwicklung der Stadt unentbehrliche breite Straße würde hier auf dem Ritterwall münden und unser Anwesen wäre alsdann eines von den Grundstücken, die diese neue Straße von dem Hauptplatze, an dem mein Café zum Archiv liegt, trennen. Du verstehst mich, Agathe?«

»Vollkommen, Paul.«

»Wird nun die Ausführung des Kloppschen Projektes durch Beschluß der Stadtverordnetenversammlung zur Tatsache, dann fällt unser Haus in die Straßenlinie, und die Stadt wird sich gezwungen sehen, uns dieses Haus um jeden von uns geforderten Preis abzukaufen. Das ist die große und unberechenbare Gefahr, in der ich mich eben befinde.«

»Du nennst die Aussicht, den Wert unseres Hauses durch einen glücklichen Zufall auf das Doppelte zu steigern, eine Gefahr?«

»In meiner gegenwärtigen Lage, ja. Denn diese Aussicht ist es, die meine großen Pläne, mich aufzuschwingen zum Führer der demokratischen Partei an Mosers Stelle und meine Kraft ganz in den Dienst der anderen stellen zu können, vernichten wird.«

»Was bleibt dir also zu tun übrig?«

»Ich muß mich dieses Hauses entledigen, um in politischer Beziehung völlig freie Hand zu haben, und dazu bedarf ich deiner Zustimmung, Agathe.«

»Du willst also, wenn ich dich recht verstehe, das Haus rasch an einen Dritten verkaufen, ehe die Stadt gezwungen sein wird, zuzugreifen, um nicht den Anschein zu erwecken, daß du für die Sanierung der Altstadt nur aus dem einen Grunde eintrittst, weil durch diese Sanierung dein eigenes Haus das Doppelte an Wert gewönne?«

»Der Verkauf an einen Dritten würde unter den gegebenen Umständen nicht genügen. Er würde auch für den Augenblick seinen Zweck gar nicht erfüllen, weil sich ein solcher Verkauf nicht im Handumdrehen bewerkstelligen läßt. Die Wahlen stehen vor der Tür, und noch bin ich nicht gewählt! Meine Handlungsweise müßte in den nächsten Tagen vor aller Welt den Beweis erbringen, daß ich mit der Vertretung der Kloppschen Pläne alles andere als egoistische Pläne verfolge. Und nun könnte ich der Stadt und ihrer Bevölkerung diesen Beweis liefern, wenn du mir zustimmst und mir freie Verfügung über dieses Haus gibst!«

»Ich habe dir meine Zustimmung ja schon gegeben, Paul, ehe ich wußte, um was es sich handelte. Also sprich klar und deutlich, was du mit diesem Hause vorhast?«

»Das kann ich erst dann, wenn ich mich vor dir und durch dich vor den noch unmündigen Kindern gerechtfertigt habe. Denn man wirft nichts fort, ohne dazu durch die Lage, in der man sich befindet, berechtigt zu sein. Und ich glaube in diesem Falle das Recht zu meinem verantwortungsvollen Schritte zu haben. Die Summe, die dieses Haus auch nach der Wertsteigerung seines Platzes durch die Anlage der neuen Straße darstellt, bedeutet für mich, Gott sei Dank, nicht mehr, als den geschäftlichen Reingewinn von drei oder vier Jahren. Ich arbeite drei oder vier Jahre ohne Gewinn, und wir sind wieder im Besitze der Summe, die ich, um meinen Idealen dienen zu können, verschenkt habe. Es wäre eine Stiftung zu Lebzeiten, deren Wert allerdings dir und deinen Kindern abgeht, aber immerhin eine, die mir Bewegungsfreiheit schaffte und die ich aller Voraussicht nach bei meinem Alter in kurzer Zeit wieder einbringen kann.«

»Und du wärst dazu imstande, Paul, um deiner Ideale willen ein solches materielles Opfer zu bringen?«

Voll Entzücken hatten sich diese Worte den Lippen Frau Agathes entrungen. »Und laß mich an deiner Seite für diese Ideale arbeiten«, fügte sie nun in heller Begeisterung hinzu.

