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Sechstes Kapitel
Das Haus in Murrayfield

Wie John den Abend verbrachte, in welcher stürmischen Geistesverwirrung, unter welchen Ausbrüchen von Zorn und unter welchen Zusammenbrüchen in kränklicher Schwäche, wie er durch die Straßen rannte und in Wirtshäuser einkehrte – das zu berichten, hätte wenig Zweck.

Seine elende Stimmung wurde zwar nicht noch elender, aber auch in keiner Weise besser; denn je mehr Kummer und Unwillen abnahmen, desto mehr bemächtigte sich an deren Stelle eine große Furcht aller seiner Gedanken. Anfangs lagen seines Vaters drohende Worte gleichsam in einem sicheren Schubfach seines Gedächtnisses und harrten ihrer Stunde. Anfangs war John ganz und gar verschmähte Liebe und geknickte Hoffnung; dann aber reckte die mißhandelte Eitelkeit wieder ihr Haupt empor, trotz zwanzig klaffenden Wunden: und er verstieß seinen Vater, wie dieser seinen Sohn verstoßen hatte, und sagte sich von seinem Vater los, wie dieser sich von seinem Sohn losgesagt hatte.

Was war denn dieser regelmäßige Lebenswandel, daß John ihn hätte bewundern sollen? Was waren diese nach dem Pendelschlag der Uhr abgemessenen Tugenden, denen die Liebe fehlte? Güte war der Prüfstein, Güte war das Ziel und die Seele von allem, und mit einem solchen Maßstab gemessen, war der verstoßene reuige Sünder – der jetzt sehr geschwind seine Sorgen und seinen Verstand in einem Glase nach dem anderen ertränkte – ein Geschöpf von liebenswürdigerer Sittlichkeit, als sein selbstgerechter Vater.

Ja, er war der bessere Mensch! Das fühlte er, von diesem Bewußtsein war er durchglüht, und in einen Ausschank an der Ecke von Howard Place eintretend – wohin ihn seine Wanderung auf irgendeine Weise geführt hatte – trank er auf seine eigene Tugend ein Glas, vielleicht das vierte, seitdem er verstoßen worden war. Er wußte es nicht genau, denn was kümmerte es ihn, was er tat oder wohin er ging? Und in dem allgemeinen Zusammenbruch seiner Nerven merkte er nichts davon, daß er anfing schwer betrunken zu werden. Es ist sogar die Frage, ob er von dem Whisky wirklich betrunken wurde, oder ob nicht anfangs der Whisky sogar ihn ernüchterte. Denn gerade in dem Augenblick, als er dieses Glas hinunterstürzte, tauchten seines Vaters rätselhafte und drohende Worte aus ihrem Versteck in seinem Gedächtnis auf, und er bekam einen Schreck, wie wenn ihm plötzlich jemand eine Hand auf die Schulter gelegt hätte. »Verbrechen – verfolgt – der Galgen!« Das waren üble Worte, die einem Unschuldigen vielleicht noch übler in den Ohren klangen; wenn er infolge irgendeines gerichtlichen Irrtums in Verdacht stand – welchen Umfang konnte der noch annehmen? Wer sollte da Grenzen setzen? John ganz gewiß nicht; er glaubte nicht an die Macht der Unschuld; seine eigenen traurigen Erfahrungen wiesen in ganz andere Richtungen. Sobald seine Furcht einmal erweckt war, wuchs sie mit jeder Stunde und jagte ihn durch die Straßen der Stadt.

