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Siebentes Kapitel
Eine Tragikomödie in einer Droschke

Donaldsons Hospital gegenüber bemerkte John zu seiner Freude eine Droschke, wenn auch in weiter Entfernung; und er hatte das Glück, durch vieles Rufen und Armschwenken sich dem Kutscher bemerkbar zu machen. Er hielt es tatsächlich für ein Glück; denn er konnte es kaum erwarten, für immer mit der Lodge fertig zu sein, und je weiter er gehen mußte, um eine Droschke zu finden, desto größer wurde die Aussicht der an und für sich unvermeidlichen Entdeckung innerhalb dieser Frist, so daß er bei seiner Rückkehr vielleicht den Garten voll von empörten Nachbarn finden würde. Als nun aber der Wagen heranfuhr, erkannte er zu seinem Kummer den Portweingesicht-Kutscher vom Abend vorher. Unwillkürlich mußte er denken: Wieder ein neues Glied im Justizirrtum.

Der Kutscher dagegen war sehr erfreut, wieder einen so freigebigen Fahrgast erwischt zu haben; und da er – wie der Leser bereits bemerkt haben wird – ein Mann von gemütlichem, um nicht zu sagen vertraulichem Wesen war, so begann er sofort ein freundschaftliches Gespräch über allerlei Gegenstände: das Wetter; den hohen Feiertag – der ihm besonders in dem Licht eines Tages reichlicher Trinkgelder erschien; den angenehmen Zufall, der ihm wieder einen so angenehmen Kunden zugeführt hätte; sowie darüber, daß John offenbar die vorige Nacht »auf dem Bummel« gewesen sei, wie er das zu nennen beliebte.

»Und gräßlich schlecht sehen Sie heute aus, Herr, das muß ich sagen!« fuhr er fort. »Sie sollten einen nehmen, wenn ich Ihnen raten darf – besseres könnten Sie gar nicht tun; und da ja heut Weihnacht ist, so will ich nicht sagen,« setzte er mit einem väterlichen Lächeln hinzu, »daß ich nicht ganz gerne selber einen mit nehmen möchte.«

John wurde übel zumute, als er diese Worte hörte; indessen sagte er in leichtem Ton, der nur etwas kümmerlich herauskam:

»Ich will Ihnen ein Glas bezahlen, wenn wir fertig sind, und bis dahin kriegen Sie keinen Tropfen. Erst das Geschäft und dann das Vergnügen.«

Dieses Versprechen bewog den Rosselenker, auf seinen Bock zu klettern und mit einer unangenehmen Gemächlichkeit bis zur Gartenpforte der Lodge zu fahren. Bis jetzt waren noch keine Anzeichen irgendwelcher öffentlichen Erregung zu spüren oder zu bemerken; nur zwei Männer standen nicht weit davon ab in einem Gespräch begriffen; als John sie von ferne erblickte, schlug das Herz ihm laut. Er hätte sich seine Angst sparen können, denn die beiden waren mit einem Streit über theologische Fragen beschäftigt: mit verlängerten Oberlippen und aufzählenden Fingern behandelten sie den Gegenstand ihrer Meinungsverschiedenheit und achteten nicht im geringsten auf John.

Aber der Kutscher erwies sich als ein Dorn in seinem Fleisch: alle Bemühungen Johns, ihn auf seinem Bock ruhig zu halten, waren vergeblich; er mußte durchaus herunterklettern, seine Bemerkungen über das Steinchen in der Türspalte machen, dessen Anbringung nach seiner Meinung ein sinnreich erdachtes, aber unsicheres Aushilfsmittel war, John beim Tragen des Koffers helfen und diese Beschäftigung mit einem Schwall von Worten, besonders aber von Fragen beleben, deren Inhalt ich in folgendem zusammenfasse:

»Er ist wohl nicht selber hier, nein? Na, er ist ein sonderbarer Herr – was man so sagt: meschugge, vielleicht kennen Sie den Ausdruck. Hat viel Verdruß mit seinen Pächtern, sagt man. Habe die Familie seit Jahren gefahren. War mit meiner Droschke bei seines Vaters Hochzeit. Na, wie heißen Sie denn wohl? Ich sollte Ihr Gesicht kennen! Baigrey, sagen Sie? Da waren Baigreys in der Gegend von Gilmerton; sind Sie wohl einer von der Familie? Dann gehört der Koffer wohl einem Freund von Ihnen, denke ich mir. Warum? Weil der Name, der darauf steht, Nucholson heißt! Oh, wenn Sie's eilig haben, das ist eine andere Sache. Bahnhof Waverley Bridge? Wollen Sie verreisen?«

