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Die am folgenden Morgen erscheinenden Zeitungen verkündeten der Stadt den Unglücksfall, der Peter im Café Koroni betroffen hatte, und enthüllten zugleich dessen eigentliche Ursache. Es war bekannt geworden, daß der Besitzer der angesehensten Konditorei, die Münchener Neuesten Nachrichten in der Hand, bewußtlos von einem Kellner des Cafés gefunden worden war. Kein Wunder also, daß die Berichterstatter das Münchener Blatt durchstöberten, um vielleicht in dessen Inhalt eine Erklärung für das plötzliche Zusammenbrechen des stadtbekannten Mannes zu finden. Und sie hatten nicht lange zu suchen gehabt. Die kurze Notiz über Konrads Todessturz in den Bergen beleuchtete blitzartig den ganzen Zusammenhang.
Nach drei Tagen trug man Peter unter reger Beteiligung aller Schichten der Bevölkerung zu Grabe. Paul wohnte dem Leichenbegängnisse nicht bei. Ein Schreiben des Bürgermeisteramtes in Benediktbeuren und ein Brief von Konrads einstigem Meister Reutter in München hatten ihn zur Ordnung der Verhältnisse in die Berge gerufen. Über den plötzlichen Tod des Freundes und Bruders war zwischen ihm und Agathe kaum ein Wort gewechselt worden. Es schien, als scheuten sich die beiden, das furchtbare Ereignis, das doch nur die Erfüllung ihres verbrecherischen Wunsches war, zu berühren. Auf dem kleinen, unweit des weltberühmten Klosters gelegenen Bergfriedhof hatte Konrad nun seine Stätte gefunden, und Paul kehrte in die Heimat zurück.
Und furchtbar, der Schatten des Toten, der Bruder, der lebend den beiden immer im Wege gestanden hatte, trat nun zwischen ihn und Agathe. Tage vergingen, ohne daß es zwischen ihm und dem Mädchen, dessen Hand der sterbende Vater in die seine gelegt hatte, zu einer Aussprache gekommen wäre. Paul mied sie und sie schien vor ihm zu fliehen. Stundenlang schloß er sich in Peters Bureau ein und hier gab er sich einer Beschäftigung hin, der er wohl schon ein dutzendmal in diesen wenigen Tagen obgelegen hatte.
Er zog den Schlüssel aus der Tasche, den ihm Peter auf dem Sterbebette in der letzten Minute seines verhauchenden Daseins eingehändigt, und öffnete die Mittelschublade des Schreibtisches, in welche zu Peters Lebzeiten kein anderer Mensch, auch Sohn und Tochter nicht, Einblick gehabt hatte.
Wie oft hatte er schon das Gleiche getan und immer wieder stand er vor einem Rätsel! Was hatte der sterbende Peter damit sagen wollen, daß er ihm in der letzten Minute seines dahinziehenden Lebens mit feierlicher Gebärde diesen Schlüssel überreicht hatte? Welchen Schatz barg diese seltsame, bei Lebzeiten Peters immer verschlossene Schublade nun nach seinem Tode? Ein Familiengeheimnis, die Beichte einer Schuld, die Angabe eines Ortes, wo am Ende Schätze ruhten, irgend etwas Derartiges hatte er in dieser Schublade des Schreibtisches vermutet. Auch ihm war Peters seltsam scheues Wesen in all den Jahren aufgefallen. Möglich also, daß Peter irgend etwas zu verbergen hatte, und daß er ihn, den er mit feierlicher Gebärde, da er von dem Tode des einzigen Sohnes gewußt, zu seinem Schwiegersohn und Nachfolger bestimmt, zum Mitwisser dieses seines Geheimnisses hatte machen wollen. Aber nichts Derartiges konnte er trotz des eifrigsten Suchens in all den Tagen in dieser Schublade entdecken, nichts, keine Spur, die irgendwohin geführt hätte. Denn, wie es ihm schien, ganz gleichgültige, nebensächliche Papiere, die man zur Seite geschoben haben mochte, machten den Inhalt dieser von Peter wie mit Argusaugen gehüteten Schublade aus.
Allerdings geordnet waren diese Papiere, numeriert und sorgfältig in Mappen verwahrt und zusammengefaltet. Beim besten Willen, er konnte sich nicht klar darüber werden, was denn diese Papiere bedeuteten, und einen Dritten einzuweihen, ehe er selber des Rätsels Lösung gefunden, das schien ihm zum mindesten unvorsichtig und nicht klug. Freilich, mit gewaltigen Plänen, die Peter in seinem Innersten hin und her erwogen haben mochte, mußten diese Papiere im engsten Zusammenhange stehen. Aber eine lesbare, schriftliche Aufzeichnung dieser Pläne war offenbar nicht vorhanden, wie genau und oft er auch danach suchte.