Es war vielleicht nahe an neun Uhr abends; er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, hatte eine ganze Menge getrunken und war von der Gemütsbewegung erschöpft. Da fiel ihm plötzlich Houston ein. Der Mann war nicht nur sein Freund, sondern sein Haus war auch eine Zufluchtsstätte. Die Gefahr, die ihn bedrohte, war so unbestimmt, daß er weder wußte, was er fürchten sollte, noch, von welcher Seite her er sie erwarten sollte; aber so viel schien ihm wenigstens unleugbar zu sein, daß ein Privathaus sicherer für ihn sei, als ein öffentliches Wirtshaus. Infolge dieser Überlegungen begab er sich sofort nach dem Bahnhof, nicht ohne innere Angst, als er in das helle Licht der elektrischen Bogenlampen trat; dann ließ er sich von der Gepäckaufbewahrungsstelle seinen Handkoffer herausgeben, und es dauerte nicht lange, so fuhr er in einer Droschke die Glasgower Landstraße entlang. Der Übergang aus der Bewegung in die Ruhe, vom Laufen zum Sitzen, der Anblick der Laternen, deren flimmerndes Licht hinter ihm verschwand, der Geruch von nassem, faulendem Stroh, der dem Wagen anhaftete, dies alles erweckte in ihm abwechselnde Empfindungen: bald kam ihm ein klares Bewußtsein seiner Lage, bald dagegen war ihm sterbensübel.

Ich habe zuviel getrunken, sagte er bei sich selber; ich muß sofort zu Bett gehen und schlafen.

Und er dankte dem Himmel für die Schläfrigkeit, die in Wellen über sein Bewußtsein strömte.

Aus einem dieser Augenblicke von Halbschlaf wurde er aufgeweckt, indem die Droschke hielt; er stieg aus und sah sich an einem richtigen Landweg: die letzte Laterne der Vorstadt leuchtete in einiger Entfernung unter ihm, und die hohen Mauern eines Gartens stiegen in der Dunkelheit vor ihm auf. Die »Lodge« – wie der Landsitz genannt wurde – lag sehr einsam. Nach Süden zu befand sich allerdings noch ein anderes Haus, das aber von einem so großen Garten umgeben war, daß es sich außer Rufweite befand; auf den drei anderen Seiten erstreckte freies Feld sich bis zu den Wäldern von Corstorphine Hill, oder bis zu den Höhlen von Ravelstone, oder nach dem Tal des Leith hinunter. Der Eindruck der Abgeschlossenheit wurde noch durch die große Höhe der Gartenmauern verstärkt, die an ein Kloster erinnerten, und, wie John in früheren Tagen ausprobiert hatte, für die Kletterkünste eines Schuljungen unersteigbar waren. Die Laterne der Droschke warf einen schwachen Schein auf die Pforte und auf den nicht sehr glänzenden Handgriff der Klingel.

»Soll ich für Sie klingeln?« sagte der Kutscher, der von seinem Bock heruntergeklettert war und seine Arme kreuzweise über der Brust zusammenschlug, um sich in der bitterkalten Nacht zu erwärmen.

»Ja, bitte, tun Sie das,« sagte John und strich sich mit der Hand über die Stirn, denn er hatte wieder einen Anfall von Übelkeit.

Der Mann zog am Griff, und das Läuten der Glocke antwortete aus der Tiefe des Gartens; er wiederholte dies zwei- oder dreimal in entsprechenden Zwischenräumen; in das tiefe, kalte Schweigen der Winternacht fielen die Klänge scharf und dünn.

»Erwartet er Sie?« fragte der Kutscher mit einem Ausdruck vertraulicher Teilnahme, wie man sie von seinem roten Portweingesicht wohl erwarten konnte; und als John diese Frage verneint hatte, fuhr der Mann fort:

»Na, wenn ich Ihnen einen Rat geben soll, dann wollen wir man gleich wieder umkehren. Und das ist ein uneigennütziger Rat, verstehen Sie, denn mein Stall ist an der Glasgower Landstraße, ganz hier in der Nähe.«

»Die Dienstboten müssen doch das Klingeln hören!« sagte John.

»Keine Spur! Er hat gar keine Dienstboten hier draußen, Herr! Die sind alle im Stadthaus. Ich fahre ihn oft; es ist 'ne richtige Einsiedelei hier draußen.«

»Lassen Sie mich mal klingeln!« rief John; und er zog wie ein Wahnsinniger an der Glocke.

