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Achtes Kapitel
Huddlestones Ende

Indem wir alle drei zugriffen, gelang es uns mit Ach und Krach, Bernard Huddlestone die Treppe hinaufzuschaffen; wir legten ihn auf das Bett in »Onkels Schlafstube«.

Während des Transportes, wobei wir ihn hart genug anfaßten, gab er kein Zeichen von Bewußtsein. Als wir ihn hingelegt hatten, blieb er liegen, ohne einen Finger zu bewegen. Seine Tochter öffnete sein Hemd und wusch ihm Kopf und Brust; Northmour und ich aber liefen an das Fenster.

Das Wetter war immer noch hell; der Mond, der jetzt beinahe voll war, war aufgegangen und verbreitete ein sehr helles Licht über die Dünen. Trotzdem konnten wir, so sehr wir auch unsere Augen anstrengten, nichts bemerken, was sich bewegte. Von ein paar dunklen Flecken in dem Gewirr der Sanddünen ließ sich nicht genau feststellen, was sie eigentlich bedeuteten: es konnten Menschen sein, die sich zusammengekauert hatten, es konnten auch Schatten sein; etwas Genaues ließ sich darüber nicht sagen.

»Gott sei Dank, daß das Aggie heute nicht kommen soll,« sagte Northmour.

Aggie hieß seine alte Kinderfrau; er hatte bis jetzt nicht an sie gedacht; aber daß er überhaupt an sie dachte, war ein Zug, der mich an dem Mann überraschte.

Es blieb uns wieder nichts anderes übrig, als zu warten. Northmour ging an das Kaminfeuer und hielt seine Hände ausgespreizt über die glühenden Kohlen, wie wenn ihn fröre. Ich folgte ihm mechanisch mit den Augen und drehte dabei meinen Rücken dem Fenster zu. In demselben Augenblick ließ draußen ein sehr schwacher Knall sich vernehmen; eine Kugel zersplitterte eine Fensterscheibe und fuhr, zwei Zoll breit von meinem Kopf, in den Holzladen hinein.

Ich hörte Clara aufschreien, und obgleich ich mich sofort mit einem Sprung aus der Schußrichtung herausbrachte und in eine Ecke lief, war sie sozusagen vor mir dort und fragte mich, ob ich getroffen sei. Ich fühlte, daß ich jeden Tag und den ganzen Tag auf mich könnte schießen lassen, wenn mir solche Teilnahme als Lohn wurde. Ich beruhigte sie mit den zärtlichsten Liebkosungen und vergaß dabei gänzlich unsere Lage, bis Northmours Stimme mich wieder zu mir brachte.

»Eine Windbüchse!« sagte er; »sie wünschen kein Geräusch zu machen.«

Ich schob Clara beiseite und sah ihn an. Er hatte seine Hände auf dem Rücken gekreuzt und stand vor dem Feuer. An dem finsteren Ausdruck seines Gesichtes erkannte ich, daß eine heiße Leidenschaft in ihm kochte. Ich hatte einen solchen Blick schon einmal an ihm gesehen, nämlich in jener Märznacht, in dem Nebenzimmer, unmittelbar bevor er den Angriff auf mich machte. Ich konnte allerdings seinen Zorn vollkommen begreifen, aber ich muß gestehen, ich zitterte wegen der Folgen.

Er starrte gerade vor sich hin, aber er konnte uns aus dem Augenwinkel sehen, und offenbar schwoll der Zorn in ihm mit Sturmesgewalt an.

Draußen lauerten die Feinde auf uns, und nun sollte mir noch ein Kampf in unseren vier Wänden bevorstehen? Dieser Gedanke peinigte mich.

Während ich ihn scharf ins Auge faßte, jeden Zug seines Gesichtes beobachtete und mich auf das schlimmste gefaßt machte, sah ich, wie plötzlich seine Züge sich entspannten. Er ergriff die Lampe, die neben ihm auf dem Tisch stand, wandte sich zu uns und sagte:

»Vor allen Dingen müssen wir eins wissen: wollen sie uns alle niedermetzeln oder nur Huddlestone? Haben sie dich mit ihm verwechselt oder feuerten sie auf dich ›um deiner eigenen schönen Augen willen‹?«

»Ganz gewiß haben sie mich für ihn gehalten,« antwortete ich; »ich bin beinahe ebenso groß wie er, und mein Haar ist blond.«

»Das werde ich feststellen!« antwortete Northmour. Und er trat an das Fenster heran, hielt die Lampe über seinen Kopf und stand so eine halbe Minute lang, ruhig dem Tode ins Gesicht sehend.

