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VII.

Paul war wie in einem Rausch. Zwei Jahre waren verflossen, seitdem er auf Betreiben des Stadtrats Kölsch die Leitung des neuen Cafés im alten Archiv übernommen hatte, und nun brachte der Herbst die neuen Wahlen für die Stadtverordnetenversammlung. Durch Ausscheiden einer Reihe von Herren war eine kleine Anzahl von Mandaten frei geworden. Unter diesen erledigten und neu zu vergebenden Mandaten befand sich auch das des redegewaltigen Führers der demokratischen Partei, eines schier allmächtigen Fabrikbesitzers, den sein hohes Alter und eine fortschreitende Arteriosklerose zum Verzicht auf jede öffentliche und geschäftliche Tätigkeit zwangen.

Nun kam man und bot ihm, dem beinahe Unbekannten, dem politischen Neuling das Mandat dieses vielgenannten Mannes an, der durch seine Persönlichkeit und durch den schier unbegrenzten Einfluß einer von ihm ins Leben gerufenen und inspirierten Zeitung bislang der eigentliche »Spiritus rector« der öffentlichen Meinung in der großen Stadt war.

Paul stand vor einem Rätsel, aus welchem Grunde denn die Vertrauensmänner der demokratischen Partei gerade bei ihm gewesen waren und gerade ihm dieses Mandat angeboten hatten, dessen Übernahme doch schon wegen der Persönlichkeit dessen, der es Jahrzehnte hindurch innegehabt, ganz besondere Fähigkeiten und Kenntnisse bei seinem neuen Verwalter voraussetzte. Aber er war viel zu eitel, um zunächst lang und breit nach diesen Gründen zu suchen. Man hatte es ihm angeboten, für dieses Mandat zu kandidieren, und er erklärte sich zur Annahme dieser Kandidatur bereit.

Freilich in stillen Stunden der Überlegung, wenn er diesen ersten Schritt auf der politischen Laufbahn ernstlich hin und her erwog, mußte er sich sagen, daß Kölschs Vorschlag allein für die Leute der demokratischen Partei nicht maßgebend gewesen sein konnte, daß ganz andere Dinge dahinter stecken mußten, die jene Leute zu diesem außerordentlichen Entschlusse gebracht hatten, ihn, den einfachen Handwerker, der sich allerdings zu einem Beherrscher seiner ganzen Branche in der großen Stadt im Laufe weniger Jahre emporgeschwungen, mit einem derartig verantwortungsreichen Ehrenamte zu betrauen. Und die Lektüre der großen Zeitung, hinter der jener einst Allmächtige gestanden, brachte ihn allmählich auf die richtige Spur.

In all den Jahren, während deren jener an der Spitze der demokratischen Partei marschiert und deren wichtigstes Mandat verwaltet, hatte sich langsam, aber von Jahr zu Jahr weiter um sich greifend, eine Spaltung innerhalb der Partei vollzogen. Denn nicht alle vermochten den rein kapitalistischen Standpunkt des Fabrikbesitzers zu teilen, der dem kleinen Manne keinerlei Vorteil zu verschaffen verstand und immer nur die Interessen des Arbeitgebers und Geldmannes vertreten hatte. Eine Folge dieser Politik der demokratischen Partei war nicht zum wenigsten der Umstand, daß die sozialdemokratische Fraktion von Jahr zu Jahr im Wachsen begriffen war, und aller Voraussicht nach würde diese es bei den nun bevorstehenden Wahlen auf zwölf, wenn nicht noch mehr Sitze bringen.

Dies bedeutete nicht nur für den Oberbürgermeister von Klopp und den ganzen Magistrat, sondern auch für die demokratische Partei selber und für deren Einfluß auf die städtischen Angelegenheiten eine ganz ungeheure Gefahr. Tausende von Wählern, die bislang noch wegen der Persönlichkeit des früheren Mandanten treu zu der Fahne der Demokratie gehalten, waren drauf und dran, in das sozialistische Lager hinüberzulaufen, wenn es nicht gelang, einen Mann ausfindig zu machen, der seiner ganzen Herkunft nach eine Gewähr dafür zu geben schien, daß er die Interessen des kleinen Mannes energisch vertreten werde.

Unter den hier zunächst in Betracht kommenden Leuten, den Redakteuren der Zeitung, verschiedenen liberalen Rechtsanwälten und Großkapitalisten, befand sich niemand, für den man das der demokratischen Partei im Augenblicke so notwendige Vertrauen des kleinen Mannes ohne weiteres hätte voraussetzen können. Die Zeitungsschreiber, welche die ganze Stadt kannte, hatten sich in all den Jahren schon viel zu sehr für die Kommunalpolitik ihres eigentlichen Brotherrn ins Zeug gelegt. Die in Frage kommenden Doktoren der Rechte, die Anwälte, waren bei den kleinen Leuten, auf die es nun ankam, nichts weniger als beliebt, und nun gar mit Bankdirektoren und Großkapitalisten zu wirtschaften, das wäre gerade so gut gewesen, als wenn man das Mandat von vornherein verloren gab.

Nein, wie die Verhältnisse im Augenblicke lagen, galt es eben, einen Mann zu finden, der aus kleiner Position sich emporgearbeitet, am besten einen, der selber so etwas wie ein Handwerker war. Und noch mehr, dieser Mann mußte in der ganzen Stadt bekannt sein. Eine populäre Persönlichkeit, von der ein jeder schon gehört hatte, ein Mann, von dem gewissermaßen jedes Kind sprach, und dennoch einer, der in politischer Beziehung noch ein unbeschriebenes Blatt genannt werden konnte, einer, von dem man alles und nichts erwarten durfte!

Stadtrat Kölsch hatte den Vertrauensmännern der demokratischen Partei gesprächsweise den Namen Paul Baumanns genannt. Und bei näherer Prüfung hatte es sich in der Tat ergeben, daß Paul die zunächst für die Erhaltung dieses Mandates unbedingt notwendigen Eigenschaften in den Augen der Wähler besaß. Als Leiter eines der ersten und populärsten Geschäfte der Nahrungsmittelbranche, als Begründer der bei dem Volke ungemein beliebten Brotfabrik, die dem kleinen Manne das wichtigste Nahrungsmittel verbilligte, kannte ihn jedermann. Damals, als er das neue Café im Archiv übernommen, war sein Name durch alle Zeitungen gegangen, war Paul Baumann gewissermaßen populär geworden. Als kleiner Handwerker, als Lehrling im Lenzschen Hause, hatte er seinen bescheidenen Aufstieg genommen, und auf politischem Gebiete hatte er sich noch niemals, weder im guten noch im schlechten Sinne, betätigt. Sein Name als Kandidat, als Nachfolger jenes Allmächtigen, über dessen Weggang gar mancher hoch erfreut war, der würde schon ziehen. Mit seinem Namen war alle Aussicht auf Erhaltung des wichtigen Mandates vorhanden, und was er politisch leisten werde, das war eine Frage der Zukunft, über die man sich jetzt ebensowenig wie bei jedem anderen den Kopf zerbrach. Im Wasser würde Paul Baumann schon das Schwimmen lernen, er, der im praktischen Leben genugsam erwiesen hatte, daß er nicht gerade auf den Kopf gefallen war.

Dieses waren die Beweggründe, welche die Parteileitung veranlaßten, dem Vorschlage des alten Stadtrat Kölsch nachzugeben und Paul zur Annahme der Kandidatur aufzufordern.

Solche Erwägungen stellte nun Paul in stillen Stunden der Überlegung selber an. Sie las er in den Spalten der großen demokratischen Zeitung zwischen den Zeilen, ohne daß sie gedruckt gewesen wären.

Er war erst zweiunddreißig Jahre alt, und dieser wichtige Abschnitt in seinem Leben, da man ihn zum ersten Male aus dem Vertrauen seiner Mitbürger in ein öffentliches Ehrenamt berufen wollte, gab ihm Gelegenheit, Rückschau zu halten über sein vergangenes Leben und sich zu gleicher Zeit zu fragen, was er denn von der Zukunft erwartete.