Die Papiere, die diese Mappen hier bargen, enthielten weiter nichts als Zeichnungen und Grundrisse, wie sie Architekten und Ingenieure für Häuser und ganze Straßenzüge anzufertigen pflegen. Es sah aus wie die Sammlung der gelegentlich eines Preisausschreibens eingelaufenen Arbeiten, und Paul konnte und konnte aus dem Ganzen und aus dessen Zweck und Ziel nicht klug werden. Manchesmal wollte es ihm scheinen, als sei hier immer und immer wieder ein und dasselbe Projekt in den verschiedensten Variationen behandelt worden. Eine Riesenanlage, die Millionen verschlingen mußte! Sie nahm ihren Ausgang von irgendeinem vielleicht nur in der Phantasie seines Schöpfers existierenden phantastisch großen Bahnhofe und stellte eine ganze aus Hunderten von Häusern bestehende Stadt dar. Auf dem einen Plane waren die hier skizzierten Häuser Villen, die mitten in einem Gewirr von Anlagen, Fontänen und künstlichen Weihern lagen, auf einem andern waren es fünf und sechs Stockwerke hohe Geschäftshäuser. Was hatte das alles zu bedeuten? Wer war der phantastische Urheber dieser gigantischen, wahrscheinlich niemals in die Wirklichkeit zu übersetzenden Pläne, die, Gott wußte wo, eine neue Stadt der Arbeit und des Luxus ins Leben zu rufen bestimmt zu sein schienen? Stammten diese Blätter etwa von Peter selber her? Und was hatte es für einen Sinn, daß gerade er, der doch lediglich Geschäftsmann war, den solche Dinge weder beruflich noch sonst irgendwie angehen mochten, gerade diese Pläne so sorgsam behütet haben sollte?
Zu Dutzenden waren diese eingehenden, jedes Detail wiedergebenden Pläne in diesen Mappen vorhanden. Einer sah aus wie die Anlage einer ganzen Fabrikstadt mit Maschinenhallen und Arbeitsräumen, Wohnungen für kleine Leute und einer Unmasse von Schornsteinen; und ein anderer wieder, als ob es sich auf ihm um das Projekt der Niederlegung eines ganzen Stadtviertels handele, als ob hier breite Boulevards und moderne Straßen mitten durch alte Gassen und Gäßchen gelegt werden sollten.
Aber das Ganze, sein Zweck und Ziel, das blieb trotz dieser Erkenntnis von sonderbaren und interessanten Einzelheiten nach wie vor ein Rätsel. Was hatte Peter mit diesen Plänen gewollt, warum hatte er gerade diese so sorgsam in der Mittelschublade seines Schreibtisches verschlossen, warum hatte er ihm feierlich in der Sterbestunde gerade diesen Schlüssel anvertraut?
Wieder schweiften Pauls Blicke von einem Plane zum anderen, wie schon so oft. Ob er nicht irgendwo einen Namen oder ein Zeichen entdecken könne, irgend etwas, was diese phantastischen und unbegreiflichen Projekte an die Wirklichkeit band? Aber nichts vermochte er zu lesen, nichts als unverständliche Buchstaben und Zahlen. Hier stand ein E, dort ein Q und wieder dort ein R, hier stand 12 897, dort 12 899. Zahlen und Buchstaben, die unweigerlich eine ganz bestimmte Bedeutung haben mußten, über die er sich am Ende, da Peters Mund für ewig verstummt war, immer im Unklaren bleiben würde.
Des Abends war er nun mit Agathe allein in dem alten Hause am Ritterwall, das jetzt durch die in rascher Folge sich häufenden Schicksalsschläge der alleinige Besitz dieses Mädchens geworden war. Schneller und furchtbarer, so wie er es niemals für möglich gehalten, hatten sich die nun seit Jahren in seinem Innersten gehäuften Wünsche erfüllt.
Das Personal des großen Geschäftes, so weit es im Hause wohnte, zog sich nach dem Abendessen in die ihm zugewiesenen Räume zurück, und durch die altmodische Wohnung der Lenz' und der Badrutts huschte nun die schwarzgekleidete Agathe wie ein Schatten.
»Mein fleischgewordenes Schicksal«, sagte Paul leise vor sich hin, als er eben die Treppe hinaufging, um sich zur Ruhe zu begeben, und ihm Agathe, ein Licht in der Hand, wie das Sinnbild seiner Schuld und seiner Zukunft, entgegentrat.
Einen Moment schauerte er zusammen.
