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Sechstes Kapitel
Ich werde dem »Langen« vorgestellt

Clara ließ uns ins Dünenhaus ein, und ich sah mit Überraschung, wie vollständig und stark die Verteidigungsanstalten waren.

Eine sehr starke und doch leichtbewegliche Barrikade beschützte die Tür gegen jeden gewaltsamen Angriff von außen, und die Fensterläden des von einer Lampe schwach beleuchteten Eßzimmers, in das ich sofort geführt wurde, waren noch kunstreicher befestigt. Die Holzbretter waren durch Stangen und Querriegel verstärkt, und diese wurden wieder durch ein ganzes System von Sparren und Stützen festgehalten, die zum Teil vom Fußboden, zum Teil von der Decke aus gingen, während andere die Fensterläden mit der gegenüberliegenden Wand verbanden. Es war ein festes und sehr sinnreich ausgedachtes Stück Zimmermannsarbeit, und ich machte keinen Versuch, meine Bewunderung zu verhehlen.

»Der Baumeister bin ich!« sagte Northmour. »Du erinnerst dich der Planken im Garten? Das sind sie.«

»Ich wußte nicht, daß du so viele Künste verstehst,« sagte ich.

»Bist du bewaffnet?« fuhr er fort und deutete gleichzeitig auf eine Reihe von Pistolen und Gewehren, sämtliche in tadellosem Zustande, die gegen die Wand angelehnt waren oder auf den Tischen lagen.

»Danke,« antwortete ich; »ich habe meine Pistole immer bei mir gehabt, seitdem wir uns zum letztenmal trafen. Aber, um dir die Wahrheit zu sagen: ich habe seit gestern nachmittag nichts zu essen gehabt.«

Northmour holte etwas kaltes Fleisch, über das ich mich sofort hermachte; dazu setzte er mir eine Flasche guten Burgunders vor, den ich mir, durchnäßt wie ich war, ohne Gewissensbisse zu Gemüte führte. Ich bin stets grundsätzlich ein strenger Alkoholgegner gewesen; aber man braucht Grundsätze nicht zu übertreiben, und bei dieser Gelegenheit mag ich wohl dreiviertel von der Flasche geleert haben.

Während ich aß, bewunderte ich fortwährend die Verteidigungsmaßnahmen, und schließlich sagte ich:

»Wir könnten eine Belagerung aushalten.«

»Jaaa,« sagte Northmour in sehr gedehntem Ton; »eine sehr kurze – vielleicht. Ich zweifle nicht so sehr an der Widerstandsfähigkeit des Hauses; was mich kaputt macht, ist die doppelte Gefahr: wenn es zum Schießen kommt, wird ganz bestimmt selbst in dieser einsamen Gegend irgend jemand es hören, und dann – na, dann ist es ganz dasselbe, bloß ganz anders, wie die Redensart lautet: entweder von Gesetzes wegen ins Loch gesperrt oder von den Carbonari abgeschlachtet. Zwischen diesen beiden Dingen haben wir die Wahl. Es ist ein verdammt ekliges Ding auf dieser Welt, das Gesetz gegen sich zu haben, und das sage ich auch dem alten Herrn da oben. Er ist auch vollständig meiner Meinung.«

»Da du davon sprichst,« sagte ich, »was für eine Art von Mensch ist er?«

»Oh, der! Das ist ein ziemlich übler Bursche. Meinetwegen könnten sämtliche Teufel Italiens ihm morgen das Genick umdrehen. Ich habe mich nicht seinetwegen auf die Geschichte eingelassen. Du verstehst mich? Es ist ein Geschäft um Claras Hand, und ich kriege sie auch.«

»Das werden wir sehen. Aber wie wird Herr Huddlestone es aufnehmen, daß ich hier ins Haus komme?«

»Überlasse das Clara!« antwortete Northmour.