In den ersten Tagen, die der Annahme seiner Kandidatur gefolgt waren, hatte ihn die Lektüre der Zeitung geradezu mit sich fortgerissen. Keine Nummer konnte man in die Hand nehmen, in deren Spalten nicht von ihm die Rede war. Tausende und Abertausende lasen an jedem neuen Abend seinen Namen, lasen die Lobpreisungen, mit denen die Parteileitung, der es auf den Fang von Wählern ankam, nicht kargte, lasen die Beschreibungen seines Lebenslaufes, der sich bislang, wenn auch von mannigfachem schönen Erfolge gekrönt, doch fern von dem hellen Lichte der Öffentlichkeit in dem bescheidenen Rahmen abgespielt hatte, der einem privaten Geschäftsmanne gezogen ist.

Aber diese ersten Tage gingen dahin, und der Rausch verflog. Wenn er jetzt des Abends solcher Artikel ansichtig wurde und deren Inhalt in sich aufnahm, dann mußte er lächeln. Lächeln über die, die all die Wunderdinge, die man ihm nachsagte, glauben sollten, und noch mehr lächeln über die, die solches geschrieben hatten. Denn die, die solches schrieben und zwar schrieben im Auftrage und nach Stenogrammen der Parteileitung, hatten sicherlich keinen Blick in Pauls Innerstes getan, hatten sicherlich keine Ahnung von dem, was in dem Herzen dieses ehrgeizigen und zielbewußten Menschen vor sich ging, den sie den Kandidaten des kleinen Mannes nannten, der ein unbeschriebenes Blatt sein sollte und der trotz seines verhältnismäßig noch jugendlichen Alters einen Plan in seinem Inneren hin und her erwog, gegen den die Pläne Klopps und die Ansichten der Regierung, in deren Dienst sich dieser Oberbürgermeister gestellt hatte, ein Kinderspiel genannt werden mußten.

Der Zufall und das Schicksal hatten ihm beide die Hand gereicht, sie, von denen er überzeugt war, daß sie ihm auch noch des weiteren die Hände reichen würden von jener Stunde an, da er mit dem Empfang jenes Schlüssels aus des sterbenden Peters Händen das alte Haus am Ritterwall und dessen einzige Erbin sich zu eigen gemacht hatte.

Und von da ab hatte er allein gearbeitet und gesorgt, vorwärts und aufwärts, allein, da Agathe aus unbegreiflichen Gründen seine Mitarbeiterin nicht hatte werden wollen, da er die eigene Mutter geflissentlich von jeder Einmischung in seine Geschäfte fern hielt. Und seine kaufmännischen Talente, seine Begabung dafür in praktischen Dingen sogleich das Notwendige und das Mögliche zu erkennen, sie, sie allein hatten ihm die rechten Wege gewiesen. Niemanden hatte er um seinen Rat gefragt, allein sich selber. Wen hätte er auch um Rat tragen sollen? Von wem wäre er sicher gewesen, daß er ihm nicht aus selbstischen Interessen gerade das Gegenteil von dem geraten hätte, was nach seiner Überzeugung das Richtige war?

Mit der Gründung der Filialen hatte er begonnen. Drei hatte er im ersten Jahre seiner Geschäftsführung errichtet, sechs im folgenden, zehn im darauffolgenden. Über ein halbes Hundert war es jetzt geworden, und wenn die Brotfabrik weiter und weiter wuchs, dann würden es hundert und mehr Verkaufsstellen im Laufe der kommenden Jahre werden. Aus politischen Erwägungen hatte er die Leitung des Cafés im alten Archiv übernommen, er würde sie niederlegen in fremde Hände, sobald ihn die Politik neue und andere Wege geführt, ihn, das unbeschriebene Blatt, ihn, der entschlossen war, die Führung der demokratischen Partei, der mächtigsten in der Stadt, an sich zu reißen, den Oberbürgermeister und den Magistrat in seine Hände zu bekommen, sie zu willigen Werkzeugen seiner großen Absichten und Pläne zu machen, der Sozialdemokratie siegreich entgegenzutreten und der Bürgerschaft den Gedanken zu suggerieren, daß er der Beglücker, der Erweiterer der Stadt, daß er ein wahrer Bürgerkönig von Gottes Gnaden sei. Er würde es fertig bringen! Er würde! In einen wahren Rausch geriet er, wenn er sich das alles vorstellte, das, was er vorhatte, das, was der ganzen Stadt zum Heile gereichen sollte, ganz abgesehen davon, daß Peter jenes gewaltige Gelände an sich gebracht hatte und daß dieses durch seine Frau der Besitz seiner eigenen Kinder war.

Wie sie ihn da nahmen, diese Menschen in den Zeitungen, diese für Sold nach den Stenogrammen der Parteileiter arbeitenden Schreibersknechte, sie, die ihn zwischen den Zeilen ein unbeschriebenes Blatt nannten und die doch keine Ahnung davon hatten, was er in seinem Kopfe hin und her erwog.

Aber den ersten Schritt auf dem neuen Wege wiesen ihm diese. Mit Überraschungen kommen, das durfte er nicht, solange wenigstens nicht, bis er das Mandat in seiner Tasche hatte. Wie er sich seinen Wählern in seinen ersten Reden zu geben hatte, das stand hier deutlich zu lesen, das schrieb ihm die Leitung der Partei, die er einstmals an seinem Gängelbande führen würde, heute noch vor.

Und so opferte er seine Nächte, so machte er sich an die Arbeit, die Reden aufzusetzen, mit denen er in wenigen Wochen, wenn die Agitation für die Wahl ihren Anfang nähme, die Sache der Partei im offenen und im geheimen seine Sache führen würde.

Seit jenen Nächten wartete Frau Agathe nicht mehr auf die Rückkehr ihres Mannes. Wenn sie auch früher sich schlafen legte, ehe Paul aus dem Bureau heraufgekommen war, so hatte sie doch halb im Traume seinen Schritt noch gehört, so hatte sie doch gewußt, daß er jetzt kam und daß er da war. Nun war eine neue seltsame Veränderung mit ihm vorgegangen. So wenig sie sich für die Politik interessierte; sie, die sich ganz der Erziehung ihrer Kinder zu Menschen der Güte gewidmet hatte, so hatte sie doch gehört und in den Zeitungen gelesen, daß Paul von der Leitung der demokratischen Partei zum Erfüller einer politischen Mission ausersehen sei, daß man von seiten der Partei große Hoffnungen auf ihn setzte und ihn veranlaßt hatte, für das freigewordene Mandat des großen Führers zu kandidieren.

Sie hatte ihn selber davon entwöhnt, daß er jemals mit ihr von Geschäften sprach, und nun durfte sie sich nicht darüber wundern, daß er auch von dem schwieg, was er nun vorhatte, wenn er Nacht für Nacht, bis der Morgen dämmerte, drunten in Peters altem Bureau saß und Bogen um Bogen mit seinen großen, beinahe ungelenken Buchstaben füllte.

Er hatte seine liebe Not. War er doch niemals, schon auf der Schule nicht, ein Freund von schriftlichen Arbeiten gewesen, und nun galt es, seine Gedanken zu konzentrieren und diesen Gedanken die richtige, die wirksame Form zu leihen. Er mühte sich ab, wochen- und wochenlang. Seine ungelenke Hand, die in Jahren sich von einer anhaltenden Schreiberarbeit entwöhnt hatte, die schon längst in der Backstube und im Geschäfte schwer und hart geworden war, quälte er, denn sein eiserner, nur auf das eine Ziel gerichteter Wille und der eine einzige Gedanke, Peters phantastische Pläne in die Wirklichkeit zu übersetzen, ließen ihm keine Ruhe. Er studierte die Tageszeitungen, Satz für Satz, Wort für Wort. Er nahm Stil und Redeweise der Journalisten an, um die er sich all sein Lebtag nicht gekümmert hatte. Er versenkte sich in die Fragen der augenblicklich auf der Tagesordnung stehenden Punkte der Kommunalpolitik, er legte sich eine Bibliothek zu, die aus finanzwissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Werken bestand. Der Schreibtisch, auf dem er sonst nur die Bücher geführt und Rechnungen ausgeschrieben hatte, kam zu Ehren. Des Nachts sah es in seinem Bureau wie in der Studierstube eines Professors aus. An der Wand hing jetzt eine Mappe, in welcher die Zeitungen der Stadt nach dem Tag der Woche, nach dem Datum des Monats fein säuberlich geordnet waren, die Zeitungen, die er früher nur als Einwickelpapier und als die Verbreiter seiner ungeheuren Reklameannoncen betrachtet hatte.