Clara wollte vorwärtsstürzen und ihn von dem gefährlichen Platz zurückreißen; aber ich war verzeihlicherweise so selbstsüchtig, sie mit Gewalt zurückzuhalten.

Northmour trat vom Fenster zurück und sagte kalt:

»Ja, sie wollen nur Huddlestone.«

»Oh, Herr Northmour!« rief Clara. Weiter konnte sie nichts sagen; die Waghalsigkeit, die sie soeben gesehen hatte, schien über alle Worte zu sein.

Northmour aber sah mich mit zurückgeworfenem Kopf an; seine Augen glühten von einem triumphierenden Feuer. Ich begriff sofort, daß er nur deshalb sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um Claras Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und mir den Ruhm zu nehmen, der Held der Stunde zu sein. Er schnipste mit den Fingern und sagte:

»Das Feuer ist nun eröffnet worden. Wenn sie erst anfangen warm zu werden, werden sie es nicht mehr so genau nehmen.«

Eine Stimme rief uns vom Eingang her an. Wir konnten vom Fenster aus einen Mann im Mondschein stehen sehen. Er stand unbeweglich, sein Gesicht blickte zu uns auf, und in der Hand hielt er einen weißen Lappen. Obgleich er etliche Schritte vom Hause entfernt bei den Dünen stand, konnten wir das Mondlicht in seinen Augen glitzern sehen, als wir auf ihn herunterblickten.

Er öffnete wieder seine Lippen und sprach mehrere Minuten lang ohne Unterbrechung so laut, daß er in jedem Winkel des Dünenhauses zu verstehen war, und daß man ihn sicherlich auch am Saum des Waldes verstehen konnte. Es war dieselbe Stimme, die früher schon durch die Fensterläden des Speisezimmers das Wort » Traditore!« gerufen hatte. Diesmal aber sprach er sich in längerer Rede deutlich aus. Wenn der Verräter »Oddlestone« ausgeliefert würde, sollten alle anderen verschont bleiben; wenn nicht, so würde kein einziger entrinnen, um die Geschichte zu erzählen.

»Nun, Huddlestone, was sagen Sie dazu?« fragte Northmour, indem er sich nach dem Bett wandte.

Bis zu diesem Augenblick hatte der Bankier kein Lebenszeichen von sich gegeben, und ich wenigstens habe angenommen, daß er immer noch in Ohnmacht liege; aber er antwortete sofort, und zwar in solchen Tönen, wie ich sie sonst niemals gehört habe, außer von einem Kranken, der im Fieberwahn lag. Mit herzzerreißenden Worten beschwor er uns, ihn nicht zu verlassen. Es war der unangenehmste, widerwärtigste Auftritt, den ich mir vorstellen kann. »Genug!« rief Northmour. Dann stieß er das Fenster auf, lehnte sich in die Nacht hinaus und schrie in frohlockendem Tone, ohne die geringste Rücksicht auf die Anwesenheit einer Dame zu nehmen, dem Abgesandten die fürchterlichsten Schimpf- und Hohnworte, bald auf englisch, bald auf italienisch zu und hieß ihn gehen, woher er gekommen sei. Ich glaube, in diesem Augenblick entzückte Northmour nichts so sehr wie der Gedanke, daß wir alle unfehlbar umkommen müßten, bevor die Nacht vorüber wäre.

Unterdessen steckte der Italiener seine Parlamentärflagge in die Tasche und verschwand mit gemächlichen Schritten in den Dünen.

»Sie führen auf ehrenhafte Art Krieg,« sagte Northmour; »es sind lauter Gentlemen und Soldaten. Ich möchte wahrhaftig lieber, wir ständen auf der anderen Seite – du, Cassilis, und ich und auch Sie, mein Liebling – und könnten dieses Geschöpf da im Bett einem anderen überlassen. Ei was! Macht nicht so entsetzte Gesichter, ihr Tugendbolde! Wir gehen alle mit Extrapost in die sogenannte Ewigkeit, und tun am besten, wir behalten den Kopf oben, solange wir noch Zeit dazu haben. Ich sage euch, wenn ich Huddlestone erdrosseln und dann Clara in meine Arme schließen könnte – ich könnte mit reinem Gewissen stolz und ganz zufrieden sterben. Und auf alle Fälle – bei Gott, einen Kuß will ich haben!«

Bevor ich dazwischenspringen konnte, hatte er das sich sträubende Mädchen mit roher Gewalt im Arm und mehrere Male geküßt. Im nächsten Augenblick hatte ich ihn wütend gepackt und warf ihn gegen die Wand. Er lachte laut und lange, und ich fürchtete, er hätte infolge der Spannung den Verstand verloren; denn selbst in seiner lustigen Jugendzeit hatte er nur selten und immer sehr ruhig gelacht.