Das Läuten war noch nicht verhallt, da hörten sie Schritte auf dem Kiesweg, und eine eigentümlich ärgerliche Stimme schrie ihnen durch die Pforte zu:

»Wer sind Sie? Und was wollen Sie?«

»Alan!« rief John. »Ich bin's! ›Dickchen‹ – John, weißt du wohl? Ich bin gerade zurückgekommen und will bei dir wohnen.«

Eine Zeitlang schwieg er nun; dann wurde die Pforte geöffnet.

»Heben Sie den Koffer herunter,« sagte John zum Kutscher.

»Lassen Sie das man bleiben!« rief Alan; und sagte er zu John: »Komm einen Augenblick hier herein; ich muß dir was sagen.«

John trat in den Garten ein, die Pforte wurde hinter ihm geschlossen. Eine Kerze stand auf dem Kiesweg und flatterte im Winde. Sie warf ein unsicheres Licht auf die Gebüsche und auf Alans Gesicht, und der Schatten seiner Gestalt bewegte sich hinter ihm hin und her. Alles übrige lag in undurchdringlicher Finsternis, und die Gedanken in Johns wirrem Kopf schwankten wie der Schatten seines Freundes. Aber selbst in diesem Zustand fiel es ihm auf, daß Alan bleich war, und daß seine Stimme, als er jetzt sprach, unnatürlich klang.

»Was bringt dich heute nacht hier zu mir hinaus?« begann er; »ich möchte, weiß Gott, nicht, daß du mich für unfreundlich hältst; aber ich kann dich nicht aufnehmen, Nicholson, ich kann es nicht!«

»Alan – du mußt es einfach! Du weißt nicht, in welcher Klemme ich bin: mein Alter Herr hat mir die Tür gezeigt, und in einem Gasthof darf ich mich nicht sehen lassen, weil sie hinter mir her sind – wegen Mordes oder sonst was!«

»Wegen was denn?« schrie Alan, zusammenfahrend.

»Wegen Mordes, glaube ich.«

»Wegen Mordes!« wiederholte Alan und strich sich mit der Hand über die Augen. »Was sagtest du vorhin?«

»Ich sagte dir, sie seien hinter mir her,« sagte John. »Ich bin eines Mordes angeklagt, soviel ich mir zusammenreimen kann; ich habe wirklich einen schrecklichen Tag gehabt, Alan, und ich kann doch nicht in einer solchen Nacht auf der Straße schlafen – zumal, da ich einen Koffer bei mir habe!«

»Pst!« sagte Alan, den Kopf zur Seite neigend; und dann fragte er: »Hörtest du nichts?«

»Nein,« sagte John, dem sich seines Freundes Angst mitteilte, er wußte selber nicht warum. »Nein, ich hörte nichts. Warum fragst du?« Und dann, als er keine Antwort erhielt, fing er wieder zu bitten an:

»Aber höre, Alan! Du mußt mich einfach bei dir aufnehmen; ich will sofort zu Bett gehen, wenn du irgendwas zu tun hast. Ich habe scheint's zuviel getrunken; es hatte mir so einen Stoß gegeben; ich würde dich nicht abweisen, Alan, wenn du in solchem Unglück wärest.«

»Nein?« erwiderte Alan. »Dann will ich es auch nicht tun. Komm mit, wir wollen deinen Koffer holen.«

Der Kutscher wurde bezahlt und fuhr davon, den langen, laternenbeleuchteten Berg hinab, und die beiden Freunde standen auf dem Fußgängerweg neben dem Koffer, bis das letzte Rumpeln der Räder von der Stille verschlungen war. Es kam John vor, wie wenn Alan sich erleichtert fühlte, als der Wagen fortgefahren war; und ihm selber, der nicht zu kritischen Beobachtungen aufgelegt war, war ebenso zumute.

Als es wieder ganz stille war, lud Alan sich den Koffer auf die Schultern, trug ihn in den Garten und verschloß und verriegelte die Pforte; dann schien er wieder ganz in seine Gedanken versunken zu sein, denn er stand da, die Hand immer noch am Schlüssel, bis Johns Finger in der Kälte zu frieren begannen.