Ungefähr drei Monate dauerte Pauls intensive Vorbereitung auf seine neue Berufung als Führer der demokratischen Partei, an derem Gelingen er keinen Moment mehr zweifelte, nachdem er einmal den unumstößlichen Entschluß gefaßt hatte, das, was er sich vorgenommen, auch wirklich zu Ende zu führen.

In dieser Zeit kümmerte er sich gar nichts um Agathe und die Kinder, kümmerte er sich kaum um das Geschäft. Das letztere konnte er beruhigt seinen Direktoren und Angestellten überlassen. Denn jahrelang hatte er unermüdlich an der Organisation dieses Geschäftes nach seinen eigenen Plänen gearbeitet, und diese Organisation funktionierte nun geradezu von selbst, wie eine Maschine, die der Druck eines Hebels in Bewegung gesetzt hat und deren Räder und Zähne ohne Gedanken und dennoch niemals versagend ineinander greifen.

In den Walzersälen des Westens, so hieß das größte Tanzlokal der Stadt, dessen Saal an die viertausend Personen zu fassen vermochte, sollte Paul Baumann zu Anfang des November seine erste Ansprache an die Wähler halten. Zehn verschiedene Reden hatte er im Laufe der Wochen aufgesetzt und ausgearbeitet, und alle zehn hatte er wieder verworfen. Das war alles nicht das, was zu packen, was einzuschlagen, was zu zünden vermochte, diese aus den Zeitungen angelesenen Phrasen, die sich ja gedruckt ganz gut ausnahmen, die aber von einem lebendigen Munde gesprochen, wie ein papiernes Deutsch wirkten und sofort den Eindruck hervorrufen mußten, daß sie nicht aus dem Herzen des Redners wie selbstverständlich hervorgeströmt seien.

Was sollte er tun? Der Stunde, dem Augenblicke überlassen, was Zufall oder Schicksal ihm zu reden eingeben würden? Durfte er das? Konnte er das wagen? Er, der Ungeübte, der im Reden vor einem tausendköpfigen Publikum völlig Unbewanderte? War das am Ende vielleicht sogar das Beste? Sich ein praktisches Programm zurechtzulegen, dieses Programm ganz ex tempore vor den Ohren seiner Hörer zu entwickeln, sich dem Fluge seiner Gedanken, dem Strome seiner Leidenschaft, den Schwingen seiner Phantasie anzuvertrauen, sich dahintragen zu lassen von der Macht des eigenen Wortes und von dem entfesselten Interesse der Tausend und Tausend, die an der Rede seiner Lippen, wie an einer Offenbarung hängen mußten und hängen würden, aber auch sich entzünden zu lassen von dem Hasse der Gegner, die sicher da sein würden, die jede Schwäche seiner Gedankenführung, die den kleinsten logischen Fehler seiner Programmentwicklung erspähen würden mit dem Auge des Falken, um sich daran zu hängen und ihn mit den vergifteten Waffen der politischen Parteilichkeit zu vernichten.

Ja, an politischen Gegnern würde es in dieser Versammlung, würde es des weiteren nicht fehlen, denn die Kandidatur, die man ihm angeboten und die er angenommen hatte, war ein letzter Trumpf, den die Leitung der demokratischen Partei gegen die Sozialisten ausspielte. Das wußte er so gut wie jeder andere, das stand an jedem neuen Tage deutlich in der demokratischen Zeitung und auch in dem sozialistischen »Echo« zu lesen. Das »Echo« und dessen Chefredakteur, der kinder- und schuldenreiche Dr. Jost, den die Sozialdemokraten als ihren ersten und wichtigsten Kandidaten aufgestellt hatten, das war die Mauer, gegen die es nun Sturm zu laufen galt, das war das Bollwerk, an dem vielleicht auch die eisernen Kräfte seines Willens und seines Ehrgeizes, seiner Energie und Zähigkeit zerschellen konnten.

Wenn man ihn sich nur ansah, diesen Dr. Jost mit dem verhungerten und eingefallenen Gesichte, auf dessen Stirn immer eine Wetterwolke lagerte, um dessen Lippen das feine, niemals verschwindende Lächeln des geborenen Sarkasten spielte, so daß man den Eindruck gewann, diese scharfen und stechenden, brillenbewehrten Augen vermöchten hinter jedem Schein und Trug die wahren Motive menschlicher Handlungen unweigerlich zu lesen!

Wenn er sich das vorstellte, daß er diesem gegenüberstand, wenn er sich dachte, daß der nach Beendigung seiner Rede das Wort ergreifen und diese Rede vor den Ohren seiner Wähler zerpflücken würde, wie er schon im »Echo« die Artikel, die ihn hatten einführen sollen, zerpflückt hatte, wie er sich auch einstmals nicht gescheut hatte, jenem allmächtigen Führer der Demokraten in voller Öffentlichkeit zu sagen, er sei der Mann, der zum Wohle der Vaterstadt für seine eigene Tasche arbeite.

Das Gespenst dieses Dr. Jost ließ ihn nicht. Er grübelte nach über diesen seltsamen Menschen, den er schon seit Jahren allerdings nur vom Sehen und Hörensagen kannte, der der gefürchtetste und unerbittlichste Politiker in der ganzen Stadt sein sollte und er rief sich in das Gedächtnis zurück, was er alles schon von diesem Manne gehört.

Er war nicht in der Stadt geboren, aber mindestens zwei Jahrzehnte mußten es her sein, daß er hier seinen Einzug gehalten und auf Kosten der sozialdemokratischen Parteikasse das »Echo« gegründet. Sein Ruf war ihm weit vorausgeflogen, man kannte ihn, noch ehe er seine bescheidene Wohnung an dem neuen Platze seiner agitatorischen Wirksamkeit bezogen.

Willibald Dietrich Jost, der schon mehr als zuviel mit den Strafgesetzen in Konflikt geraten war, der Jahre seines immerhin noch kurzen Lebens wegen Aufforderung zum Klassenhaß und wegen zahlloser Preßvergehen im Gefängnisse zugebracht!

Als Jost vor etwa zwanzig Jahren als Begründer und Leiter des »Echo« seinen Einzug in die Stadt gehalten, war er gerade fünfunddreißig gewesen. Wie man sich damals erzählte und wie man jetzt allgemein wußte, entstammte er einer sehr angesehenen Familie. Seine Mutter war die Tochter eines pfälzischen Zigarrenproduzenten gewesen, dessen Fabrik infolge der ungünstigen Ernten und der Billigkeit der überseeischen Tabake in Konkurs geraten war. Sein Vater hatte Jahrzehnte lang die Stellung eines protestantischen Pfarrers in einem kleinen oberhessischen Städtchen bekleidet. Mit reichlichen Stipendien für das philologische Studium versehen, hatte der Sohn die Universität bezogen und dort sein Oberlehrerexamen gemacht. Aber schon als Hilfslehrer hatte sich der junge und leidenschaftliche Mensch, der sich als Student an den Lehren der Marx und Lassalle vollgesogen, für immer seine staatliche Anstellung verscherzt, indem er vor seiner Klasse gegen den monarchischen Staat und gegen die orthodoxe Lehre der Kirche zu Felde zog. Ein Disziplinarverfahren enthob ihn für immer der Möglichkeit, sein Brot als Gymnasialprofessor schlecht und recht, wie tausend andere, die sich den herrschenden Meinungen fügten, zu verdienen, und so war er wie von selbst dem Journalismus in die Arme getrieben worden, und zwar im Dienste der radikalsten Partei, deren politische und soziale Bestrebungen den Wünschen seines eigenen Herzens, seiner Überzeugung pflegte er zu sagen, am nächsten kamen.