Er hatte sie noch nie in diesem Zustande gesehen. Das Rätselhafte ihres Wesens schien sich ihm in diesem Augenblicke zu lösen. Es war ja klar. Der vernichtende Gedanke, daß sie durch ihren Egoismus den Bruder in die Fremde und in den Tod getrieben, hatte sie nimmer verlassen können, hatte es ihr unmöglich gemacht, in all den Jahren Anteil an seiner Arbeit zu nehmen, die nach ihrem Empfinden nur der Vermehrung der einst durch Schuld erworbenen Reichtümer galt. Und nun, da sie ihn zum ersten Male im Leben selbstlos glaubte, reichte sie ihm die Hand. Jetzt war der Augenblick gekommen, da er sie völlig an sich binden konnte, und scheinbar erstaunt richtete er an sie die Frage:

»Du hast mir also so viel Selbstlosigkeit im Dienste einer großen Sache nicht zugetraut, Agathe?«

»Verzeihe, wenn ich mich in dir geirrt habe, Paul«, sagte sie weich, »und laß mich von heute ab teilnehmen an der großen Arbeit, die du im Dienste der anderen leisten willst. Du hast meine Zustimmung zu jedem Schritte, den du für recht und vernünftig hältst.«

»Ich danke dir«, sagte er voll innerer Erregung. »Mit einer Schenkung werde ich meine Tätigkeit beginnen, die das große Werk der Reform in die Wege leiten soll. Ich werde das alte Haus am Ritterwall, das für mich als Geschäftshaus nichts mehr taugt, der Stadt für den Durchbruch der neuen Straße zum Geschenk machen. Dann will ich sehen, ob ein Jost noch behauptet, daß ich für die Sanierung der Altstadt nur aus dem einen Grunde eintrete, um mich durch den Ankauf dieses Hauses, zu dem die Stadt gezwungen sein würde, zu bereichern?«

Da warf sich ihm Agathe an den Hals.

»Dies sei der erste Beweis, Paul, daß du nicht der bist, als den ich dich in all den Jahren genommen habe! Verzeih, Verzeih!«

Und er küßte sie großmütig auf die Stirn, als ob er ihr wirklich etwas zu verzeihen hätte, als ob sie sich wirklich in all den Jahren über die innersten Motive seines Handelns im Irrtum befunden habe. Und nun trotz der Lüge, die er auf seiner Stirne brennen fühlte, von sich und seinem gewaltigen Vorhaben begeistert, begann er vor Agathe, als wenn er sich wieder in der Volksversammlung befände, den Plan zu entwickeln, der ihn seit Jahren beherrschte, seitdem er den Zusammenhang zwischen Peters Bauplänen und dessen Grundstücken herausgefunden hatte.

»Ja, das, was wir im Dienste der Allgemeinheit planen, Agathe, was Opfer über Opfer an Arbeit und Geld erfordern, was die Sache der demokratischen Partei und mithin meine Sache sein wird, das ist noch etwas ganz anderes, als der große Straßendurchbruch, dem dieses alte Haus zum Opfer fallen und der den Osten und Westen mitten durch die Altstadt hindurch miteinander verbinden wird. Denn diese Straße ist nur der Anfang von dem, was da kommen soll. Das Wachstum der Stadt erfordert neue Erwerbsquellen für Tausende, der von Tag zu Tag zunehmende Verkehr wird Tausende und Abertausende in diese Stadt führen, wenn wir ihn in die richtigen Bahnen gelenkt haben, und hierzu bietet jene Straße von Ost nach West die erste Handhabe. Und wenn dies der Fall sein wird, dann wird hier dem Handel und der Industrie durch uns eine neue Ära der Blüte erstehen, Fabriken und Arbeiterviertel werden sich erheben an Stellen, wo jetzt nur wertloses Brachland sich breit macht, Tausenden wird dadurch die Lebensmöglichkeit und die Gelegenheit zur Arbeit geboten werden, und eine neue Stadt sehe ich im Geiste schon emporwachsen, die ihre Arme breiten wird nach Westen und Osten, nach Süden und Norden bis an den Fuß des Gebirges, bis zum fernen Waldessaume, und für sie selbstlos und rastlos zu arbeiten, das soll fortan der Zweck meines Lebens sein, nachdem ich die Geschäfte soweit gebracht habe, daß sie fürderhin laufen werden, wie das Getriebe einer Maschine, in der ein Rad tadellos in das andere greift! Die Schenkung, zu der du mir deine Zustimmung gegeben hast, sei der erste Schritt.«