Dann faßte er sich und sagte mit weicher Stimme:
»Ich will zur Ruhe gehen, Agathe, schlaf auch du, Gute Nacht!«
Sie reichte ihm die Hand, eine schmale, bleiche Hand, auf deren Oberfläche die blauen Adern im Scheine der flackernden Kerze deutlich hervortraten und sagte:
»Ich werde nicht schlafen können, Paul, und wir müssen doch zusammen reden, komm!«
Willenlos folgte er ihr in das nun so verödete Eßzimmer, in dem er zusammen mit ihr und dem Vater so manchen Abend verbracht hatte.
Und da er jetzt so über diese Schwelle trat, da fiel ihm alles Mögliche ein, was er hätte tun sollen, was er hätte tun müssen und was er, er selber wußte kaum aus welchem Grunde, im Laufe aller dieser Tage versäumt hatte.
Nun war er allein mit Agathe. Sie selber hatte keine näheren Verwandten in der Stadt, und mit den entfernteren stand sie nicht, weil ja ihr Vater nur ein Pflegekind der Badrutts gewesen und weil diese entfernteren Verwandten den Verlust der Erbschaft niemals verschmerzt hatten.
Aber er, er hätte seine Mutter unter allen Umständen besuchen und um ihren Beistand bitten müssen. Frau Baumann wäre dann sicher in dem Lenzschen Hause erschienen und hätte Mutterstelle an der verwaisten Agathe vertreten. Und nun war es wieder Nacht, ohne daß das geschehen. Morgen würde er die Mutter aufsuchen und ihr alles auseinandersetzen. Wenn die auch infolge der Millionenpartie ihrer Tochter Hilde ein wenig hochmütig geworden war, die Aussicht ihres jüngsten Sohnes, Agathe zu heiraten und alles, was einst den Lenz' gewesen, mit einem Schlage an sich zu bringen, würde sie dennoch reizen.
Freilich für seine Schwester Hilde und für die hochnäsigen Seligers war und blieb er, der Zuckerbäcker, eine Null.
An die Mutter und an die Seligers dachte er, als er nun auf dem alten Sofa im Eßzimmer an der Seite Agathes saß und als diese ihn plötzlich und ganz unvermittelt fragte:
»Du hast den Vater auf seinem Sterbebette verstanden, Paul?«
Er nickte.
»Die Tage des Todes und der Beerdigung eigneten sich nicht für eine Verlobungsfeier, Agathe«, sagte er dann.
»Aber trotzdem müssen wir uns klar über das werden, was wir wollen, Paul«, erwiderte sie leise, und eine flammende Röte bedeckte mit einem Male ihr Gesicht.
»Darüber sind wir uns doch immer klar gewesen, Agathe«, antwortete er nun. »Hätte ich sonst …«
Er brach diesen Satz ab.
»Was wolltest du sagen, Paul?«
»Hätte ich sonst bei meiner Sehnsucht in die Fremde so lange in diesem Hause ausgehalten«, vollendete er. Dann schwieg er eine Weile.
Aus seinem Brüten erweckte ihn die Frage Agathes: »Wie gedenkst du deine Zukunft zu gestalten, Paul?«
Da rückte er endlich näher an ihre Seite, obwohl ein Schauer des Grauens durch seinen Körper rann, obwohl es ihm war, als wenn er sich in dieser Stunde dem Tode selber vermählen sollte.
Mit eiskalten Fingern umklammerte er Agathes bleiche Hand, und nun fragte er mit zitternder Stimme:
»Du willst doch meine Frau werden, Agathe?«
Sie nickte. Sie breitete die Arme auseinander, als ob sie sich in zärtlichem Verlangen an ihn drücken wollte, und er sank zurück in die Ecke des Sofas.
Er hielt sich die Hand vor die Augen, als gelte es, einen furchtbaren Anblick loszuwerden, und sie fragte erstaunt:
»Was hast du, du bist so seltsam, Paul, ich bin doch dein.«
Da besann er sich.
Das war ja gar kein wirklicher Mensch, der dort hinten in der Ecke des Zimmers stand. Das war ja nicht Konrad, wie er sich eben eingebildet hatte. Konrad war ja tot. Und das, was er dort in der Ecke des Zimmers noch eben deutlich gesehen hatte, was nun wie ein Dunst und Nebel zerfloß, das war nur die Ausgeburt seiner überreizten Sinne gewesen.
Und: »Ich habe dich lieb, Agathe«, stammelte er, ohne den Sinn seiner eigenen Worte zu begreifen, in dem dumpfen Gefühle, als ob diese Phrase nun hierher gehören könne.
Und wieder breitete sie die Arme nach ihm aus.
»Vater und Konrad sind doch jetzt tot. Ich habe doch jetzt niemanden, als dich allein auf der Welt«, kam es von Agathes Lippen.
Da preßte er sie endlich an sich.