Als ein im Sinne der Bourgeoisie Entgleister hatte er natürlich auch bei seiner Heirat wenig Glück gehabt. Seine dem Volke entstammende Frau, die er als junges Ding verhältnismäßig spät vor nunmehr siebzehn Jahren geheiratet, hatte ihm nichts anderes mit in die Ehe gebracht, als die in seiner pekuniären Lage wenig schätzenswerte Fähigkeit, ihn in jedem neuen Jahre mit der Geburt eines neuen Sprößlings zu beglücken. Die älteste Tochter verdiente zwar schon seit einem halben Jahre ein paar Groschen als Verkäuferin in einem Weißwarengeschäfte, aber der Jüngste machte eben gerade die ersten Gehversuche, und noch war es gar nicht abzusehen, ob die Fruchtbarkeit der Frau Rosalie Jost nun wirklich ihr Ende erreicht habe. So hatten seine Überzeugung und seine Lebenserfahrungen Jost zu dem gemacht, was er heute war, zu dem verbissenen und gefährlichen politischen Gegner, den Paul in ihm mit Recht fürchtete, und zugleich zu der bewundernswerten, schier unermüdlichen Arbeitskraft, die die sozialdemokratische Partei der Stadt schlechterdings nicht zu entbehren vermochte. Denn hier in der Stadt war Dr. Jost, die Seele dieser Partei, seit zwanzig Jahren der unüberwindliche Gegner jenes Allmächtigen, den er immer an seiner Achillesferse zu treffen verstanden hatte.

Im Laufe der Jahre und der Jahrzehnte hatte Alexis Moser, der nun infolge seiner Krankheit von seinen Ämtern zurückgetretene Fabrikbesitzer und Geldmann der großen Zeitung, Millionen zu Millionen gehäuft, während der Herausgeber des »Echo« keinen Heller für sich und die Seinen erübrigt hatte. Und als dieser jenem einmal in einer politischen Versammlung zugerufen: »Wenn es Ihnen mit Ihren demokratischen und volksbeglückerischen Prinzipien wirklich ernst ist, Herr Moser, dann diene ich Ihnen mit den Worten des Evangeliums, die dort an den reichen Jüngling gerichtet werden, dann liefern Sie den Beweis, dann verkaufen Sie alles, was Sie haben, schenken Sie es den Armen und folgen Sie mir nach, dann werden Sie einen Schatz im Himmel haben …« als Jost diese Worte gesprochen, da war bei den nächsten Wahlen die Zahl der Sitze der Sozialdemokraten plötzlich von drei auf sechs emporgeschnellt und Moser hatte sein Mandat nur noch mit einer knappen Majorität behaupten können.

Der Herausgeber des »Echo«, der mit der Kraft seiner Rede und seiner Feder, sich, seine Frau und zehn lebendige Kinder zu ernähren hatte, der die Parteikasse in egoistischem Interesse auch noch nicht um einen roten Heller geschädigt, er war der bestgehaßte Mann in der ganzen Stadt. Und nicht nur das, wenn man bedachte, wie gering der Verdienst war, den er für sich selber einheimste, dann war er auch sicherlich der fleißigste.

Unermüdlich, Tag für Tag, sieben und auch acht Stunden lang, saß er auf der Redaktion, rauchte, um sich den Hunger zu vertreiben und weil das seine alte Gewohnheit war, die billigsten Zigarren und studierte die Zeitungen und Zeitschriften, verfaßte alle bedeutenderen Artikel für sein Blatt selber und empfing die Besuche derer, die in dem »Echo« einen Hort der Armen und Unterdrückten sahen. Des öfteren kamen auch Besuche solcher, die ein Interesse daran hatten, daß etwas, was über sie hätte bekannt werden können, nicht in den Spalten dieser Zeitung mit der Dr. Jost eigentümlichen Freimütigkeit besprochen werde. Freilich die, die in solcher Absicht kamen, die da meinten, daß ein armer Kerl wie dieser Jost, für alles zu haben sei, sahen sich bald bitter enttäuscht. Ihren mehr oder weniger diskreten Andeutungen, es soll Ihr Schade nicht sein, Herr Doktor und so weiter, pflegte dann der Herausgeber des »Echo« seine bald stadtbekannte Grobheit entgegenzusetzen, und mit der Zeit wurden diese Besuche immer seltener und seltener, bis Jost schließlich von diesen Leuten ganz verschont blieb. Des Abends leitete er unermüdlich politische Versammlungen. Es war, als sei die Kraft dieses Mannes nicht aufzureiben.

Als Führer seiner Partei saß er nun schon reichlich zehn Jahre in der Stadtverordnetenversammlung. Er sprach über alles, versäumte keine Sitzung und war des öfteren besser unterrichtet, als der Herr Oberbürgermeister von Klopp und der Magistrat selber, für die Jost den ihnen ewig in den Weg geschobenen Klotz bedeutete, über den sie mit allen ihren Anträgen stolpern konnten.

Denn die Not verdoppelte Josts Kräfte. Sie verdoppelte seinen Fleiß, seine Willenskraft, seine Ausdauer, seine Schlagfertigkeit. Von den Familiensorgen, die ihn sein Leben lang niemals verlassen hatten, flüchtete sich dieser Mann in seine Arbeit. Er wirkte für das große Ganze so recht eigentlich, um die eigene Misere vergessen zu können, und der einzige Genuß, ein Stachel, ein die Nerven immer wieder aufpeitschendes Mittel, das er sich gönnte, das waren jene billigen und schlechten Zigarren, ohne die man ihn niemals sah.

Diesen Menschen, der schon manchen in der Stadt, der sich für allmächtig gehalten, zu Fall gebracht hatte, fürchtete Paul. Wenn er nun des Abends dessen haarscharfe Auseinandersetzungen über die Kommunalpolitik des Oberbürgermeisters in dem »Echo« las, da konnte es manchmal vorkommen, daß er trotz allem an seiner Mission, an der Kraft seines Willens und seines von Stunde zu Stunde wachsenden Ehrgeizes verzweifelte.

Wenn er endlich gegen Morgen sein Lager aufgesucht und sich ein paar Stunden nur selten Erquickung gewährenden Schlafes gönnte, dann sah er diesen Jost plötzlich im Traume, den stechenden Blick seiner klaren und forschenden Augen auf sich gerichtet.

Es war seltsam mit diesem Jost. Paul kannte ihn nicht. Er hatte ihn noch niemals in seinem Leben gesprochen, nicht einmal eine Rede hatte er von ihm gehört, denn vor seiner folgenschweren und zufälligen Bekanntschaft mit dem Stadtrat Kölsch hatte er sich sein Lebtag nicht um das politische Treiben in der Stadt gekümmert.

Aber auf der Straße hatte er Jost hie und da gesehen, seine Artikel im »Echo« hatte er in den letzten Wochen von A bis Z durchstudiert, und aus diesen haarscharf geschnittenen und steinhart gemeißelten Gedanken und Sätzen trat ihm das unbeugsame Innere dieses Gegners, mit dem er vor allen anderen zu rechnen hatte, nur allzu begreiflich hervor. Was sollte er tun, um sich diesem gewachsen zu zeigen? Mit dem Aufsetzen und Auswendiglernen von schönen Reden, die man sich aus den Zeitungsphrasen zusammenschrieb, war Jost gegenüber nichts anzufangen. Was mit dem zu machen war, das konnten erst die Tage der Abrechnung, die Tage der Zukunft selber zeigen, wenn Leidenschaft auf Leidenschaft platzte, wenn der richtige Augenblick die richtige Erwiderung, wenn ein Wort das andere, wenn die Frage des Gegners wie von selber die zündende Antwort gab!