»Warum stehen wir hier?« fragte John.

»Hä?« fragte Alan geistesabwesend.

»Aber, Mensch! Du bist ja scheint's gar nicht mehr derselbe!«

»Nein, ich bin nicht mehr derselbe,« sagte Alan, und er setzte sich auf den Koffer und vergrub sein Gesicht in den Händen.

John stand neben ihm; er schwankte leise und sah um sich her auf die schwankenden Schatten, das flimmernde Licht der Kerze und die ruhig funkelnden Sterne über ihm, bis die Kälte der windstillen Nacht ihm durch die Kleider an die Haut drang. Obwohl sein Verstand umnebelt war, begann er sich zu wundern.

»Höre! Laß uns doch ins Haus gehen,« sagte er endlich.

»Ja; laß uns ins Haus gehen,« wiederholte Alan.

Und er stand sofort auf, nahm den Koffer wieder auf die Achsel, die Kerze in die andere Hand, und ging auf die Lodge zu. Diese war ein langes, niedriges Gebäude, ganz von Schlingpflanzen umrankt; abgesehen von ein paar Lichtstreifen, die aus den Läden des Eßzimmers hervordrangen, lag es in tiefer Dunkelheit und in Schweigen.

In der Halle zündete Alan eine zweite Kerze an, gab sie John, öffnete die Tür zu einem Schlafzimmer und sagte:

»Hier! geh zu Bett. Kümmere dich nicht um mich, John. Es wird dir leid um mich tun, wenn du alles weißt.«

»Halt! Noch einen Augenblick! Ich bin von all dem Herumstehen so kalt geworden. Laß uns für eine Minute ins Eßzimmer gehen. Bloß ein einziges Glas, um mich zu erwärmen, Alan!«

Auf dem Tisch in der Halle standen auf einem Teller ein Glas und eine Flasche Whisky. Offenbar war die Flasche eben erst geöffnet werden; denn Pfropfen und Pfropfenzieher lagen daneben.

»Nimm das!« rief Alan, gab John Glas und Flasche und schob dann beinahe unhöflich seinen Freund in das Schlafzimmer, dessen Tür er hinter ihm zumachte.

John stand ganz verblüfft da; dann nahm er die Flasche und bemerkte zu seiner weiteren Verwunderung, daß sie beinahe halb leer war. Drei oder vier große Gläser fehlten an dem Likör. Alan mußte eine Flasche Whisky entkorkt und drei oder vier Gläser hintereinander hinuntergestürzt haben, ohne sich dabei hinzusetzen, denn in der Halle war kein Stuhl. Diese Menge Whisky hatte er in seinem eigenen Hause in dieser bitterkalten Winternacht in dem kahlen Flur getrunken! Dies erklärte vollständig sein sonderbares Benehmen, dachte John bei sich selber, als er sich einen Grog mischte. Der arme Alan! Er war betrunken; und wie schrecklich war das Trinken! Alan mußte ein Sklave seiner Trunksucht sein, daß er den Whisky so ganz einsam, in einem so unbehaglichen Raum trank! Ein Mensch, der Whisky trank, wenn er allein war – ausgenommen aus Gesundheitsrücksichten, wie John es jetzt tat – ein solcher Mensch war vollkommen verloren.

Er trank den Grog aus und fühlte sich noch etwas mehr benebelt, aber auch wärmer. Es war eine harte Arbeit für ihn, seinen Koffer aufzumachen und seine Nachtsachen herauszuholen, und bevor er völlig ausgezogen war, fing ihn wieder an zu frieren.

»Na, bloß noch einen Tropfen! Es hat ja keinen Zweck, krank zu werden, wenn man außerdem noch all die anderen Sorgen hat.«

Und dann versank er sofort in einen traumlosen Schlaf.