Und sie suchte seinen Mund, als ob seine Umarmung wirklich der Ausdruck der nun erwachenden Leidenschaft gewesen wäre, aber sein Kuß erwiderte kaum den Druck des ihren.
Wie eine Lähmung lag es über seinem ganzen inneren Menschen, als sei urplötzlich durch die schreckliche Verwirklichung seines jahrelangen Wunsches ein Etwas ausgeschaltet aus seinem physischen und geistigen Leben, als entbehre er mit einem Male der Fähigkeit, sich Agathe körperlich und in Leidenschaft nähern zu können,
»Du bist so seltsam, Paul«, vernahm er nun wieder ihre Stimme, »und dein Mund ist kalt.«
Da übermannte er sich. Fester schloß er seine Arme um den Körper des Mädchens und, ihren Mund mit Küssen bedeckend, log er ein über das andere Mal: »Ich liebe dich, Agathe, ich liebe dich«, bis er meinte, daß sie ihm glauben müsse.
Und seltsam, nun erschauerte sie unter seiner stürmischen Umarmung. Aber es waren nicht die Schauer der Wonne und der jäh erwachenden Lust, die bei dieser ersten Berührung mit dem Manne durch ihren jungfräulichen Körper rannen. Etwas von seiner Kälte schien hinüberzufließen in ihre Adern. Ihr war plötzlich, als ob ein Entsetzenvolles, ein Grausiges sie trenne von diesem da, dem sie sich in all den Jahren ihres Zusammenseins in Gedanken täglich angeboten hatte, dessen Hand der sterbende Vater feierlich in die ihre gelegt, dem sie gehörte und gehören mußte, weil sie sich das Leben und die Zukunft nun nach des Vaters und des Bruders Tode gar nicht mehr anders vorstellen konnte.
Was war das nur? Dieses Kalte, Lähmende, Entsetzensvolle, das in dieser entscheidungsvollen Stunde zwischen ihr und diesem stand?
»Was hast du, Paul, was ist dir?« stammelte sie nun wieder.
Und er, der mit einem Male voll Entsetzen bemerkte, daß Agathe etwas von dem fühlte, was niemals ausgesprochen worden war und was nie im Leben nach seinem felsenfesten Entschlusse ausgesprochen werden sollte, heuchelte:
»Mir ist heiß, Agathe, ich bete dich an, ich liebe dich, ich brenne nach dir, Agathe.«
Er riß sie in seine Arme, preßte ihren tannenschlanken Mädchenkörper an sich und sog an ihren Lippen.
Aber nicht in jäh über ihn hereinbrechender Wollust, nicht erfüllt von dem Wunsche, sie nun in dieser Stunde, in dieser Nacht noch zu seinem unverlierbaren Eigentume zu machen, sondern nur beherrscht von der einen tödlichen Angst, sie könne in seinen entsetzten Blicken, in der Unfähigkeit, ihrem Begehren nach ihm zu willfahren, den Verrat seines furchtbaren Wunsches lesen, sie könne auf einmal, sehend geworden, erkennen, daß eine nie im Leben wieder gutzumachende Gewissensschuld zwischen ihm und dem Weibe stand, auf dessen Besitz er alles gesetzt hatte.
Seine mit der ganzen Kraft des Verstandes und des Willens in dieser Stunde erheuchelte Leidenschaft erlahmte.
»Verzeih, Agathe, verzeih«, log er nun und machte sich los aus der Umarmung derer, die ihn eben wieder zärtlicher, inniger zu umschlingen begann.
Bestürzt starrte sie ihn an.
Purpurglut hatte sich über ihr vorhin so bleiches Gesicht ergossen. Der Sturm tobte in ihrem Inneren, denn sein nach ihrem Gefühle vorhandenes Verlangen hatte Begierden geweckt, die bislang ungekannt in der Seele des Mädchens geschlummert hatten.
Maßlos schämte sie sich. Sie hätte vor ihm in den Erdboden versinken mögen, als er nun sagte:
»Du bist meine Braut, Agathe, nach dem Willen des toten Vaters und nach meinem Willen meine Braut. Und meine Braut ist mir heilig. Ich werde morgen meine Mutter bitten, daß sie dich in Ihren Schutz nimmt, bis du nach Recht und Gesetz meine Frau geworden bist. Gute Nacht, Agathe.«
Sie fühlte sich außerstande, seinen Gruß zu erwidern. Sie floh vor ihm in das Zimmer, in dem sie all die Nächte ihrer glücklichen Mädchenzeit verbracht hatte, und dort angekommen, schluchzte sie, außer sich, verzweifelt über den Tod des Vaters und des Bruders, über ihn und über sich selber und über die Zukunft, die rätselvoll, manchmal wollte es ihr scheinen furchtbar, und dennoch in festen Umrissen vorgeschrieben, vor ihren Blicken dalag.