Ob ihm diese Leidenschaft auch zu Gebote stand, fragte sich Paul. Waren die Größe seiner Leidenschaft, die Zähigkeit seines Willens und die Kraft seines Ehrgeizes, dieses Mandat und mit diesem Mandate alles zu erreichen, wirklich groß genug, um die Masse mit sich fortzureißen, um die ruhigen Männer in der Stadtverordnetenversammlung für sich und seine Pläne zu gewinnen, um diesen seinen Ehrgeiz der Überzeugung Josts gegenüber wirksam in die Wagschale fallen zu lassen? Jener hatte das Ideal auf seiner Seite und er, der Realpolitiker, wie er sich jetzt schon in kühnen Träumen nannte, die wirkliche, alle verblüffende Tat.

Die Sanierung der Altstadt, wie von Klopp sein Projekt genannt hatte, die Erschließung einer breiten Verkehrsstraße von West nach Ost und in weiter Ferne das Entstehen einer neuen Stadt um einen noch niemals dagewesenen Riesenbahnhof, das war der Traum, der sich in Jahren und Jahren verwirklichen sollte.

Und heute stand er erst in den Anfängen dieses seines großen Unternehmens. Freilich die Kandidatur, die ihm die Vertrauensmänner der demokratischen Partei für das freigewordene Mandat des nun in der Zurückgezogenheit lebenden Alexis Moser angeboten hatten, war der erste Schritt auf dem weiten Wege, den er nun bis zu Ende zu gehen bereits fest entschlossen war. Heute zerbrach er sich noch den Kopf über seine erste politische Rede, mit der er seine Wähler berauschen, Jost begegnen und die Eroberung dieses Mandates durchsetzen wollte.

Was war alles, was er bis jetzt geleistet hatte, gegen das, was er sich nun vorgenommen, gegen die Notwendigkeit, diesem Jost und den Massen der Besitzlosen, die hinter diesem standen, die Stirne zu bieten und, den einen Plan in seinem Herzen, sich vor den Augen der Welt zum Volksbeglücker von Hunderttausenden emporzuschwingen, die in künftigen Jahrzehnten seinen Namen nur voll Ehrfurcht und Bewunderung aussprechen sollten? Wenn er sich genau prüfte, wenn er sich das, was er vorhatte, reiflich überlegte, dann dachte er gar nicht mehr an den ungeheuren Besitz, den Peter in großartiger Voraussehung dessen, was da kommen sollte, in seiner Hand für sich und seine Erben vereinigt hatte, dann dachte er nur an sich selber, an seine Person, die dereinst im Mittelpunkte eines ungeheuren Projektes stehen würde, das einer Neugestaltung der ganzen Stadt und ihrer Verhältnisse gleichkam. Immer und immer wieder war er von dem Studium der Zeitungen und den Vorbereitungen zu seiner ersten Rede auch in diesen Tagen zu dem Plane zurückgekehrt, den ihm Peter sterbend und feierlich überantwortet hatte und dessen Wert und Bedeutung ihm erst durch die auf diesem Plane eingetragenen Grundbuchnummern vollständig klar geworden waren. Und der Ruhm, den ein solches Unterfangen seinem Schöpfer einbringen mußte, die Größe der Aufgabe, vor die er sich in diesem Gedanken gestellt sah, berauschten sein Wesen, so daß die Betrachtung des Notwendigen und des Zunächstliegenden fast aus seinem ins Ungeheure erweiterten Gesichtskreise schwand. Aber er hatte Stunden und Tage, an denen er das Phantastische, das einst das Verderben seines Bruders Ewald gewesen, das er mit dem verschollenen Rolf gemeinsam haben mochte, vollständig überwand. Dann traf er in aller Ruhe die Vorbereitungen für das, was in den nächsten Wochen für ihn zu leisten und zu erledigen war. Wenn er reden, wenn er die Herzen und Sinne seiner Zuhörer durch die Kraft seiner Worte gefangen nehmen wollte, dann galt es, so sagte er sich, gewandte Redner zu hören, bei denen es etwas zu lernen gab. Und so nützte er die letzten Wochen, die ihn nun noch von seinem ersten Debüt als Kandidat der demokratischen Partei trennten, in diesem Sinne aus.

Politische Redner gab es in der Stadt nicht zu hören. Aber er studierte nun voll Eifer die Stenogramme der Parlamentsberichte aus Berlin, er besuchte die eben stattfindenden Schwurgerichtsverhandlungen, in denen redegewandte Staatsanwälte und die ersten Verteidiger in der Stadt plädierten, er ging des Sonntags in die Kirchen und beobachtete die Kanzelredner, er war des Abends häufig im Theater, wo ihn der Gestus und das Mienenspiel, der Tonfall und die Aussprache der Künstler auf das lebhafteste interessierten.

Und hier ging ihm plötzlich die Erkenntnis seiner Aufgabe und auch die eigentliche Erkenntnis seiner selbst auf. Diese Komödianten, die weinen und lachen, die hunderte zu Empörung und Begeisterung mit sich fortzureißen vermochten, wiesen ihm den Weg. Selbstzucht, das war alles, was er sich anzueignen hatte, Beherrschung der Situation.

Ein großer Komödiant des Lebens mußte er werden, wenn er das vorgesteckte Ziel erreichen, wenn er in den Tausenden, die ihn wählen, die sich seiner Führung anvertrauen sollten, wirklich nur die Stufe für seine Macht, seinen Ruhm und sein Ansehen bei den Leuten sah. Herrschen!! Den geheimnisvollen Klang dieses wunderbaren Wortes ließ er tönen und tönen in seinem Innersten, und an diesem Klange berauschte er sich. Herrschen!! Den tiefsten Sinn dieses Wortes strebte er nun zu erfassen! Nicht in dem Sinne der brutalen Macht, die sich durch Besitz oder Gesetz dem anderen, dem Schwächeren gegenüber, als die stärkere überlegen fühlt, sondern herrschen in einem ganz anderen Sinne! So wie die größten Menschen dieser Erde, ohne für den Thron ersehen zu sein, über ihre Brüder und Schwestern geherrscht hatten, wie die Schönheit, die siegreiche, herrschte, wie die Jugend, die Anmut, der klarere Verstand, der stärkere Geist, das mächtigere Gefühl!

So wollte er herrschen als Persönlichkeit über die anderen.

Was hatte er denn eigentlich vor? Warum hatte er denn damals so rasch eingewilligt, die Leitung des Cafés im alten Archiv zu übernehmen, warum drängte es ihn nun mit allen seinen Fibern, zur Erlangung dieses Mandates, das für ihn die erste Stufe zur Erreichung des gewaltigen, von dem verstorbenen Peter erträumten Riesenplanes war? Kannte er wirklich nur das eine Motiv, daß er das draußen vor der Stadt liegende wertlose Gelände in eine Goldgrube für sich und die Seinen umwandeln wollte, oder führte ihn in Wahrheit noch etwas anderes? Er, der im Verlaufe von knapp einem Jahrzehnt die Lenzsche Konditorei zu einem Bedürfnis für Tausende und Tausende erhoben, konnte er wirklich so gewaltigen Wert darauf legen, daß jener Boden, der Stadt der Zukunft einmal erschlossen, Millionen und Millionen trug? Oder war es in der Tat noch etwas ganz anderes, was ihn jetzt mit fiebernder Ungeduld vorwärts trieb, so daß er die Stunde seiner ersten großen Rede, die er, ein Volksbeglücker, ein Bürgerkönig, halten wollte, kaum mehr vor wachsender Ungeduld zu erwarten vermochte?

Da war er, dieser Gedanke: der Volksbeglücker, der Bürgerkönig! Ihn hatte Peter wohl kaum geträumt, diesen Gedanken, der ihn mehr als die Sucht nach Gewinn schon damals unbewußt beherrscht haben mochte, als er die tausend und abertausend der armen Leute in die Interessensphäre seines Geschäftes zog.

O, diesem Jost, dem Gegner, von dem man an jedem neuen Tage in dem »Echo« lesen konnte, daß er alles für die anderen, nichts für sich selber tat, dem wollte er schon entgegentreten, wenn er erst das Mandat, das der Hebel für alle seine ehrgeizigen Pläne werden sollte, in der Tasche hatte!