Als John erwachte, war es heller Tag. Die blasse Wintersonne stand schon am Himmel; aber seine Uhr war stehengeblieben, er wußte also nicht, wie spät es geworden war. Es muß zehn Uhr sein, dachte er bei sich, sprang aus dem Bett und zog sich schnell an, wobei unangenehme Gedanken ihn bestürmten. Aber er litt jetzt weniger an Furcht als an Kummer, und in seinen Kummer mischten sich scharfe Gewissensbisse. Ihn hatte allerdings ein grausamer Schlag getroffen, es war aber nur die Strafe für alte Missetaten. Er jedoch hatte sich aufgelehnt und neue Sünde auf sich geladen! Die Rute war geschwungen worden, ihn zu züchtigen, und er hatte in die strafenden Finger gebissen! Sein Vater hatte recht: John war das geworden, was sein Vater vorausgesagt hatte; John war kein Gast für ein Haus anständiger Menschen, war kein passender Gesellschafter für die Kinder anständiger Leute. Und wäre ein noch deutlicheres Zeichen nötig gewesen, so hatte er hier den Fall mit seinem alten Freund. John war kein Trinker, obgleich er ab und zu einmal das rechte Maß überschritt; und die Vorstellung, wie Houston unvermischten Branntwein am Tisch in seiner Halle trank, erfüllte John mit einem Gefühl, das an Ekel grenzte. Es war ihm unangenehm, daß er seinen alten Freund gleich wiedersehen mußte. Er hätte wünschen mögen, daß er nicht zu ihm gegangen wäre. Und doch – wohin hätte er sich denn in diesem Augenblick sonst wenden können?

Diese Gedanken beschäftigten ihn, während er sich anzog, und begleiteten ihn in den Flur des Hauses. Die Tür nach dem Garten stand auf; zweifellos war Alan in den Garten gegangen, und John tat dasselbe, was sein Freund, wie er annahm, getan hatte. Der Boden war so hart wie Eisen, der Frost immer noch streng; als er an einen Stechpalmenbusch streifte, fielen glitzernde Eiszapfen klirrend zu Boden, und wohin er ging, folgte ihm ein Schwarm munterer Spatzen. Es war ein richtiges Weihnachtswetter, woran Kinder ihre Lust gehabt hätten. Dies war der Tag, an dem die Familie beisammensitzt – der Tag, auf den er sich solange gefreut hatte – er hatte gedacht, an diesem Morgen werde er in seinem alten Bett am Randolph Crescent aufwachen, ausgesöhnt mit allen Menschen, um den Fußtapfen seiner Jugend nachzugehen. Und hier lief er nun einsam durch die Baumgänge eines winterkahlen Gartens, von Gedanken der Reue erfüllt!

Und dies brachte ihn auf einen Gedanken: warum war er allein? und wo war Alan? Der Gedanke an den Feiertag, an die Glückwünsche, die man an solchen Tagen darzubringen pflegt, erweckten in ihm aufs neue die Sehnsucht nach seinem Freunde, und er begann nach ihm zu rufen. Als seine Stimme wieder verklungen war, merkte er erst, wie tief das Schweigen war, das ihn umgab. Das Zwitschern der Spatzen und das Knirschen seiner Schritte auf dem gefrorenen Schnee waren die einzigen Laute. In der völlig windstillen Luft fühlte er sich wie verzaubert, und die Stille drückte ihn wie eine schwere Last und erfüllte seine Seele mit einem schaudernden Gefühl der Einsamkeit.