So schwatzte und fragte der gute alte Kerl und ängstigte unseren armen John. Aber auch dies hatte ein Ende, wie alles Unangenehme unter der Sonne; und schließlich begann das Opfer der Umstände in der Richtung auf den Bahnhof Waverley Bridge zu rumpeln. Während der Fahrt saß er mit hochgezogenen Wagenfenstern in der Kälte und dem muffigen Geruch seiner Droschke und warf Seitenblicke auf die sonntäglich stille Stadt, die geschlossenen Kaufläden, die Menschen auf den Bürgersteigen – ungefähr so, wie einer, der zum Galgen nach Tyburn fährt, die Menge betrachtet, die zusammenströmt, um ihn hängen zu sehen.

Als sie am Bahnhof ankamen, faßte er wieder etwas Mut: er war glücklich bei einem neuen Abschnitt seiner Flucht angelangt – er begann das offene blaue Meer zu erblicken. Er rief einen Packträger heran und hieß ihn den Koffer nach der Aufbewahrungsstelle bringen – nicht, daß er die Absicht gehabt hätte, sich noch länger auf dem Bahnhof aufzuhalten; im Gegenteil, Flucht, augenblickliche Flucht war sein einziger Gedanke, ganz einerlei wohin! Aber er hatte beschlossen, den Kutscher abzufertigen, bevor er ein Reiseziel nannte oder überhaupt wählte; auf diese Weise konnte er vielleicht die Hinzufügung eines neuen Gliedes zu der Kette des Justizirrtums verhindern. So hatte er sich es schlau ausgedacht, und als er jetzt mit dem einen Fuß auf dem Pflaster und mit dem anderen noch auf dem Trittbrett der Droschke stand, beeilte er sich, seinen Plan auszuführen und fuhr schleunigst mit der Hand in seine Hosentasche.

Es war nichts darin!

O ja; diesmal war er zu tadeln. Er hätte nicht gedankenlos sein sollen, und als er seine befleckten Hosen wegwarf, hätte er nicht mit ihnen zugleich auch seine Börse wegwerfen sollen. Aber war sein Fehler auch noch so schwer, was war er im Vergleich mit der Strafe! Der Leser mache sich eine Vorstellung von seiner neuen Lage, denn mir fehlen die Worte, sie auszumalen; er stelle sich vor, daß John dazu verdammt war, in jenes Haus zurückzukehren, an das nur zu denken seine Seele schauderte, und sich noch einmal der Gefahr der Verhaftung an der Mordstätte selbst auszusetzen; er stelle sich vor, wie er nicht von der muffigen Droschke und dem gemütlichen Kutscher loskommen konnte. John fluchte innerlich auf den Kutscher, und dann fiel ihm ein, daß er seinen Koffer nicht aus den Augen lassen dürfte; denn wenn er in Aufbewahrung genommen war, konnte er ihn vorläufig nicht wieder erreichen; er drehte sich daher um, um den Gepäckträger zurückzurufen. Aber seine Überlegungen, so kurz sie ihm erschienen waren, mußten ihn doch länger in Anspruch genommen haben, als er geglaubt hatte, und gerade in diesem Augenblick kam der Mann schon wieder mit der Quittung in der Hand.

Na, das war also entschieden; er hatte seinen Koffer ebenfalls verloren; denn das Sixpencestück, mit welchem er das Chausseegeld nach Murrayfield bezahlt hatte, hatte er aus seiner Westentasche genommen; und wenn er nicht noch einmal auf der Fahrt nach dem Mordhause Glück hatte, lag sein Koffer im Gepäckraum auf ewige Zeit verpfändet, weil er den Penny für die Auslösung nicht aufzubringen vermochte. Und dann fiel ihm ein, daß er auch dem Packträger etwas geben mußte, der erwartungsvoll vor ihm stand und auf dessen Lippen bereits Worte der Dankbarkeit schwebten.

John stöberte in seinen Taschen nach rechts und nach links; er fand eine Münze – betete zu Gott, es möchte ein Sovereign sein – zog sie heraus, erblickte einen halben Penny und reichte diesen dem Träger. Der Mann machte ein langes Gesicht. »Das ist ja nur ein halber Penny.« Offenbar stimmte eine solche Münze nicht zu den Anstandsbegriffen eines Bahnhofpackträgers.

»Ich weiß es,« sagte John kläglich.