Die Tage der Wahlvorbereitungen kamen näher. Schon sprachen die Lokalblätter in spaltenlangen Artikeln von nichts anderem mehr, als von den kommenden Männern, die wie immer in den schönfärberischen Reden der jeweiligen Parteipresse der ganzen Bürgerschaft der großen Stadt bislang noch niemals dagewesene und ungeahnte Wohltaten erweisen sollten. An den Plakatflächen der Neubauten und der Litfaßsäulen erschienen manneshohe Anschläge der verschiedenen Parteileitungen, auf denen die Namen der Vorgeschlagenen in fast meterhohen Buchstaben leuchteten.

Von einem wundersamen Rausche des Ruhmes erfaßt, wie im Traume, ging Paul damals durch die Straßen der Stadt. Von allen Menschen glaubte er sich angeschaut und beobachtet.

Wenn er des Nachts aus dem Schlafe emporfuhr, sah er es wahrhaftig vor sich in weithin sichtbaren Buchstaben:

Wählt Paul Baumann,
den Kandidaten der demokratischen
Partei!

Man hatte den 5. November als den Tag der ersten großen Agitation bestimmt. In der neunten Abendstunde dieses Tages fand in den Walzersälen des Westens die erste große, von der Parteileitung einberufene Volksversammlung statt, zu deren Besuch durch Inserate in den Zeitungen, Maueranschläge und den direkten Versand von Einladungskarten in ganz ungewöhnlichem Maße aufgefordert worden war.

Paul war ganz sonderbar zumute, als er sich in Begleitung des alten Stadtrat Kölsch und eines Rechtsanwaltes Mauerbrecher, welcher der Schriftführer des Komitees war, an diesem nebligen Novemberabend auf den Weg machte. Er sollte den Wählern in etwa einstündiger Rede sein Programm in allen wichtigen Fragen der Kommunalpolitik entwickeln, so hatte kurzerhand seine Aufgabe gelautet. In der Brusttasche seines Gehrockes trug er die Notizen, die er sich in Wochen und Wochen sorgsam gemacht hatte. Sie enthielten alle Einzelpunkte, über die es sich heute vor Tausenden von Menschen in der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen galt.

Stadtrat Kölsch und Rechtsanwalt Mauerbrecher zogen ihn ins Gespräch. Und seltsam, obwohl seine Gedanken bei ganz anderen Dingen verweilten, vermochte er diesen dennoch auf dem langen Wege nach den Walzersälen des Westens Rede und Antwort zu stehen. Er folgte deren Gedankengange, in seinem Innersten bereits mit der Rede beschäftigt, die er in wenigen Minuten vor all den Menschen beginnen sollte, und entdeckte heute zum ersten Male klar und deutlich die Fähigkeit an sich, als ein unerklärliches Doppelwesen durch diese Welt gehen zu können, als ein Wesen, das dazu imstande war, mit Zuhilfenahme einer nicht gewöhnlichen Selbstbeherrschung eine vollständige Scheidung zwischen seinem äußeren und inneren Menschen durchzuführen.

Als Paul in Begleitung der beiden auf dem Schlachtfeld der Politik schon trefflich bewährten Kämpen den Saal betrat, war es fünf Minuten nach neun. Der große Raum war dichtgefüllt. Man saß um Tische, Zigarren und Pfeifen qualmten, und schien sich dem Genusse eines Glases Bier in behaglichster Stimmung hinzugeben. War doch diese Versammlung für die allermeisten zunächst weiter nichts, als eine amüsante Abendunterhaltung, bei der man sich ohne Entrée auf Kosten der Kasse der demokratischen Partei unter Umständen trefflich unterhalten konnte.

Rechtsanwalt Mauerbrecher schmunzelte vergnügt, als er in dieser Stunde schon so viele Menschen im Saale beieinander sah. Die Leitung der Partei hatte sich also zunächst in der Wahl ihres Kandidaten nicht getäuscht. Wenn Paul hielt, was hier die Popularität seines Namens versprach, dann hatte die Partei gewonnenes Spiel. Die ganze Stadt kannte eben den Inhaber der Lenzschen Konditorei. Freilich nicht wenige von diesen Tausenden hatte auch die Neugier hierher getrieben. Wußte man doch, daß Paul Baumann ein Neuling auf politischem Gebiete, vor allem ein Neuling als Volksredner war, und versprach man sich doch daher manchen amüsanten Zwischenfall in dem Augenblicke, wo es zwischen ihm und dem gefürchteten Dr. Jost zu einer Auseinandersetzung käme. Denn daß Jost gleich in der ersten Versammlung erschiene, um von vornherein seinem sicher ungeübten Gegner durch seine berühmten Antithesen und glänzenden Witze den Garaus zu machen, dessen war man in eingeweihten Kreisen sicher.

Von Minute zu Minute füllte sich der große Saal immer mehr. Schon standen viele an den Wänden, die keinen Stuhl mehr hatten erwischen können, und immer noch drängten die im letzten Augenblicke Kommenden nach. Auf einmal trat ein Stillstand in der Bewegung des Publikums ein. Der Saal war übervoll und die Polizei hatte aus Gründen der Sicherheit den weiteren Zutritt verboten.

Rechtsanwalt Mauerbrecher klopfte Paul auf die Schulter.

»Ihr Name zieht, mein Lieber«, schmunzelte er.

Und Paul sagte in aller Ruhe: »Das wird die Neugier der Leute sein, Herr Rechtsanwalt!« Das sagte er nach außen hin als der Meister der Selbstbeherrschung, der er, ohne das vorher selber in dieser Weise gewußt zu haben, in der Tat war. Aber in Wirklichkeit war er innerlich bei Mauerbrechers Worten wie aus einem Traume emporgefahren, denn sein Geist war bei ganz anderen Dingen und sein leibliches Auge hatte eben in den vordersten Reihen des Publikums seinen Gegner Jost entdeckt. Einen Augenblick kam es Paul vor, als gliche der Spindeldürre und Ausgehungerte dort unten einer Spinne, die sich eben auf eine in ihrem Netze gefangene Fliege stürzt. Aber bald lächelte er wieder über diesen Menschen, der so viel älter war als er, der sich in jahrzehntelanger geistiger und, wie er meinte, unfruchtbarer Arbeit gewiß schon genügend zermürbt hatte, der nun aus seiner dumpfigen und engen Redaktionsstube kam, in der Zuversicht, daß er auch ihn, wie schon so manchen anderen, mit ein paar seinen Leibautoren entlehnten Schlagworten abtun könne.

Mauerbrecher hatte den Vorsitz übernommen und eröffnete mit einigen kurzen Worten die Versammlung.

Dann ergriff Paul das Wort. Er hielt den Zettel, auf dem er sich in all den vergangenen Wochen sorgfältig seine Notizen gemacht hatte, in der Hand. Es war mäuschenstill in dem großen Saale, selbst die Kellner, die eben noch, während Mauerbrecher gesprochen, das Bier eifrig erneuert hatten, hielten momentan in ihrer wichtigen Beschäftigung inne, als er mit nur ganz leise vibrierender Stimme, in völlig freier Rede, ganz dem großen Augenblicke seines Lebens sich überlassend, begann:

 

»Meine Herren!

Ein Neuling tritt vor Sie hin, ein Unbekannter! Ein Name wird heute zum ersten Male von Ihnen genannt, der noch niemals auf den Lippen von Tausenden war!«

»Ist er auch heute nicht«, rief da eine Stimme dazwischen.

Mauerbrecher griff zu der Klingel:

»Ich muß um Ruhe für Herrn Paul Baumann bitten, meine Herren!«

Paul legte den Zettel, den er bislang in der Hand gehalten hatte, nieder, verschränkte herausfordernd die Arme über seiner Brust und fuhr in aller Ruhe fort:

»Meine Herren! Ein Unbekannter! Denn ob ich meine Kräfte mit Aussicht auf Erfolg in den Dienst einer großen Stadt und ihrer Bürgerschaft stellen darf und kann, das wird die Zukunft lehren, vorausgesetzt, daß Sie das Vertrauen in mich setzen und durch Ihre Wahl die große Sache, die meine Sache und die Ihre sein wird, meinen Händen übertragen. Den Willen habe ich! Und wo ein Wille ist, da wird sich auch ein Weg finden.«

»Gemeinplätze«, schrie da wieder eine Stimme, »wir brauchen hier keine Redensarten und keine Gemeinplätze, wir wollen Positives.«

Wieder ertönte die Klingel in Mauerbrechers Hand.