Mit schnellen Schritten durcheilte er den ganzen Garten, in Zwischenräumen nach seinem Freunde rufend, aber nicht mehr mit überlauter Stimme. Als er ihn in den immergrünen Buxbaumgängen nicht fand, ging er schließlich in das Haus zurück. Die Stille, die dieses umgab, schien ihm noch tiefer geworden zu sein. Die Tür stand immer noch offen; die Fensterläden waren noch geschlossen; aus den Schornsteinen stieg kein Rauchwölkchen in die klare Luft empor; nirgends das leiseste Geräusch von jener Bewegung, die vielleicht mehr dem geistigen Ohr als dem körperlichen wahrnehmbar ist und durch die ein Haus die Anwesenheit menschlicher Wesen verrät. Aber Alan mußte doch da sein – wahrscheinlich im Schlaf des Trinkers befangen, der nichts von der Wiederkehr des Tages gemerkt hatte, der nicht wußte, daß das heilige Weihnachtsfest da war, und nicht an den Freund dachte, den er so kalt empfangen hatte und jetzt in so schnöder Weise vernachlässigte. Johns Abscheu verdoppelte sich bei dem Gedanken hieran; aber sein Hunger begann stärker zu werden als seine Abneigung; und wollte er Frühstück haben, so mußte er den Schläfer finden und wecken.

Er machte die Runde durch alle Schlafzimmer. Sie waren sämtlich von außen verschlossen und trugen alle Merkmale, daß sie seit langer Zeit nicht benutzt worden waren. Endlich kam er in Alans Schlafzimmer; dieses war offenbar benutzt: es war voll von Kleidern, allerlei Nippsachen, Briefen, Büchern und Gegenständen, wie ein einsam lebender Mann sie zu seiner Bequemlichkeit braucht. Im Kamin war ein Feuer angezündet gewesen, aber es war längst ausgebrannt und die Asche war schon kalt. Das Bett war gemacht, aber Alan hatte nicht darin geschlafen.

Um so schlimmer also! Alan mußte unter den Tisch gefallen sein und lag jetzt ohne Zweifel wie ein Tier auf dem Fußboden des Eßzimmers! Das Eßzimmer war ein sehr langer Raum, zu welchem ein Korridor führte. John fand ihn daher, als er eintrat, fast finster und mußte sich mit vorgestreckten Händen zum Fenster tasten, wobei er mehrere Male gegen Möbel anstieß. Plötzlich strauchelte er und fiel der Länge nach über einen auf dem Fußboden liegenden Körper. Er hatte dies erwartet, und trotzdem bekam er einen Schreck; unwillkürlich aber wunderte er sich darüber, daß der Betrunkene bei dieser unsanften Berührung nicht einmal ein Stöhnen von sich gab. Es war schon früher vorgekommen, daß Menschen sich zu Tode getrunken hatten – ein scheußliches, gemeines Ende, das John bei dem bloßen Gedanken mit Schauder erfüllte. Wie? wenn nun Alan tot wäre, das wäre ein Weihnachtstag!

Inzwischen war John wieder aufgestanden, hatte den Fensterladen erreicht, stieß diesen auf und erblickte wieder das gesegnete Licht des Tages.

Selbst in diesem Licht sah das Zimmer unbehaglich aus. Die Stühle standen überall herum, einer war umgefallen; das Tischtuch, das zum Essen ausgebreitet gewesen zu sein schien, war auf der einen Seite heruntergezerrt und einige von den Schüsseln waren auf den Fußboden gefallen. Hinter dem Tisch lag der Trunkenbold, immer noch unbeweglich; nur der eine Fuß von ihm war für John sichtbar.

Aber jetzt, da das Zimmer im Licht lag, schien das ärgste vorüber zu sein. Es war eine widerwärtige Sache, aber doch nicht mehr als eben widerwärtig, und so begann John ohne besonders ängstliche Gedanken um den Tisch herumzugehen. Es war sein letzter verhältnismäßig ruhiger Augenblick an diesem Tage! Kaum war er um die Tischecke gebogen, kaum war sein Blick auf den Körper gefallen, so stieß er einen halberstickten, atemlosen Schrei aus und stürzte aus dem Zimmer und aus dem Hause heraus.

Der Mensch, der auf dem Boden lag, war nicht Alan, sondern ein ziemlich hochbejahrter Mann mit ernstem Gesicht und eisengrauen Locken; und es war kein Betrunkener, denn der Körper lag in einer schwarzen Blutlache und die offenen Augen starrten nach der Zimmerdecke hinauf.