Was sollte das werden? Wie war sein seltsames, schier rätselvolles Wesen zu erklären? Hatte sie nicht immer Jahre hindurch an seiner Seite diesen Traum geträumt, der nun in Erfüllung gehen sollte? Hatte sie nicht ihn als Leiter des väterlichen Geschäftes und sich in diesem Hause als seine waltende und schaltende Gefährtin gesehen, wenn der Vater einmal alt geworden oder nicht mehr am Leben war, und wenn der Bruder aus der Ferne, in die es ihn immer hinausgetrieben, nimmer zurückgekehrt sei?
Und nun? Nun war alles in wenigen Wochen Wahrheit geworden. Schauerlich schnell und furchtbar, so ganz anders, als er und sie es gewünscht und geträumt hatten. Sie und er! Freilich, freilich! Der Wunsch hatte in ihnen gelebt, in ihnen allen beiden, daß irgendein Umstand Konrad in der Ferne festhalten möchte, damit Paul und sie dereinst die Besitzer des blühenden Geschäftes am Ritterwall sein könnten.
Wie oft hatte sie in stillen Abendstunden mit dem Vater darüber gesprochen, und der Vater hatte gemeint, daß sich aus Paul dermaleinst ein tüchtiger Geschäftsmann entwickeln werde, während Konrad keinen Sinn für das ehrliche Handwerk hatte. Und ihr Herz hatte frohlockt bei solchen Gesprächen, und der Wunsch dieses Herzens hatte den Bruder in die Ferne getrieben, ihr Wunsch und Pauls Wunsch, in die Ferne, wo er nun so elend zugrunde gegangen war.
Der Wunsch, der verruchte, der vermaledeite, der alles für sich allein begehrte, das Haus und alles, was mit diesem Hause in Zusammenhang stand!
Und nun in der ersten Stunde, da sie sich dem genähert, der hier in diesem Hause Herr an ihrer Seite werden sollte, da war es zwischen sie getreten, ein unfaßbares Etwas, ein Gespenst, das die geisterhaften Hände auf ihrer beiden Herzen legte, so daß der Kuß nicht von der Lippe sich lösen und die Kraft der Umarmung, als wenn sie plötzlich durch ein Wunder der Allmacht gelähmt würde, ersterben mußte.
In der Mittagsstunde des folgenden Tages stellte sich Frau Baumann, Pauls Mutter, in dem Lenzschen Hause ein. Es war das erstemal in ihrem Leben, daß sie das alte Haus am Ritterwall betrat. Als Schwiegermutter des reichen Harry Seliger, als Mutter des flotten Offiziers und späteren Schloßbesitzers Rolf, hatte sie es stets unter ihrer Würde gehalten, sich mit der Zuckerbäckersfamilie, in deren Schoße ihr Jüngster einen Unterschlupf gefunden, einzulassen.
Aber heute schon in früher Morgenstunde war Paul bei ihr gewesen und hatte ihr die Verhältnisse, wie sie nun lagen, haarklein auseinandergesetzt. Und Paul war im rechten Momente zu der Mutter gekommen. Seit dem Untergange ihres Lieblings Rolf stand Frau Baumann mit ihrer Tochter Hilde und deren Mann Harry Seliger auf schlechtem Fuße. Zwar bewohnte sie noch nach wie vor die elegante Etage, die ihr der Leiter der Kommerzbank zur Verfügung gestellt hatte und deren Mietzins er bezahlte, zwar erhob sie noch regelmäßig am Anfang eines jeden Quartals die nennenswerte Summe, die ihr der reiche Schwiegersohn als Lebensrente ausgesetzt hatte. Aber sie konnte es nicht verschmerzen, daß Hilde und Harry ihren Liebling Rolf, den einzigen, der nach ihrer Ansicht der Familie Ehre machte, im Stiche gelassen und diesen so in seine Ehe mit Ellen Lindley und infolge dieser Ehe in sein Verderben hineingetrieben.
Lange Zeit hatte sie nichts von Rolf gewußt, als das eine, daß er nach dem Tode seiner ersten Frau sich in England mit Vera von Wollin zum zweiten Male vermählt habe und daß er nun in Paris ein flottes Leben führe. Dann hatten die Zeitungen aus der französischen Hauptstadt die Nachrichten von dem großen Prozesse gebracht, an dessen Ende Rolf Baumann und Vera von Wollin wegen Totschlags und Betruges zu langjähriger Zwangsarbeit in den Kolonien verurteilt worden waren. Und nun hatte Seliger durch Vermittlung des deutschen Konsuls in Rio de Janeiro endlich erfahren, daß zwei Deutsche in der französischen Verbrecherkolonie Guyana an den Folgen des tropischen Klimas gestorben seien. Die beiden waren Rolf und Vera von Wollin.