Aber nun fand der Packträger seine Menschenwürde wieder!

»Danke, Herr,« sagte er und machte Miene, ihm das schäbige Trinkgeld zurückzugeben. Aber John seinerseits wollte das Geldstück nicht nehmen, und während sie noch darum stritten, wer mußte sich einmischen? Der Kutscher!

»Nanu, Herr Baigrey!« rief er; »Sie haben gewiß vergessen, was für ein Tag heute ist!«

»Ich sage Ihnen, ich habe kein Kleingeld!« rief John.

»Na,« sagte der Kutscher, »und wenn auch nicht. Ich gäbe an einem solchen Tag einem Mann lieber einen Schilling, als daß ich ihn mit einem lächerlichen Kupferling abspeiste. Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, Herr Baigrey!«

»Ich heiße nicht Baigrey!« brach John in einem kindischen Ärger und Zorn los.

»Sie haben mir selber gesagt. Sie hießen so,« sagte der Kutscher.

»Das weiß ich; aber was zum Teufel nochmal ging Sie das an? Welches Recht hatten Sie, mich danach zu fragen?« rief der Unglückselige.

»Na, denn schön!« sagte der Kutscher. »Ich kenne meinen Platz; wenn Sie man Ihren kennen – wenn Sie man Ihren kennen!« wiederholte er, wie ein Mensch, der sich zu schweren Zweifeln berechtigt fühlt; und dann brummte er eine Reihe von Donnerwettern vor sich hin.

Oh! hätte John doch dieses Ungeheuer ablohnen können, das, wie er jetzt deutlich, aber leider zu spät bemerkte, seine Weihnachtsfeier sehr früh am Morgen begonnen hatte! Aber kein Hoffnungsstrahl leuchtete dem Unglücklichen; da stand er ohne Hilfe und Helfer: sein Koffer an dem einen Ort unter Verschluß, sein Geld an einem anderen Ort in einen Winkel geworfen und von einem Leichnam bewacht! Er selber, dem alles darauf ankam sich zu verbergen, der Zielpunkt aller Augen beim Bahnhof! Und wie wenn dies noch nicht genug Mißgeschick gewesen wäre, hatte er es jetzt auch noch mit dem Vieh von einem Kutscher verdorben, an den seine Armut ihn wie mit einer Kette fesselte. Ja, wie er sich trübselig vorhielt: er hatte es mit dem Zeugen verdorben, der ihn vielleicht an den Galgen bringen oder auch retten konnte!

Es war keine Zeit mehr zu verlieren; er durfte nicht länger mehr an diesem öffentlichen Ort die Zeit vertrödeln; er mußte das Versehen sofort wieder gut machen – entweder durch würdevolle Haltung oder durch einige versöhnende Worte. Eine Spur von Mannhaftigkeit, die zum Glück noch in ihm übriggeblieben war, veranlaßte ihn, sich für die erstere zu entscheiden. Er setzte seinen Fuß wieder auf das Trittbrett und sagte:

»Nichts mehr davon! Fahren Sie wieder dahin, von wo wir kamen!«

Er hatte es absichtlich vermieden, das Ziel der Fahrt zu nennen, denn es hatte sich inzwischen schon ein ganzer Trupp von Bahnhofsleuten um die Droschke versammelt; er dachte immer daran, daß er vielleicht vor Gericht erscheinen müßte, und war daher bemüht, alles zu vermeiden, was übereinstimmende Zeugenaussagen herbeiführen könnte. Aber wieder einmal machte der verhängnisvolle Wagenlenker ihm seinen Plan zuschanden.

»Wieder nach der Lodge hinaus?« rief er in schrillen Tönen des Protestes.

»Fahren Sie sofort los!« brüllte John und schlug die Wagentür wieder zu, so daß der alte Klapperkasten schwankte und klirrte.