Auf und ab lief John vor der Tür. Die außerordentliche Schärfe der Winterluft wirkte belebend auf seine Nerven und kräftigte sie schnell. Während er immer noch rastlos hin und her lief, begannen die Bilder klarer zu werden und länger in seiner Phantasie zu haften. Und dann war er wieder imstande zu denken, und die entsetzliche Gefahr seiner Lage wurde ihm klar und er blieb wie festgewurzelt stehen.

Er griff sich an die Stirne, starrte auf den Kies des Gartenweges und stückte zusammen, was er wußte und was er argwöhnte. Alan hatte irgend jemanden ermordet: möglicherweise »den Mann«, gegen welchen der alte Bediente die Tür des Hauses an der Regent Terrace mit der Kette versichert hatte; möglicherweise einen anderen – jedenfalls hatte er irgendeinen ermordet: eine menschliche Seele, deren vergossenes Blut auf dem Fußboden lag und deren Tötung den Mörder mit dem Tode bedrohte. Dies war der Grund, weshalb er den Whisky auf dem Flur getrunken hatte; weshalb er John nicht hatte aufnehmen wollen; weshalb er sich so seltsam benommen und so wirr geredet hatte. Deshalb war er aufgefahren, als John das Wort »Mord« gesprochen hatte. Deshalb stand er und horchte, saß er auf dem Koffer und bedeckte seine Augen, gestern in der schwarzen Nacht. Und jetzt war er auf und davon – war feige geflohen. Und der Erbe aller seiner Ängste und Gefahren – war John.

Laß mich denken, laß mich denken! sagte er laut, ungeduldig, ja beinahe flehend, wie wenn irgendein Mensch ihn unbarmherzig unterbrochen hätte. Seine Gedanken waren in solcher Unordnung – tausend Winke und Hoffnungen und Drohungen und Schrecken summten ihm in den Ohren; ihm war zumute, wie wenn er in einem furchtbaren Menschengedränge eingekeilt wäre – ratlos, wie er herauskommen sollte. Wie sollte er daran denken – er, der keinen Gedanken überflüssig hatte! – daß er selber der Urheber und zugleich der Schauplatz aller dieser Verwirrung war? In Stunden der Prüfung lösen sich die Fugen der menschlichen Natur, und es tritt Anarchie ein.

Es war klar, er durfte nicht länger bleiben, wo er war; denn hier war ein neuer Justizirrtum in der Bildung begriffen. Aber nicht so klar war, wohin er gehen sollte; denn der alte Justizirrtum, unbestimmt wie eine Wolke, füllte allem Anschein nach die ganze bewohnbare Welt. Welcher Art der Verdacht auch sein mochte, er erwartete ihn in seiner ganzen Größe in Edinburgh; entstanden mußte er in San Francisco sein; ohne Zweifel stand er wie ein Drache auf der Wacht vor der Bank, wo er seinen Kreditbrief einkassieren sollte. Sicherlich erwartet er ihn auch noch an vielen anderen Orten – und wer konnte sagen, an welchem Ort er nicht im Hinterhalt lag?

Nein, er konnte nicht sagen, wohin er gehen sollte; mit diesen nicht zu beantwortenden Fragen durfte er keine Zeit verlieren. Er mußte auf den Anfang zurückgehen. Es war klar, er durfte nicht bleiben, wo er war. Ferner war klar, daß er nicht fliehen durfte, wie er jetzt war; denn er konnte seinen Koffer nicht tragen, und wenn er mit Zurücklassung des Koffers floh, geriet er immer tiefer in den Sumpf. Er mußte das Haus, wie es lag und stand, verlassen, mußte einen Wagen suchen und dann zurückkehren – zurückkehren, nachdem er fortgewesen war? Wieder das Haus betreten? Hatte er dazu den Mut?

Und gerade wie er darüber nachdachte, bemerkte er einen Fleck an seiner Hose, ungefähr eine Handbreit vom Stiefel entfernt; er bückte sich und berührte den Fleck mit seinem Finger. Der Finger wurde rot gefärbt: es war Blut. Mit Ekel und Grausen und Furcht starrte er auf seinen Finger, und die neue Empfindung war so stark, daß er sofort zu handeln begann.