Ich hätte ihn wegen dieser plumpen, vertraulichen Bezeichnung ins Gesicht schlagen mögen, aber ich achtete den Burgfrieden, wie übrigens, das muß ich sagen, auch Northmour es tat. Solange die Gefahr anhielt, verdunkelte kein Schatten unsere Beziehungen. Es freut mich aufrichtig, daß ich ihm dieses Zeugnis geben kann; ich sehe aber auch nicht ohne Stolz auf mein eigenes Betragen zurück. Denn gewiß waren niemals zwei Männer in einer so peinlichen Lage, die jeden Augenblick zum Streit führen konnte.

Sobald ich gegessen hatte, machten wir uns daran, das Erdgeschoß zu besichtigen. An einem Fenster nach dem anderen prüften wir sämtliche Stützen und machten ab und zu eine unbedeutende Veränderung daran; dann klangen die Schläge des Hammers unheimlich laut durch das ganze Haus. Ich erinnere mich, daß ich den Vorschlag machte, Schießscharten anzubringen; er sagte mir aber, diese befänden sich bereits an den Fenstern des oberen Stockwerks.

Diese Besichtigung war eine aufregende Arbeit und sie versetzte mich in eine niedergeschlagene Stimmung. Es waren zwei Türen und fünf Fenster zu verteidigen, und wir waren, Clara mitgerechnet, nur zu vieren gegen eine unbekannte Anzahl von Feinden. Ich teilte Northmour meine Bedenken mit, und er antwortete mir, ohne mit einem Muskel zu zucken, er sei vollkommen meiner Meinung.

»Vor morgen früh,« sagte er, »sind wir alle abgeschlachtet und liegen im Triebsand von Graden Floe. Das steht für mich geschrieben.«

Ich schauderte unwillkürlich zusammen, als er von dem Triebsand sprach, machte ihn aber darauf aufmerksam, daß sie im Walde meiner geschont hätten.

»Bilde dir nur nichts ein!« sagte er; »damals warst du nicht mit dem alten Herrn in demselben Boot; jetzt bist du's. Uns alle erwartet Graden Floe – merke dir meine Worte!«

Ich zitterte um Clara; und gerade in diesem Augenblick hörten wir ihre liebe Stimme, die uns zurief, wir möchten nach oben kommen. Northmour ging mir voran und klopfte, als wir oben waren, an die Tür von »Onkels Schlafzimmer«, wie wir früher die Stube genannt hatten, die der Erbauer des Dünenhauses für sich selber bestimmt hatte.

»Herein, Northmour! Herein, lieber Herr Cassilis!« sagte eine Stimme von drinnen.

Northmour stieß die Tür auf und ließ mich zuerst eintreten. Wie ich hineinkam, konnte ich die Tochter durch die Seitentür in das Studio nebenan schlüpfen sehen, das als Schlafzimmer für sie eingerichtet worden war.

Das Bett war an die Wand zurückgezogen, während es früher, als ich es zum letztenmal gesehen hatte, ganz offen dem Fenster gegenübergestanden hatte. In diesem Bett saß Bernard Huddlestone, der bankbrüchige Flüchtling. Obgleich ich ihn nur in dem schwankenden Licht der Laterne einen Augenblick bei den Dünen gesehen hatte, konnte ich ihn doch sofort wiedererkennen. Er hatte ein langes, blasses Gesicht, das von einem langen, roten Vollbart umrahmt war. Seine gebrochene Nase und die vorstehenden Backenknochen gaben ihm ein etwas kalmückisches Aussehen, und seine hellen Augen funkelten in der Erregung hohen Fiebers.

Er trug ein schwarzes Seidenkäppchen; eine große Bibel lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Bett, daneben eine goldene Brille, und ein Haufen anderer Bücher war auf einem Nachttischchen aufgestapelt.

Die grünen Vorhänge gaben seinem Gesicht eine Leichenfarbe; er saß aufrecht in Kissen, die gegen seinen Rücken gestopft waren; er war stark gekrümmt und sein Kopf war bis über seine Knie vornübergebeugt. Ich glaube, er hätte binnen sehr wenigen Wochen an der Auszehrung sterben müssen, wenn er nicht auf andere Weise seinen Tod gefunden hätte.