Seit diesem Tage haßte Frau Baumann die Seligers. Denn die allein waren nach ihrer Meinung an all dem Unglück schuld, das ihren vergötterten Rolf betroffen hatte, der eben nicht dazu geboren war, sich einzuschränken und dem der knickerige Bankdirektor die Mittel für das luxuriöse Leben, das er nach Frau Baumanns Meinung als Offizier doch zu führen berechtigt war, vorenthalten hatte.
So kam Paul gerade in dem rechten Augenblicke, denn Frau Baumann war fest entschlossen, mit den Seligers zu brechen, sobald sich ihr dazu nur eine Möglichkeit bot. Und diese Möglichkeit war nun vorhanden, da ihr in all den Jahren seiner Lehrlings- und Gehilfenzeit verachteter Jüngster durch einen glücklichen Zufall in die Lage versetzt war, die Erbschaft des ausgedehnten Lenzschen Geschäftes anzutreten.
Frau Baumanns alte Habgier erwachte. Was Paul da erzählte, das war ja ein Glück, wie sie es nach all den Schicksalsschlägen der vergangenen Jahre nicht mehr für möglich gehalten hatte. Die Lenzens waren ein solides Haus. Und wenn es sich bei dieser Heirat Paulchens auch nicht wie einstmals bei Ewald um die Langschen Millionen handelte, so war doch die Aussicht, als Pauls Mutter und als Agathes Schwiegermutter Herrin dieses soliden Geschäftshauses zu werden, für eine Frau vom Schlage der Frau Baumann verlockend genug.
Die Millionen hatten ihr und ihrer Familie kein Glück gebracht. Nicht die, welche Ewald ein kurzes Jahr in seinen Händen gehalten hatte, und noch viel weniger diejenigen, die der Lebenstraum ihres unglückseligen Rolf gewesen.
Nun winkte ihr in greifbarer Nähe etwas ganz anderes. Die Besitznahme eines soliden Bürgerhauses, in dem seit Generationen eines der ersten und lukrativsten Geschäfte in der ganzen Stadt betrieben wurde. Mit der Hand der einzigen Tochter würde Paul, wie er ihr gesagt hatte, das Ganze mit einem Schlage in seinen Besitz bekommen, und sie sollte der noch so jungen und sicher leicht lenkbaren Agathe eine zweite Mutter sein.
Das gefiel ihr.
Sie haßte Hilde und sie haßte Seliger. Von allen ihren Kindern hatte diese hergelaufene Hilde, die einst als Tänzerin an einem kleinen Hoftheater ihre Karriere begonnen hatte, noch das meiste und dazu ein unerhörtes Glück. Als vielbeneidete Gattin einer der ersten Finanzgrößen der Stadt saß die nun in ihrer palastartigen Villa, und Frau Baumann und ihr vergötterter Rolf hatten die Almosen durch Hildes Vermittelung aus Seligers Händen entgegengenommen. Das sollte nun anders werden, wenn es ihr gelang, Agathe eine liebevolle Schwiegermutter zu werden und den Willen Pauls in ihre Hände zu bekommen, wie ihr das einstmals auf Schloß Schönblick mit dem Willen Ewalds gelungen war.
Freilich, Paul war ein so ganz anderer, als Ewald. Er war kein Rolf, nicht so wie dieser, der ihr selber von allen ihren Kindern am ähnlichsten gewesen. Bei Rolf hatte sich Wille an Wille zerrieben und der Sohn war hier in seiner verbrecherischen Rücksichtslosigkeit stärker als die Mutter. So war Paul nicht. Aber er war auch kein Ewald, kein Schwärmer und kein Träumer, kein Idealist, wie es ihre Tochter Martha, die Gattin des Gymnasialdirektors Schröder, wie es der unglückliche Besitzer von Schloß Schönblick gewesen waren.
Von allen ihren Kindern kannte sie diesen Jüngsten, diesen Paul, am wenigsten. Sie wußte nicht recht, was sie aus ihm machen sollte. War es Faulheit oder Dummheit oder war es am Ende Verschlagenheit von ihm, daß er dem Gymnasium kurzerhand Valet gesagt und als einfacher Lehrling in das große Geschäft von Peter Lenz eingetreten war? Fast schien es ihr heute, als ob sie ihn einst zu Unrecht für einen minderbegabten und wenig arbeitsamen Menschen gehalten hätte. Es kam ihr mit einem Male vor, als sei alles, was Paul nun in Szene setzte, schon von langer Hand vorbereitet, als habe schon seine Jugendfreundschaft mit Konrad und Agathe Lenz, über die sich Rolf immer lustig gemacht, ihre wohlerwogenen Zwecke gehabt.