Und Paul fuhr fort, indem er sich direkt an den Gegner wandte, den er schon in dieser ersten Minute mit der ganzen Kraft seines Temperamentes zu hassen begann:

»Sie haben recht, Herr Dr. Jost!«

»Ich habe ja gar nichts gesagt, Herr Baumann«, warf dieser dazwischen.

»Dann war es eben Ihre Stimme, die aus einem anderen sprach«, sagte nun Paul. »Sie haben recht, das war ein Gemeinplatz. Aber trotzdem versichere ich meinen Wählern noch einmal, daß ich den Willen habe und daß ich die Wege finden werde. Und nun sei Ihnen sogleich mit Positivem gedient!

Wenn Sie mich wählen, und damit Sie mich wählen, diesen Wunsch gestehe ich Ihnen ganz offen, bin ich heute hier an dieser Stelle vor Sie hingetreten, dann vertrauen Sie mir das Wohl Ihrer selbst zusammen mit dem Wohle unserer Vaterstadt an! Ein Teil dieses Wohles wenigstens! Soweit an der Förderung dieses Wohles mitzuarbeiten in meine schwache Kraft gelegt sein wird! Und das Wohl dieser Stadt wird nach meiner festen Überzeugung auch das eines jeden einzelnen Ihrer Mitbürger sein, wie das Gedeihen des Ganzen nur eine Folge des Gedeihens eines jeden einzelnen seiner Teile ist und sein kann!«

»Bravo! Bravo!«

»Ihr Beifall ermuntert mich, nun im einzelnen auf die Wege der Politik einzugehen, die die Zukunft nach meiner Überzeugung Sie, mich und uns alle führen wird, die Wege, die über das Wohl des Ganzen zu dem des einzelnen und wieder umgekehrt führen werden. Sie wissen, daß wir infolge der herrschenden Zeitumstände erst am Anbeginn einer großen Entwicklung stehen, deren Fortschreiten und Ziel wir heute zu überschauen noch gar nicht in der Lage sind. Auch der alternde Gärtner pflanzt junge Bäume, deren Früchte erst seine Kinder und Enkel ernten werden. Sollten der Verwalter einer großen Stadt und dessen Berater kurzsichtiger als dieser Gärtner sein? Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, an diesem ersten Abend in dieser Rede, die doch nur eine Vorstellung meinerseits sein kann und sein soll, all die hundert Punkte zu berühren, die augenblicklich im Vordergrund des Interesses auf dem Gebiete unserer kommunalen Politik stehen. Also selbst auf die Gefahr hin, hier in diesem Saale zum zweiten Male der Anwendung von Gemeinplätzen geziehen zu werden, hänge ich mich wieder an ein Wort, das wir wohl alle getrost auf unsere Fahnen schreiben dürfen, und dieses Wort heißt: ›der Fortschritt‹.

Fortschritt des Ganzen, er wird auch immer Fortschritt des einzelnen bedeuten, vorausgesetzt, daß dieser einzelne die Stimme seiner Zeit versteht und daß er nicht seinen Vorteil auf Kosten des Ganzen, in dessen Diensten er doch arbeitet, herausschlagen will.

Sie alle wissen … ich bin weit davon entfernt ein Rühmen aus dem zu machen, was nur meine Pflicht gewesen ist, daß ich auch mein Geschäft in den Dienst der Allgemeinheit gestellt habe … die Brotfabrik …«

»Drei Dutzend Bäcker haben Sie ruiniert«, rief da wieder einer dazwischen.

»Durch ihre eigene Schuld«, fuhr Paul in eisiger Ruhe fort. »Doch das Schicksal dieser Bäcker gehört wohl nicht hierher«, meinte er nun ironisch lächelnd und nahm den Faden seiner Rede sofort wieder auf. »Dem Fortschritt wollen und können wir alle dienen. Und heute liegt der Fortschritt dieser unserer geliebten Vaterstadt auf dem Gebiete des Verkehrs. Erleichterung des Verkehrs, herbeigeführt mit allen Mitteln, wird das stagnierende Blut wieder in Fluß bringen, wird dem Besitzenden erst die eigentliche Gelegenheit zur richtigen Verwertung seines Besitzes geben, wird dem Mittellosen neue Arbeitsmöglichkeiten erschließen, wird Tausenden und Abertausenden von Arbeitern Gelegenheit zum Verdienen verschaffen!

Fort mit der Engherzigkeit aus unserer städtischen Politik, so lautet darum meine erste und oberste Parole, fort mit ihr, die dem sich entwickelnden Verkehre hindernd in den Weg tritt. Denn von diesem Verkehr hängen das Wachsen des Handels und der Industrie, der Gründungen und der Arbeitsgelegenheiten, des Handwerks und jedes nutzen- und segenbringenden Geschäftes ab.«

Trotzdem man in weiser Voraussicht nicht geheizt hatte und trotz des draußen herrschenden naßkalten Herbstwetters war es im Saale drückend heiß. Die Tausende von Menschen erfüllten den weiten Raum mit ihrer animalischen Wärme, und Paul rann der Schweiß von der Stirn. Dichter Tabaksqualm lagerte auf der nun eng zusammengepferchten Menge, aus der ihm laut Beifallsrufe unausgesetzt entgegenschallten.

Er hatte sie in der Hand. Das fühlte er in diesem Augenblicke. Das was er jetzt sagte, das würde zünden, das würde den Sieg vielleicht schon an diesem ersten Abend entscheiden, und so wurde er kühner und zuversichtlicher von Minute zu Minute und hielt nun mit seinen Einzelheiten, obwohl diese unter Umständen gefährlich werden konnten, nicht mehr zurück.

»Wir haben das Glück«, so fuhr er nun fort, »an der Spitze unseres Gemeinwesens einen Mann dieses Fortschrittes zu sehen. Die demokratische Partei ist hocherfreut und ich persönlich werde stolz sein, als Ihr Vertreter mit diesem Manne Hand in Hand gehen zu können. Denn seine Projekte sind auch die unseren, sie sind die meinen! Das Wachstum unserer Vaterstadt selber, ihre von Jahr zu Jahr gewaltig zunehmende Bevölkerungsziffer geben uns die Notwendigkeit, an die Lösung neuer Probleme heranzugehen, das Schaffen neuer Projekte geradezu an die Hand.

Die Presse aller Parteien hat sich schon eingehend, teils für teils wider, mit den Projekten unserer Stadtverwaltung und des Herrn Oberbürgermeisters im besonderen beschäftigt. Für diese Projekte mit aller mir zu Gebote stehenden Energie einzutreten, wird in der Versammlung der Stadtverordneten eine meiner vornehmsten Aufgaben sein. Freilich nur so, wie es die Interessen der Stadt, die ja auch die Interessen unserer demokratischen Partei sind, verlangen.

Die Sanierung der Altstadt im Dienste der Hygiene und des Verkehrs, die Erschließung einer neuen und breiten Straße von West nach Ost mitten durch diese Altstadt hindurch und daran anschließend die Schöpfung neuer wichtiger Verkehrsanlagen, welche die Folge dieser zuerst genannten Maßnahmen sein dürften, dies sind die Hauptpunkte, in denen ich zusammen mit der demokratischen Partei auf Seiten des Herrn Oberbürgermeisters zu marschieren gedenke.«

Paul entfaltete den Zettel, den er vorhin vor sich niedergelegt hatte, und entwickelte nun an der Hand seiner Notizen in allen Einzelheiten sein kommunales Programm, berührte und erledigte alle Punkte, die er mit den Herren der Parteileitung durchgesprochen hatte, und mit von Viertelstunde zu Viertelstunde sich steigerndem Interesse folgte ihm die zahlreiche Hörerschaft.