Er streckte mir eine lange, dünne und unangenehm behaarte Hand entgegen und sagte:

»Kommen Sie, kommen Sie näher, Herr Cassilis! Noch ein Beschützer – Ahem! – Noch ein Beschützer. Stets willkommen als ein Freund meiner Tochter, Herr Cassilis. Wie haben sie mich verspottet, meiner Tochter Freunde! Mein Gott im Himmel soll Sie dafür segnen und belohnen!«

Ich gab ihm natürlich meine Hand, weil es nicht anders ging; aber die Teilnahme für Claras Vater, die ich zu empfinden geglaubt hatte, wurde durch sein Äußeres und durch die winselnden, falschen Töne, in denen er sprach, sofort ertötet.

»Cassilis ist ein tüchtiger Mann,« sagte Northmour; »soviel wert wie zehn.«

»Das höre ich!« rief Huddlestone eifrig; »meine Tochter sagte es mir schon. Ach, Herr Cassilis, sehen Sie, jetzt wird meine Sünde an mir vergolten! Es steht mit mir schlecht, sehr schlecht. Aber ich hoffe, ich bin auch ebenso reuig! wir alle müssen schließlich zum Gnadenthron gelangen, Herr Cassilis, ich komme allerdings spät, aber mit ungeheuchelter Demut, das hoffe ich fest!«

»Papperlapapp!« sagte Northmour grob.

»Nein, nein, lieber Northmour!« rief der Bankier, »so müssen Sie nicht reden! Sie müssen nicht versuchen, mich in meinem Glauben zu erschüttern. Sie vergessen, mein lieber guter Junge, Sie vergessen, daß ich vielleicht schon in dieser Nacht vor meinen Schöpfer gerufen werde.«

Seine Aufregung war kläglich anzuhören, und ich fühlte ein Gefühl der Entrüstung gegen Northmour in mir aufsteigen. Ich wußte wohl, daß er ungläubig war, aber ich verdammte ihn aus voller Überzeugung, als er nun fortfuhr, den armen Sünder in seinem Zustand der Reue zu verhöhnen.

»Puh, mein lieber Huddlestone!« sagte er. »Sie sind ungerecht gegen sich selber. Sie sind inwendig und auswendig ein Mann der Welt und hatten schon alle möglichen Missetaten vollbracht, bevor ich nur geboren war. Ihr Gewissen ist gegerbt wie südamerikanisches Leder – nur Ihre Leber haben Sie vergessen zu gerben, und die ist der Sitz des ganzen Unbehagens – glauben Sie mir das nur!«

»Spitzbube! unartiger Junge!« sagte Huddlestone mit drohendem Finger. »Ich bin kein Moralprediger, wenn Sie das meinen; Moralprediger habe ich immer gehaßt. Aber trotz alledem und alledem habe ich doch niemals den letzten Halt verloren und immer an etwas Besseres geglaubt. Ich bin ein arger Sünder gewesen, Herr Cassilis, das suche ich gar nicht zu leugnen; aber das war, nach dem meine Frau gestorben war, und das wissen Sie ja: mit einem Witwer ist es eine ganz andere Sache. Ein Sünder – nun ich will es nicht leugnen; aber es gibt auch eine Abstufung, wollen wir hoffen. Und weil wir gerade davon reden – horch!« unterbrach er sich plötzlich. Mit erhobener Hand, mit ausgespreizten Fingern, das Gesicht von Entsetzen verzerrt, saß er da.

»Nur der Regen, Gott sei Dank!« sagte er nach einer Pause mit unbeschreiblicher Erleichterung.

Etliche Sekunden lang lag er in seinen Kissen, wie wenn er einer Ohnmacht nahe wäre; dann raffte er sich wieder auf und begann in etwas zitterigen Tönen mir abermals dafür zu danken, daß ich bereit sei, für ihn einzustehen.

»Nur eine Frage, Herr Huddlestone,« sagte ich, als er innehielt. »Ist es wahr, daß Sie Geld bei sich haben?«

Die Frage schien ihm unangenehm zu sein; er gab jedoch zu, wenn auch widerstrebend, daß er ein wenig habe.