Und so zuckelte die Droschke durch die weihnachtlichen Straßen hindurch; der Fahrgast drinnen in einer schwarzen Verzweiflung, die an Bewußtlosigkeit grenzte, der Kutscher auf dem Bock an der erlittenen Zurückweisung und an der Zweifelhaftigkeit seines Kunden herumkauend. Ich möchte indessen nicht, daß hierdurch ein Vergleich der beiden miteinander angedeutet werden sollte: Johns Lage ließ sich überhaupt nicht mit einer anderen vergleichen. Indessen verdient auch der Kutscher das Mitgefühl aller berechtigt; denn er war ein Mann von natürlicher Freundlichkeit des Herzens und mit einem hohen Gefühl persönlicher Würde, und dieses war durch reichlich genossene Getränke in diesem Augenblick besonders hoch gesteigert; und seine Freundlichkeiten waren in grober Weise und noch dazu von anderen Leuten zurückgewiesen worden! Darum rechnete er im Fahren alles erlittene Unrecht zusammen und dürstete nach Mitgefühl und Getränk. Nun traf es sich, daß er einen Freund hatte, einen Schenkwirt in Queensferry Street; und er dachte, von diesem könnte er vielleicht in anbetracht des hohen Feiertages einen Gratisschluck bekommen. Queensferry Street liegt zwar nicht an dem geraden Wege nach Murrayfield; aber dorthin führt auch der Seitenweg über die Berge durch das Leithtal und am Kirchhof von Dean vorbei; und Queensferry Street liegt am Wege nach diesem Seitenwege. Da nun sein Gaul stumm war – was hinderte den Kutscher, den Seitenweg zu wählen und unterwegs bei seinem Freund vorzusprechen? Hiermit war die Frage entschieden, und der bereits etwas besänftigte Kutscher lenkte sein Rößlein nach rechts ab.

Unterdessen saß John zusammengesunken in der Droschke, das Kinn auf der Brust, im Herzen bange Erwartung. Der muffige Geruch des Wagens und eine gewisse bleischwere Kälte an seinen Füßen waren die einzigen schwachen Wahrnehmungen, die seine Sinne halb unbewußt machten; alles andere war in einem ungeheuren drückenden Gefühl von Unglück und körperlicher Schwäche verschwunden. Es war bald Mittag – seit zweiundzwanzig Stunden hatte er keinen Bissen gegessen; in der Zwischenzeit hatte er Folterqualen von Sorge und Unruhe erlitten und war halb betrunken gewesen. Man konnte zwar nicht sagen, daß er schlief; aber als die Droschke hielt und der Kutscher seinen Kopf zum Fenster hereinstreckte, mußten seine Gedanken aus einer bodenlos tiefen Leere wachgerufen werden.

»Wenn Sie denn keinen Schluck ausgeben wollen,« sagte der alte Kutscher mit wahlberechtigter Strenge in Ton und Benehmen, »so werden Sie doch nichts dagegen haben, daß ich mir auf meine eigene Rechnung einen leiste?«

»Ja – nein – tun Sie, was Sie wollen,« antwortete John; und dann, als er seinen Quälgeist die Treppe hinaufsteigen und in den Whiskyausschank eintreten sah, hatte er ein Gefühl, wie wenn diese Umgebung ihm schon seit langer Zeit vertraut sein müßte. Plötzlich wurde er ganz wach, fuhr empor und starrte die Fenster der Schnapsbude an. Ja, er kannte sie; aber wann hatte er sie gesehen und unter welchen Umständen? Es war wohl schon lange her; und dann, als er einen Blick durch die vordere Glasscheibe der Droschke warf, die bis dahin der Kutscher verdeckt hatte, sah er die Baumwipfel des Krähengenistes am Randolph Crescent. Er war dicht bei seinem Vaterhaus – bei dem Hause, wo er um diese Stunde in dem altvertrauten Wohnzimmer in behaglichem Geplauder sitzen zu dürfen geglaubt hatte; und statt dessen –!

Sein erster Gedanke war, sich zurückzuwerfen – sein zweiter, das Gesicht in den Händen zu verbergen. So saß er, während der Kutscher dem Wirt, und der Wirt dem Kutscher zutrank und beide die Angelegenheiten der Nation einer kritischen Betrachtung unterzogen; so saß er immer noch, als sein Herr und Meister endlich geruhte, zu seinem Wagen zurückzukehren und bergab, dem Lynedoch Place zu, weiterzufahren. Und als er am Ende von seines Vaters Straße vorüberfuhr, warf er einen Blick durch seine Finger hindurch und sah einen Doktorwagen vor der Tür halten.

Na ja, ganz recht! dachte er; wahrscheinlich habe ich meinen Vater getötet! Und heute ist Weihnachtstag!

Wenn der alte Herr Nicholson starb, mußte er dieselbe Straße entlang die letzte Fahrt zum Grabe machen; und diese Straße entlang war sein Weib vor Jahren ihm voraus gefahren; und desgleichen so mancher andere hochangesehene Bürger, mit dem geziemenden Leichengepränge und mit stattlichen Gefolge von Trauerkutschen. Und wohin anders fuhr denn jetzt John selber in dieser eiskalten, muffig riechenden Droschke mit der Strohmatte und den geflickten Polstern, mit den Fensterscheiben, an denen sein Atem zu Eisblumen gefror?