»Nun, Frank,« sagte er, als seine Lustigkeit sich etwas gelegt hatte, »nun bist du dran! Hier ist meine Hand. Grüß Gott; lebe wohl!«

Als er mich entrüstet stehenbleiben sah, während ich Clara an mich gepreßt hielt, schrie er mich plötzlich an:

»Mensch! ärgerst du dich? Glaubtest du denn, wir würden in allen anmutigen Formen gesellschaftlicher Höflichkeit in den Tod gehen? Ich nahm ihr einen Kuß; ich freue mich, daß ich ihn bekam; und nun kannst du dir auch einen nehmen, wenn du Lust hast, und auf diese Weise die Rechnung ausgleichen.«

Ich wandte mich mit einem Gefühl der Verachtung, das ich nicht zu verbergen suchte, von ihm ab.

»Wie du willst!« sagte er; »du warst dein Leben lang ein Philister, und willst als Philister sterben.«

Dann setzte er sich auf einen Stuhl, legte eine Büchse über den Schoß und unterhielt sich damit, das Schloß schnappen zu lassen; aber ich konnte sehen, daß seine übermütige Stimmung – die ich nur dieses eine Mal an ihm bemerkt hatte – bereits verflogen war, und daß er wieder in einer düsteren, mürrischen Laune sich befand.

Während dieser ganzen Zeit hätten unsere Feinde in das Haus eindringen können, ohne daß wir etwas davon gemerkt hätten! Wir hatten tatsächlich beinahe die Gefahr vergessen, die über uns schwebte. Auf einmal stieß der alte Huddlestone einen Schrei aus und sprang vom Bett herunter. Ich fragte ihn, was los sei.

»Feuer!« schrie er. »Sie haben das Haus angezündet.«

Northmour war augenblicklich aufgesprungen und wir beide liefen durch die Verbindungstür in das Nebenzimmer. Dieses war von einem roten Licht erhellt. Beinahe gleichzeitig mit unserem Eintritt schlug eine turmhohe Lohe vor dem Fenster empor, und eine Scheibe fiel klirrend nach innen auf den Teppich.

Sie hatten den Vorbau in Brand gesteckt, in welchem Northmour seine photographischen Platten zu entwickeln pflegte.

»Heiße Arbeit!« sagte Northmour; »wir wollen es in deinem alten Zimmer versuchen!«

Wir liefen sofort dorthin, stießen den Fensterladen auf und sahen hinaus. An der ganzen Rückwand des Dünenhauses befand sich Brennholz; dieses war mit Petroleum getränkt worden, wie wir wenigstens annehmen mußten; denn trotz dem Regen, der den ganzen Morgen gefallen war, brannte der ganze Holzstoß lichterloh. Das Feuer hatte schon den Vorbau erfaßt und machte mit jedem Augenblick Fortschritte; die Hintertür bildete den Mittelpunkt eines brennenden Scheiterhaufens; als wir in die Höhe blickten, konnten wir sehen, daß die Dachbalken bereits glommen, denn das Dach hing ziemlich weit über und wurde von starken Holzbalken getragen.

Zugleich begannen erstickende heiße Rauchwolken das Haus zu erfüllen. Nach rechts wie nach links war kein menschliches Wesen zu sehen.

»Ah, schön!« rief Northmour. »Das Ende ist da, Gott sei Dank!«

Wir gingen in »Onkels Stube« zurück. Der alte Huddlestone war dabei, sich die Stiefel anzuziehen; er zitterte immer noch an allen Gliedern, aber auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Entschlossenheit, die ich bis dahin noch nicht an ihm bemerkt hatte. Clara stand dicht neben ihm; sie hatte ihren Mantel in beiden Händen, um ihn über ihre Schultern zu werfen; in ihren Augen lag ein seltsamer Ausdruck, wie wenn sie auf ihren Vater hoffte und zugleich doch an ihm zweifelte.