»Nun,« fuhr ich fort, »sie sind hinter Ihrem Gelde her, nicht wahr? Warum geben Sie es ihnen nicht heraus?«

»Ach!« antwortete er und schüttelte den Kopf; »das habe ich ja schon versucht, Herr Cassilis; aber leider! sie wollen Blut haben!«

»Huddlestone, was Sie da sagen, ist nicht ganz ehrlich!« sagte Northmour. »Sie sollten erwähnen, daß die von Ihnen angebotene Summe über zweihunderttausend Pfund zu wenig war. Der Fehlbetrag ist wohl der Erwähnung wert; es ist, wie man zu sagen pflegt, ein tüchtiger Batzen Geld. Und dann, siehst du, denken die Kerle auf ihre italienische Weise: sie sind der Meinung, und da haben sie wohl auch ganz recht, daß sie ebensogut alles beides haben können, weil sie sich nun einmal die Umstände gemacht haben: Nicht bloß das Geld, sondern auch das Blut, und ohne daß ihnen das Extravergnügen eine Extramühe macht.«

»Ist das Geld hier im Hause?« fragte ich.

»Jawohl; und ich wollte, es läge auf dem Meeresgrund statt dessen,« sagte Northmour; und plötzlich schrie er den alten Huddlestone an, dem ich gedankenlos den Rücken zugekehrt hatte:

»Was schneiden Sie mir Gesichter? Glauben Sie vielleicht, Cassilis würde Sie verraten?«

Huddlestone beteuerte, daß nichts ihm ferner gelegen habe.

»Es ist wirklich reizend!« versetzte Northmour in unhöflichstem Ton. »Sie werden uns vielleicht schließlich die ganze Sache noch verekeln! Was wolltest du sagen?« setzte er hinzu, indem er sich wieder zu mir wandte.

»Ich wollte eine Beschäftigung für den Nachmittag Vorschlägen: laß uns dieses Geld hinaustragen, Stück für Stück, und vor die Haustür legen. Wenn die Carbonari kommen, dann gehört es ja doch auf alle Fälle ihnen.«

»Nein, nein!« rief Huddlestone; »es gehört ihnen nicht, es kann ihnen nicht gehören! Es sollte pro rata unter alle meine Gläubiger verteilt werden.«

»Hören Sie mal, Huddlestone!« sagte Northmour; »lassen Sie uns mal mit dem Unsinn zufrieden!«

»Na ja – aber meine Tochter!« stöhnte der Unglückliche.

»Ihrer Tochter wird es ganz gut gehen. Hier sind zwei Freier, Cassilis und ich – wir sind beide keine Bettler, und sie hat zwischen uns zu wählen. Und um mich mit Ihnen nicht länger zu streiten – Sie selber haben kein Anrecht auf einen einzigen Heller, und wenn ich mich nicht sehr irre, werden Sie bald ein toter Mann sein.«

Sicherlich waren diese Worte sehr grausam; aber der alte Huddlestone war ein Mann, der wenig Mitgefühl erregte. Obgleich ich sah, wie er sich krümmte und zusammenschauderte, billigte ich doch im geheimen die harten Worte; ja, ich verstärkte sie sogar noch selber und sagte:

»Northmour und ich sind vollkommen bereit, Ihnen zu helfen, daß Sie Ihr Leben retten, aber nicht, daß Sie gestohlenes Gut in Sicherheit bringen.«

Er kämpfte eine Zeitlang mit sich selber, wie wenn er auf dem Punkt stände, seinem Ärger freien Lauf zu lassen, schließlich aber siegte doch seine Vorsicht, und er sagte:

»Meine lieben Jungens, macht mit meinem Gelde, was ihr wollt. Ich lasse es in euren Händen. Laßt mich jetzt allein, ich muß mich sammeln.«

Und so gingen wir hinaus, und fürwahr, herzlich gern! Das letzte, was ich sah, war, daß er seine große Bibel wieder an sich herangezogen hatte und mit zitternden Händen seine Brille aufsetzte.


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