Dieser Gedanke regte seine Einbildungskraft an, und sie begann viele tausend Bilder zu schaffen – bunte, wechselnde Bilder wie in einem Kaleidoskop. Er sah sich als rotbäckigen Knaben mit einem dicken Schal um den Hals auf dem gefrorenen Rinnstein schlittern; dann wieder als weinenden, von tiefer Trauer erfüllten kleinen Jungen in schwarzem Anzug und mit schwarzem Flor am Arm und Hut in der Trauerkutsche diesen selben Berg herunterfahren, hinter dem Sarg seiner Mutter; dann wieder machte seine Phantasie einen großen Sprung in die Zukunft hinein: da stand er ganz allein in dem trüben Tageslicht, um ihn herum hüpften die Sperlinge auf der Schwelle, und drinnen starrte der Tote zur Zimmerdecke empor; plötzlich wechselte das Bild: um ihn herum drängten sich Nachbarn mit weißen Gesichtern und aufgeregt gestikulierenden Händen, und der Arzt schob sie zur Seite und schraubte im Laufen sein Stethoskop zusammen, und der Schutzmann stand neben der Leiche und schüttelte sein weises Haupt. Und dann sah er sich selber in seiner Droschke bei diesen Menschen eintreffen, hörte sich schwächliche Erklärungen stottern und fühlte die Hand des Schutzmanns auf seiner Schulter. O Himmel! Wie wünschte er jetzt, er hätte mehr Mut gehabt! Wie verachtete er sich selbst, weil er von dieser schrecklichen Stätte entflohen war, als alles ruhig und still war, und jetzt kläglich dorthin zurückkehrte, wo sie von Rächern wimmelte! Eine starke Aufregung vermag selbst dem Stumpfsinnigsten die Einbildungskraft zu schärfen. Und als er jetzt daran dachte, was wahrscheinlich am Ende dieser elenden Fahrt seiner harrte, da sah John – John, der sonst fast nichts sah, noch weniger etwas im Gedächtnis behielt und überhaupt nichts zu beschreiben imstande war – da sah John mit seinem geistigen Auge den Garten der Lodge vor sich wie auf einem Plan: er lief in diesem Garten hin und her und fütterte seine Ängste; er sah die Stechpalmenbüsche, die Schneestreifen, die Wege, auf denen er Alan gesucht hatte, die hohen klostermäßigen Mauern, die geschlossene Pforte – was? war die Pforte geschlossen? Ha, richtig! er hatte sie ja geschlossen! und hatte damit sein Geld, die Möglichkeit der Flucht, sein zukünftiges Leben eingeschlossen – hatte sie eingeschlossen mit diesen seinen eigenen Händen, und kein Mensch konnte jetzt die Pforte öffnen! Er hörte das Schloß einschnappen mit einem Krach, wie wenn etwas in seinem Gehirn zerspränge, und saß wie erstarrt und staunte.

Und dann wachte er wieder auf, und Angst zog ihm das Herz zusammen. Jetzt hatte er keine Zeit, müßig zu sein, er mußte sich aufraffen und handeln, er mußte denken! Wenn diese lächerliche Fahrt zu Ende war, wenn sie wieder vor der Pforte der Lodge hielten, dann würde nichts anderes übrigbleiben, als die Droschke umkehren zu lassen und wieder in die Stadt zurückzurumpeln. Wozu also überhaupt so weit fahren; warum noch einen weiteren Verdachtsgrund in diese ohnehin schon so verdächtige Sache hineinbringen? Warum nicht sofort umkehren? Umkehren – das war leicht gesagt. Aber wohin? Er hatte nirgends eine Stätte, wohin er jetzt gehen konnte; niemals konnte er – er sah es in blutroten Buchstaben vor seinem Auge geschrieben – niemals konnte er die Droschke bezahlen; diese Droschke behielt er für immer auf dem Halse. Oh, diese Droschke! Seine Seele brannte vor Sehnsucht und sein Herz schmerzte von dem Wunsch, diese Droschke los zu sein. Er vergaß alle anderen Sorgen. Erst mußte er diesen übelduftenden Kasten loswerden und das Vieh von einem Kutscher, der ihn lenkte; dies war das allererste! Wenigstens das mußte er fertigbringen, und zwar sofort! Und gerade in diesem Augenblick hielt der Wagen ganz plötzlich und sein Verfolger klopfte an die vordere Fensterscheibe. John ließ sie herab und sah auf dem Portweingesicht ein Leuchten des Triumphes.