Die für seine Rede vorgesehene Stunde war längst überschritten, als er seine ausführlichen und klaren, alle Einzelheiten der städtischen Politik berührenden Ausführungen mit den Worten schloß:

»Dies in großen Zügen mein Programm, meine Herren, das Programm der demokratischen Partei, für das mit aller Energie und mit meiner ganzen Persönlichkeit einzustehen ich hiermit gelobe, für den Fall, daß mich Ihr Vertrauen in die Stadtvertretung entsenden sollte! Zum Wohle des Ganzen, das sich deckt mit dem Wohle des einzelnen, im Dienste des Fortschrittes, der die Zukunft und das Leben bedeutet!«

Beifall folgte seinen Worten. Geradezu glänzend hatte sich Paul in dieser seiner ersten Rede seiner schwierigen Aufgabe entledigt. Er wußte und er fühlte es, daß der eiserne Wille, der ihn vollkommen beherrschte, daß der unbezwingliche Ehrgeiz, von dem er erfüllt war, ihm zu diesem Siege über sich selber und über die Massen verholfen hatten, und daß kein Agitator mehr, und wenn er auch über die glänzendsten Gaben verfügt hätte, diesen Sieg wieder aus der Welt würde schaffen können.

Und der Agitator erhob sich. Schon während der Rede Pauls hatte sich Dr. Jost bei Mauerbrecher zum Worte gemeldet. Noch hallten die letzten Worte des Kandidaten der demokratischen Partei, der einen so überraschend günstigen Eindruck gemacht hatte, in den Ohren der Menge nach, als die helle Stimme des Herausgebers des »Echo« scharf wie die Schneide eines feingeschliffenen Messers durch den Saal drang:

 

»Meine Herren!

Große Worte von Seiten der bürgerlichen Parteien zu hören, das sind wir, meine politischen Freunde und ich, bei jeder neuen Wahlagitation längst gewöhnt. Aber mit solchen Süßigkeiten wie der Herr Konditor Paul Baumann, hat wohl noch selten einer dem Volke aufgewartet.«

Jost schwieg.

Er erwartete eine Lachsalve als Antwort auf seinen Witz, aber nur zwei, drei seiner Freunde brüllten in der Tat ihr lautes: »Ha, ha, ha« und schwiegen bestürzt, als die Menge diesmal nicht einfallen wollte.

»Süßigkeiten, meine Herrschaften«, wiederholte Jost noch einmal, »Speck, mit dem man die Mäuse fängt! Der kurze Sinn der langen Rede, die mein Herr Vorredner gehalten hat, ist doch nur der, daß er gleich seinem Herrn Vorgänger, dem steinreichen Herrn Alexis Moser, fest entschlossen ist, auf Kosten der Steuerzahler und vor allem auf Kosten des kleinen Mannes durch dick und dünn mit dem Herrn Oberbürgermeister zu gehen, die Gelder für die ehrgeizigen Anträge dieses Herrn kurzerhand zu bewilligen und dann zu lamentieren: es ist kein Pfennig mehr in dem Stadtsäckel und nun heißt es zusehen, wie dem Volke neue Mittel ausgepreßt werden! Und warum? Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen die Augen zu öffnen, meine Herren, ich will Ihnen, wenn Sie es mir auch heute verübeln sollten, den Star stechen! Aus egoistischen Erwägungen, meine Herren, aus rein egoistischen Erwägungen!«

Ein Murren des Unwillens lief durch den Saal.

Willibald Dietrich Jost erhob seine Stimme:

»Ja, meine Herren, von dem famosen Projekte des Herrn Oberbürgermeisters, von der Sanierung der Altstadt hat Herr Paul Baumann hier gesprochen, von dem famosen Projekte, das Millionen verschlingen, das Hunderte von armen Leuten auf die Straße setzen wird, und sein Projekt, das Projekt der demokratischen Partei hat Herr Baumann diese Sache genannt!

Mit einem einzigen Worte zerstöre ich das ganze Netz von schönen Worten, das Herr Baumann gleich in dieser ersten Stunde um Ihre gesunden Sinne, vor Ihre offenen Augen gesponnen hat. Die Sanierung der Altstadt. Nun! Nach dem Plane des Herrn Oberbürgermeisters reißt dieses Projekt eine viele Meter breite Straße durch das Herz der Stadt von Westen nach Osten. Straßen, Plätze und Gassen, viele Hunderte von billigen Häusern werden diesem großartigen Plane zum Opfer fallen. Jedem zum Leide und niemandem zum Vorteile, außer einem, und dieser eine, meine Herren, hat Sie eben mit seinen blinkenden Reden zu kapern versucht!«

»Wieso, wieso, Aufklärung, Aufklärung«, so ertönten nun die Stimmen in dem Saale!

Und:

»Wie wollen Sie Ihre kühne Behauptung beweisen, Herr Doktor«, schrie nun Paul.

»Sie wissen so gut wie ich, Herr Baumann«, fuhr nun Jost fort, »an welcher Straße das kühne Projekt des Herrn Oberbürgermeisters im Westen seinen Anfang nimmt! An keiner anderen als am Ritterwall, dessen wertvollstes Haus das große Geschäftshaus des Herrn Baumann ist. Bitte betrachten Sie sich alle den Plan!«

Jost entfaltete einen großen Stadtplan, auf dem er in roter Farbe die neue von dem Oberbürgermeister geplante Verbindungsstraße eingezeichnet hatte und rief nun:

»Diese Straße stößt direkt auf das Lenzsche Haus am Ritterwall. Nun! Wenn die ganze Straße überhaupt einen Sinn haben soll, dann muß der Ritterwall durchbrochen werden, dann muß das große Lenzsche Anwesen verschwinden, weil es die neue Straße von dem Mittelpunkte des Verkehres trennt! Und glauben Sie, daß Herr Paul Baumann, der Kandidat der demokratischen Partei, sein Haus, das plötzlich infolge der städtischen Interessen in seinem Werte um viele Tausende steigt, umsonst hergeben wird? Glauben Sie, daß dieser Herr mit den schönen Reden dieses Haus seiner Vaterstadt zum Geschenk macht, weil die Interessen des Ganzen auch die Interessen des einzelnen sind, wie er das vorhin so glänzend ausgeführt hat? So wenig dies der Fall sein wird, so wenig glaube ich an die ganze schöne Rede des Herrn Baumann! Köder, Speck, um die Mäuse zu fangen. Das Projekt des Herrn Oberbürgermeisters ist auch das meine, weil ich mein altes Haus das ich kaum mehr gebrauchen kann, um das zehnfache seines Wertes verkaufen werde, wenn dieses Projekt zustande kommt. Das hätte der Herr Konditor sagen sollen und dann hätte er in meinen Augen den Nagel auf den Kopf getroffen … das … das!«

Eine unbeschreiblicher Lärm entstand in dem Saal.

Mauerbrecher schwang in einem fort die Glocke, und aus der Menge wurden teils Schlußrufe laut, teils schrie man »Baumann hat das Wort, Baumann soll sich rechtfertigen.«

Mit einem leichenfahlen Gesichte stand Paul zwischen dem Rechtsanwalt und dem Stadtrat. Er öffnete den Mund. Er wollte sprechen. Alle sahen es. »Ruhe! Ruhe!« ertönten nun aufs neue die Rufe »Baumann hat das Wort.«

Jost schwieg. Triumphierend sah er seinen Gegner an, von dem er glaubte, daß er durch diese seine Enthüllung mit einem Schlage völlig vernichtet sei.

Aber mit einem Blicke, den Jost niemals wieder in seinem Leben vergaß, maß Paul den Doktor. Dann sagte er mit klingender, hohn- und haßerfüllter Stimme:

»Ich werde der Stadt den Beweis meiner Selbstlosigkeit liefern, und Sie, Herr Doktor, verleumden Sie nur ruhig weiter, das Maß Ihrer Verleumdungssucht und Ihrer Grobheit kann das Maß der Verachtung niemals erreichen, das meine Freunde und ich Ihnen entgegenbringen!«

Vor Wut schnaubend, blaß wie sein Gegner, wankte Jost. Und unter den Pfuirufen der empörten Menge befahl der Kommissar die Auflösung der Versammlung.


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