Er reinigte seinen Finger im Schnee, ging in das Haus zurück, schlich sich leise an die Tür des Eßzimmers, machte sie zu und drehte den Schlüssel herum. Da atmete er ein wenig freier; denn hier war wenigstens eine eichene Schranke zwischen ihm und dem, wovor er Angst hatte.

Dann eilte er in sein Zimmer, streifte die blutbefleckten Hosen ab, die seinen Augen wie ein Verbindungsglied mit dem Galgen erschienen, schleuderte sie in eine Ecke, zog ein anderes Paar Hosen an, stopfte in atemloser Eile seine Nachtsachen in den Koffer, schloß diesen zu, schwang ihn mit einer Kraftanstrengung auf die Schulter und trat dann mit einer aufatmenden Erleichterung wieder in die freie Luft hinaus.

Der Koffer war von solider kalifornischer Arbeit und keineswegs federleicht; er hatte dem athletischen Alan Mühe gemacht – John wurde von dem Gewicht beinahe erdrückt, und dichter Schweiß brach ihm aus. Zweimal mußte er ihn auf den Boden setzen, bevor er die Pforte erreichte; und als er soweit gekommen war, mußte er sich auf eine Ecke des Koffers setzen, wie Alan in der vorigen Nacht getan hatte.

Hier saß er nun eine Weile und keuchte; aber sein Denkvermögen war jetzt bedeutend klarer: da der Koffer unmittelbar bei der Pforte stand, war Johns Verbindung mit der Mordstätte wenigstens zum Teil unterbrochen, und der Kutscher brauchte nicht über die Gartenmauer hinaus vorzudringen. Es war wunderbar, wie dieser Gedanke ihn erleichterte; denn in seinen Augen war das Haus ein Ort, der beim flüchtigsten Anblick Verdacht erregen mußte, wie wenn schon die Fenster »Mord« geschrien hätten.

Aber die Streiche des Schicksals wollten ihm keine Atempause gönnen. Wie er so dasaß, im Schatten der Gartenmauer nach Luft rang und auf die Spatzen sah, die um ihn herumhüpften, fiel sein Auge zufällig auf den Verschluß der Pforte; und bei dem Anblick sprang er auf die Füße: es war ein Federschnappschloß; sowie die Pforte geschlossen wurde, schnappte der Riegel ein, und ohne Schlüssel konnte man von außen nicht in den Garten gelangen!

Er sah, daß er zwischen zwei unangenehmen und gefährlichen Möglichkeiten zu wählen hatte: entweder mußte er die Pforte schließen und seinen Koffer draußen auf die Straße setzen, wo er jedem Vorüberkommenden auffallen mußte. Oder er mußte die Tür offen stehen lassen, so daß jeder spitzbübische Strolch oder irgendein an dem Feiertag herumlungernder Schuljunge eindringen und über das grausige Geheimnis stolpern konnte. Er war schließlich geneigt, die zweite Möglichkeit als die weniger verzweifelte zu wählen; aber zuerst mußte er sich versichern, daß er unbeobachtet war. Er spähte hinaus und sah die lange Straße hinunter; sie lag wie ausgestorben da. Er ging bis an die Ecke des Nebenweges, der von Dean her einmündete; auch von dorther rührte sich kein Mensch. Offenbar war jetzt oder nie der Augenblick für ihn da, und er schloß die Tür so weit, wie er's tun durfte, legte ein Steinchen in den Spalt und lief bergab, um eine Droschke zu suchen.

Halbwegs nach der Stadt zu öffnete sich ein Torweg, und ein Trupp von Kindern, in fröhlichster Weihnachtslust, strömte jubelnd heraus; hinter ihnen ging die lächelnde Mutter.

Und heute ist Weihnachtstag! dachte John, und in tragischer Bitterkeit des Herzens hätte er laut lachen mögen.


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