»Nu weiß ich, wer Sie sind?« schrie die heisere Stimme. »Nu erinnere ich Sie: Sie sind ein Nucholson. Ich fuhr Sie nach Hermiston zu einer Weihnachtsgesellschaft, und bei der Rückfahrt saßen Sie auf dem Bock, und ich ließ Sie fahren.«

Es war Tatsache. John kannte den Mann; sie hatten sich sogar befreundet. Jetzt erinnerte er sich: sein Feind war ein sehr gutmütiger Kerl – ja sogar unendlich gutmütig gegen einen Jungen gewesen; warum sollte er nicht auch dem Mann gegenüber gutmütig sein? Warum sollte er sich nicht an die bessere Natur in dem Mann wenden? Er griff nach der neuen Hoffnung und rief, wie wenn er ganz entzückt wäre, und seine Stimme klang ihm falsch in die eigenen Ohren:

»Herrje nochmal! das taten Sie ja! Na, wenn das so ist, dann habe ich Ihnen was zu sagen. Ich denke, ich will mal aussteigen. Wo sind wir denn überhaupt?«

Der Kutscher hatte seine Chausseegeldquittung geschwenkt, als sie bei dem Einnehmer an der Nebenstelle vorbeifuhren, und sie befanden sich in diesem Augenblick auf der höchsten und einsamsten Stelle der Seitenstraße. Zur Linken stand eine Reihe von Bäumen; zur Rechten erstreckten sich kahle Sturzäcker in Wellen nach der Queensferry Road hinunter; gerade vor ihnen streckte Corstorphine Hill seine beschneiten dunklen Wälder zum Himmel empor. John sah rund um sich herum und schlürfte die reine Luft wie Wein ein; dann kehrten seine Augen zu dem Kutschergesicht zurück. Der Mann saß ganz lustig auf seinem Bock und erwartete Johns Mitteilung mit einer pfiffigen Miene, wie wenn er auf ein gutes Trinkgeld hoffte.

Die Züge dieses Gesichtes waren schwer zu lesen: Trinken hatte sie so aufgedunsen gemacht, Trinken hatte sie mit Farben bemalt, die von ziegelrot zu maulbeerblau gingen. Die kleinen grauen Äuglein zwinkerten, die Lippen bewegten sich in gieriger Erwartung; Gier war seine beherrschende Leidenschaft, und wenn auch einige Gutmütigkeit, eine gewisse echte Freundlichkeit, etwas wirklich Menschliches in dem alten Trunkenbold war, so war jetzt seine Geldgier so von Hoffnung entflammt, daß alle anderen Züge seines Charakters übertäubt waren. Wie er so dasaß, war er die Verkörperung gieriger Erwartung.

John verlor wieder den Mut. Er hatte schon den Mund geöffnet, aber er stand da und sagte nichts. Er untersuchte den Wasserstand seines Mutes, und der Boden war trocken. Er tastete in seinem Wortschatz, und er war leer. Ein Teufel der Stummheit hielt ihn an der Gurgel gepackt und ein Teufel der Angst plapperte ihm in die Ohren. Und plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, und auch ohne ein klares Bewußtsein von dem, was er tat, und ohne einen bestimmten Willen, drehte John sich auf dem Absatz herum, sprang über den Wall am Wege und rannte aus Leibeskräften über den Sturzacker davon.

Er war noch nicht weit gekommen, er war noch nicht über die Mitte des ersten Ackers hinaus, da donnerte es ihm durch das Hirn: Dummkopf! du hast ja deine Uhr!

Es gab ihm einen Stoß; er blieb stehen, kehrte um und ging ein paar Schritte auf die Droschke zu. Der Kutscher stand am Wall, schwang seine Peitsche mit purpurrotem Gesicht und brüllte wie ein Stier. Und John sah (oder dachte), daß er die letzte Möglichkeit verpaßt hatte. Keine Uhr würde jetzt den Ärger des Mannes besänftigen; jetzt würde er auch seine Rache haben wollen! John wird mit ihm zur Polizei müssen; er müßte seine Geschichte erzählen, sein Geheimnis enthüllen – die Wogen seines Schicksals würden über ihm zusammenschlagen, und es wäre aus für immer.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, und als der Kutscher endlich zu einem Entschluß kam und über den Wall zu klettern begann, machte sein durchgebrannter Kunde sich wieder auf die Beine und verschwand über die nächsten Äcker.


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