Agathe war begeistert. Sie umarmte Paul, sie küßte ihn, wie sie ihn in den zwölf Jahren ihrer Ehe noch niemals geküßt hatte. Die Schuld des verbrecherischen Wunsches war vergessen in dieser sie selig machenden Stunde, da ihr Paul die Hand zu einem Werke reichte, das sie ähnlich, aber ohne sich eine deutliche Vorstellung davon bilden zu können, in der bei ihren Kindern angewandten Erziehung zur Güte gesehen hatte.

Sie gingen zur Ruhe. Glücklich schlummerte Agathe ein. Friedliche Bilder erfüllten ihr Herz, ehe sich der erquickende Schlaf auf ihre Lider senkte. Ihr war, als wenn sie in all diesen Jahren ihrer Ehe wie in einem bösen Traume gewandelt hätte. Nun kam es ihr vor, als ob sie heute am Anbeginn eines neuen Lebens stünde, nachdem sie, wie sie glaubte, heute zum ersten Male Pauls wahres Gesicht geschaut. Dieses Haus, an dem für sie die alte Schuld des verbrecherischen Wunsches haftete, würde über kurz oder lang im Dienste der Allgemeinheit vom Boden verschwinden, und in einem neuen Hause würden sie neue und andere Menschen werden, wie ihre Kinder, die sie zur Güte erzog, neue und andere Menschen werden sollten. Mit solchen Gedanken und Vorstellungen war sie eingeschlafen, während sich Paul ruhelos auf seinem Lager wälzte. Er hätte schreien mögen, aber er vermied jeden Laut, aus Angst, Agathe zu wecken, aus Angst, diese könne Licht anzünden und würde alsdann in sein Gesicht schauen, auf dem Schuld um Schuld in unverwischbaren Runen eingegraben stand.

Es würde fallen dieses Haus, das auch er so heiß und ohne Skrupel begehrt hatte, das sagte auch er sich ein über das andere Mal. Zwölf lange Jahre, die er in rastloser, gierig alle Schätze zusammenraffender Arbeit sinnlos dahingebracht, hatte das Gespenst seiner Gewissensschuld geschwiegen, war es ihm nicht mehr erschienen, zwölf lange Jahre nicht! Und nun stand dieses Bild wieder vor seinen entsetzten Blicken, wie in jener Nacht, da er vor dem Sterbebette Peters geflohen war, ein Verzweifelter, in der Meinung, Konrad könne wiederkehren und das Seine fordern. Da war er wieder, der Freund, den er mit vollem Bewußtsein und ohne Besinnen, wie einst Jakob den Esau, um seine Erstgeburt betrogen hatte, da stand er wieder an seiner Seite!

Ja, dieses Haus mußte fallen!

Daß er nicht gleich daran gedacht hatte, daß die Schuld, die dieses Haus in sich barg, das innerste Motiv für seinen plötzlichen Entschluß zu dieser großartigen Schenkung war! Erst Agathe hatte es wieder aufgerüttelt aus dem Schlafe, in den es auf ewig versunken gewesen zu sein schien, zwölf lange Jahre hindurch … das Gespenst!

Straße würde dieses Haus werden, durch die bei Tag und bei Nacht die Menschen wandelten, so daß es keinen Raum mehr für Gespenster der Vergangenheit gab!


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