Auch sie hatte von Peters plötzlichem Tode und von seiner Veranlassung in den Zeitungen gelesen, auch sie wußte nun, daß der sterbende Vater feierlich die Hand der einzigen Tochter in die Hand ihres Jüngsten gelegt hatte. Und so trat sie denn gespannt und voll Neugier den ersten Gang in das alte Haus am Ritterwall an, daß sie, falls es sich der Mühe verlohnte, wie einst Schloß Schönblick, Stück für Stück, zu erobern entschlossen war.
Agathe empfing Pauls Mutter in dem altmodischen Wohnzimmer, dessen verschossene Möbel noch von der Aussteuer der Badrutts herstammten. War doch Peter in diesem Hause ein Gegner aller unnötigen Neuerungen gewesen. Weniger aus angeborener Sparsamkeit, als vielmehr aus seiner Pietät vor dem Ererbten und Hergebrachten, hatte er es stets vermieden, dieses Haus, soweit das nicht infolge der Ausdehnung des täglich wachsenden Geschäftes eine unumstößliche Notwendigkeit war, wesentlichen Umänderungen zu unterziehen. In der geheimsten Falte seines Herzens hatte ihm stets davor gegraut, daß einmal in der Tat der Tag komme, da das alte Haus am Ritterwall für den Abbruch reif sei und da er mit Hilfe der gewaltigen Kaufsumme, die er unter besonderen Umständen für den alten Kasten zu fordern und zu erlangen entschlossen war, das neue und von ihm erträumte große Geschäftshaus in der Hauptverkehrsader der neuen Stadt beginnen müsse.
Es war ein seltsames Gefühl, das Frau Baumann nun beschlich, als sie zum ersten Male in dem altmodischen Wohnzimmer dieses altertümlichen Hauses der zukünftigen Schwiegertochter gegenüber saß und dieser, mütterliche Trostesworte sprechend, den Arm um die Hüften gelegt hatte. So ganz anders überkam sie es hier, als in den herrlichen Räumen von Schloß Schönblick, als in der protzenhaften Villa, die Harry Seliger zusammen mit ihrer Tochter Hilde bewohnte.
Etwas ganz Merkwürdiges, von Frau Baumann noch niemals in ihrem Leben Empfundenes, sprach heute hier in diesem altväterischen Hause zu ihr. Es war etwas Ehrfürchtiges, etwas Warnendes, als ob hier die Arbeit ganzer Generationen, das Werk von Jahrzehnten und Jahrhunderten plötzlich das Wort ergriffen hätte und der Eindringenden Respekt vor jedem der hier aufgestellten, durch lange und ehrliche Arbeit erworbenen Gegenstände beibringen wollte.
Über dem vergilbten Ripssofa, das sein Entstehen sicher noch dem achtzehnten Jahrhundert verdankte, hingen, in einfachen Goldleisten gerahmt, die Bilder der Familien Lenz und Badrutt. Die Goldleisten waren schon wurmstichig geworden und über die Ölfarbe der Porträts hatte die Zeit jene wundersame Patina gezogen, die gerade den alten Bildern ihren eigentümlichen Reiz verleiht.
Ernst und würdevoll blickten diese Köpfe aus ihren Rahmen hernieder, als wenn sie fragen wollten, aus welchem Grunde und in welcher Absicht bist du hierher gekommen in dieses Haus, zu dem letzten Sprossen eines Stammes, für den es in all den Jahrhunderten und Jahrzehnten einer reichen Vergangenheit nur den einen Weg ehrlicher und rastloser Arbeit gegeben hat?
Merkwürdig genug sahen sie aus die Gestalten auf den Bildern in den Moden längst vergessener Jahrzehnte, die biederen Bäckermeister mit ihren ehrsamen Gattinnen im Brautstaat oder Sonntagsputz, so wie sich der Handwerker anno dazumal malen ließ, Bilder, die noch dem Enkel und dem Urenkel einen Begriff von seiner Behäbigkeit und seinem Biedersinn geben sollten.
Es war Frau Baumann in dieser Stunde, als werfe sie hier zum ersten Male in ihrem Leben einen Blick in eine ihr bislang völlig fremd gebliebene Sphäre. Und zwei von ihr im Leben noch niemals geahnte Gegensätze, zwei völlig und durch Abgründe voneinander getrennte Welten taten sich auf einmal vor ihren aufs höchste erstaunten Augen auf. Bislang hatte sie in ihrer Kurzsichtigkeit die Leute schlechterdings in geringe und vornehme, in ungebildete und gebildete, in arme und reiche geschieden. Und nun mit einem Schlage, gleich bei ihrem ersten Eintritt in das Lenzsche Bürgerhaus, dessen alleiniger Erbe nun ihr jüngster Sohn Paul durch einen glücklichen Zufall werden sollte, erkannte sie wie in einer momentanen Eingebung den Unterschied, der zwischen den von den Lenz und Badrutts in Jahrzehnten harter und unausgesetzter Arbeit erworbenen Reichtümern und den von Lang und Seliger an der Börse erspekulierten Millionen bestand.