»Na, Buben und Mädels,« sagte Northmour, »wie wär's mit einem Ausfall? Der Backofen wird allmählich heiß; es ist nicht zu empfehlen, daß wir hier drin bleiben und uns backen lassen; ich jedenfalls wünsche den Leuten an den Leib zu kommen, damit die Geschichte aus ist!«

»Es bleibt uns nichts anderes übrig,« antwortete ich.

Und Clara sowohl wie der alte Huddlestone sagten, allerdings mit sehr verschiedener Betonung:

»Nichts.«

Als wir die Treppe hinuntergingen, war die Hitze ungeheuer, und das Brüllen der Flammen betäubte unsere Ohren. Wir hatten kaum den Hausflur erreicht, da zersprang das Treppenfenster – ein dicker Flammenarm fuhr durch die Öffnung hinein, und das Innere des Hauses strahlte in fürchterlicher Glut. In demselben Augenblick hörten wir im oberen Stockwerk einen schweren Fall. Das ganze Dünenhaus stand offenbar in Flammen, wie eine Schachtel Streichhölzer. Die Flammen leuchteten himmelhoch über Land und See und das ganze Haus drohte jeden Augenblick über unseren Köpfen zusammenzustürzen.

Northmour und ich spannten unseren Revolver. Huddlestone, der bereits vorher eine Feuerwaffe zurückgewiesen hatte, schob uns gebieterisch zurück und sagte:

»Clara soll die Tür öffnen. So muß die Entdeckung sein, wenn die draußen eine Salve abfeuern. Und ihr stellt euch hinter mich! Ich bin der Sündenbock; meine Sünden werden an mir heimgesucht.«

Während ich atemlos mit schußfertiger Pistole dicht hinter ihm stand, hörte ich ihn mit zitternder Stimme Gebete murmeln; und ich gestehe – so sehr man mir auch das verdenken mag – ich verachtete ihn, daß er in einem so entscheidenden und verhängnisvollen Augenblick an Gebete dachte.

Unterdessen hatte Clara, die totenbleich war, aber sich vollständig beherrschte, die Barrikade von der Haustür entfernt. Im nächsten Augenblick hatte sie sie aufgerissen. Der Feuerschein und das Mondlicht übergossen die Dünen mit einem unbeständigen, in der Farbe wechselnden Glanz, und weit am Himmel entlang konnten wir eine hellbeleuchtete Rauchwolke sehen.

Dem alten Huddlestone verlieh offenbar der Augenblick mehr Kräfte, als er von Natur hatte; er stieß Northmour und mich mit einem gleichzeitigen Schlag beider Fäuste zurück, und als wir infolgedessen an jedem Eingreifen verhindert waren, warf er seine Arme über den Kopf in die Höhe, wie ein Mensch, der tauchen will, lief aus der Tür heraus und schrie:

»Hier bin ich! Ich – Huddlestone! tötet mich und verschont die anderen!«

Sein plötzliches Erscheinen muß wohl unsere im Versteck liegenden Feinde überrascht und betäubt haben; denn Northmour und ich hatten so viel Zeit, zur Besinnung zu kommen, Clara zwischen uns zu nehmen und dem Alten zu Hilfe zu springen, ohne daß etwas Weiteres sich ereignete. Aber kaum hatten wir die Schwelle überschritten, so fielen aus allen Richtungen von den Dünen her ungefähr ein Dutzend Schüsse mit Blitz und Knall. Huddlestone taumelte, stieß einen furchtbaren Schrei aus, der mir durch Mark und Bein drang, warf die Arme in die Luft und fiel rücklings auf den Rasen nieder.

» Traditore! Traditore!« riefen die unsichtbaren Rächer.

Und gerade in diesem Augenblick stürzte ein Teil vom Dach des Dünenhauses ein – so schnellen Fortschritt hatte das Feuer gemacht. Ein verworrenes, aber schreckliches Geräusch folgte dem Einsturz und eine ungeheure Flammensäule stieg zum Himmel auf. Sie muß in diesem Augenblick von der See her auf zwanzig Meilen zu sehen gewesen sein, an der Küste in West-Graden und im Binnenlande vom Gipfel des Graystiel, der am weitesten nach Osten gelegenen Höhe der Caulderberge.

Wie Bernard Huddlestone bestattet wurde, das mag Gott wissen; aber jedenfalls hatte er im Augenblick seines Todes einen schönen Scheiterhaufen.


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