Aus den würdevollen Gesichtern der im Bilde über dem verblaßten Ripssofa hängenden Vorfahren, aus den sorgfältig mit gehäkelten Spitzen überdeckten Tischen und Kommoden vernahm Frau Baumann diese Sprache, die ihr von Minute zu Minute vernehmlicher und vernehmlicher kündete, daß hier die eigentliche Basis bürgerlicher Wohlhabenheit und ökonomischer Sicherheit sei.
Du lieber Gott, was hatte sie denn davon gewußt? Sie, die Vermögenslose, die in jugendlichem Alter dem armen Gymnasialprofessor die Hand zum ehelichen Bunde gereicht hatte? Sie, der später die Heirat Ewalds und die Ehe Hildes, sowie Rolfs vergebliche Jagd nach den Millionen den Einblick in eine Welt des wahnsinnigsten Luxus und der unerhörtesten Verschwendung eröffnet hatten? Und nun?
Während sie mit Agathe sprach und diese ihr in vollstem Vertrauen ihr Herz ausschüttete, überkam sie in diesem Zimmer, das so ganz anders war, als die Zimmer der Mietswohnungen, die sie vor Ewalds Heirat innegehabt, und auch wieder so ganz anders, als die Räume auf Schloß Schönblick und die in der Villa Seliger, eine neue Erkenntnis. Hier erzählte jedes einzelne Stück seine Geschichte für den, der zuzuhören vermochte. Und diese war ein unentbehrlicher Teil der Familienchronik. Ob Sofa oder handgemalte Tasse, Bild oder selbstgehäkelte Decke, die seit Jahren und Jahrzehnten ein und denselben Platz innehatten, einerlei, sie alle erschienen hier als ein Baustein dieses festgefügten Ganzen, und sie berichteten, wie sie erarbeitet und erspart, wie sie erobert und in ihre Würde eingesetzt worden waren.
Und hinaus aus diesem Zimmer schweiften Frau Baumanns Blicke durch das Haus und seine Anbauten und weiter nach anderen Häusern und Grundstücken, von denen man wußte, daß sie der Familie Lenz gehörten und daß sie eines nach dem anderen in langer und langsamer, von Jahr zu Jahr sicheren Gewinn anhäufender Arbeit von Generation zu Generation zusammengekommen waren.
So ganz anders als die Millionen Langs und die Rieseneinkünfte eines Harry Seliger, so ganz anders auch, als das märchenhafte Vermögen, von dessen Eroberung Rolf den ihn und andere vernichtenden Traum der Größe und des Reichtums geträumt hatte.
Hier hingen die Bilder der Lenz und der Badrutts. und jeder einzelne dieser behäbigen Bäcker und Konditormeister hatte das Neue auf das Alte in rastloser, ehrlicher, täglicher Arbeit gehäuft. Und jede dieser Frauen in den altmodischen und häßlichen Spitzenhäubchen hatte das Ihre zur Erhaltung dieses von dem Gatten mit der Arbeit seiner Hände Erworbenen an ihrem Platze getan.
Im Geiste sah Frau Baumann Irma und Hilde, sah sie Ellen und Martha, stellte sie sich die nie gesehene Vera von Wollin vor. Und nun verglich sie diese Frauen mit den Frauen der Lenz und Badrutts. Zunächst Martha, die nichts ersparen konnte, weil es ihr in ihrer Ehe mit Schröder ging, wie es ihr selber in der ihren mit Friedrich Baumann gegangen war, und dann die anderen, die den Wert des Besitzes nicht kannten, weil ihnen ihr Besitz mühelos erworben und unerschöpflich schien.
Und als sie nun ihr langes und eingehendes Gespräch mit Agathe beendete, als sie dieser tröstend die Hand auf den Kopf legte und zu ihr wie einst zu Irma Lang die Worte sprach: »Armes Kind, ich will dir eine zweite Mutter sein«, da sah sie sich wieder selber als die schaltende und waltende Herrin dieses alten Hauses am Ritterwall, bereit, die Erbschaft der Frauen der Lenz und der Badrutts anzutreten.
Denn für die Aufgabe, die ihrer wartete, schien ihr Agathe noch viel zu jung und schwach zu sein.