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Zweites Kapitel
in welchem John den Sturm erntet

Ungefähr um halb elf Uhr hatte John das große Glück, dem Fräulein Mackenzie seinen Arm zu bieten und sie nach Hause zu bringen. Die Nacht war kühl und sternenhell; auf dem ganzen Weg nach Osten zu raschelten die Bäume der verschiedenen Gärten und sahen schwarz aus. Als sie über die Steinrinne von Leith Walk schritten, versetzte ein Windstoß die Flammen der Straßenlaternen in eine zitternde Bewegung; und als sie schließlich oben bei der Royal Terrace ankamen, wo Kapitän Mackenzie wohnte, wehte ihnen eine starke salzige Seebrise in die Gesichter. Diese Einzelheiten jenes Ganges blieben in Johns Gedächtnis eingeschrieben, denn er hatte sie besonders stark unter dem Berühren ihrer leichten Hand, die auf seinem Arm lag, empfunden; und über die nächtliche Stadt hinweg sah sein geistiges Auge ein Bild des hell erleuchteten Wohnzimmers daheim, wo er mit Flora geplaudert hatte, und seines Vaters, der vom anderen Ende des Zimmers mit einem freundlichen und ironischen Lächeln auf sie gesehen hatte. John hatte die Bedeutung dieses Lächelns verstanden, das einem Fremden vielleicht entgangen wäre: Herr Nicholson hatte die Verliebtheit seines Sohnes mit einer Befriedigung bemerkt, die eine kleine Beimischung von Humor hatte; und wenn auch sein Lächeln ein bißchen geringschätzig war, so lag doch auch Zustimmung darin.

Vor der Haustür des Kapitäns streckte das Mädchen mit einem gewissen Nachdruck die Hand aus, und John nahm sie und behielt sie ein bißchen länger, als üblich ist, und sagte: »Gute Nacht, Flora, Liebling!« und bekam sofort eine große Angst ob seiner Dreistigkeit; aber sie lachte nur, lief die Stufen hinauf und zog die Hausglocke; und während sie darauf wartete, daß die Tür geöffnet würde, drückte sie sich in das Portal hinein und sprach von dort aus mit ihm, wie von einem befestigten Stützpunkt aus. Sie hatte einen gestrickten Schal über den Haaren; ihre blauen Hochlandsaugen fingen das Licht der nahen Straßenlaterne und funkelten; und als die Tür geöffnet wurde und sich hinter ihr schloß, fühlte John sich entsetzlich einsam.

Von Zärtlichkeit durchglüht, ging er die Terrasse entlang zurück, und als er an die Greenside-Kirche kam, blieb er voll Ungewißheit stehen. Über den Kamm des Calton-Hügels, zu seiner Linken, führte der Weg zu Colette, wo Alan bald auf seine Ankunft warten würde, wohin er aber jetzt ebensowenig hätte gehen mögen, wie er freiwillig in einen Sumpf gegangen wäre: der leise Druck dieser Mädchenhand, die auf seinem Ärmel geruht hatte, und das freundliche Licht in seines Vaters Augen verboten ihm dies laut. Aber gerade vor ihm lag der Weg nach Hause, und der führte nur in sein Bett – einen wenig behaglichen Platz für einen, dessen Phantasie zu lyrischer Begeisterung gesteigert war, und dessen sonst nicht sehr heißes Herz sich jetzt in einem tumultuarischen Aufruhr befand. Die Höhe des Hügels, die kühle Nachtluft, die großen Denkmäler rings um ihn herum, der Anblick der Stadt zu seinen Füßen mit ihren Hügeln und Tälern und kreuz und quer laufenden Laternenreihen zogen ihn bei allem Poetischen, das in ihm war, und er wandte sich in diese Richtung; und durch diese ganz harmlose Abweichung von seinem Wege reifte das Kornfeld seiner menschlichen Schwachheit für die Sense des Schicksals.

Auf einer Bank auf dem Hügel über Greenside saß er vielleicht eine halbe Stunde lang und sah auf die Lichter von Edinburgh herab und zu den Lichtern am Himmel empor. Wundervoll waren die Entschlüsse, die er faßte, schön und freundlich waren die Bilder künftigen Lebens, die an ihm vorüberzogen. Er sprach den Namen Flora in so vielfältigen rührenden und dramatischen Betonungen vor sich hin, daß er schließlich ganz und gar in Zärtlichkeit zerfloß und laut hätte singen mögen. Gerade in diesem Augenblick traf ein gewisses Knistern in seinem Überzieher sein Ohr. Er fuhr mit der Hand in die Tasche, zog den Umschlag mit den Banknoten hervor und saß ganz verblüfft da. Der Calton-Hügel war zu jener Zeit nächtlicher Weile übel berüchtigt; und mit vierhundert Pfund, die ihm nicht gehörten, dort auf einer Bank zu sitzen, war nicht eben weise. Er sah sich um. Ein Stückchen seitwärts von ihm saß ein Mann mit einem sehr schäbigen Hut und betrachtete ihn offenbar; von der anderen Seite her kam ein zweiter Nachtschwärmer ganz gemächlich näher heran. Auf sprang John. Der Umschlag fiel aus seiner Hand; er bückte sich, ihn aufzuheben, und in demselben Augenblick rannten die beiden Kerle heran und warfen sich auf ihn.

Kurz darauf stand er wieder auf seinen Füßen, sehr zerprügelt und gerüttelt – ohne ein Geldtäschchen, das genau eine Pennyfreimarke enthielt, ein leinenes Taschentuch und die Hauptsache: den Umschlag mit den vierhundert Pfund. Hier stand nun ein Jüngling, den auf dem Höhepunkt verliebter Begeisterung ein Schlag getroffen hatte, der zu scharf war, um ihn allein zu ertragen; und wenige hundert Meter davon entfernt, saß sein bester Freund beim Nachtessen – ja, und erwartete ihn sogar. Lag es nicht in der menschlichen Natur, daß er dorthin ging? Er ging, um Mitgefühl zu suchen – um jenes schnurrige Ding zu suchen, das wir alle nötig zu haben glauben, wenn wir in einer Klemme sind, und das wir überein gekommen sind, »Rat« zu nennen. Außerdem ging er mit unbestimmten, aber ziemlich glänzenden Erwartungen, Hilfe zu finden. Alan war reich, oder würde es doch sein, sobald er mündig wurde. Mit einem Federstrich konnte er vielleicht sein Mißgeschick wieder gut machen und so das gefürchtete Gespräch mit dem alten Herrn Nicholson abwenden – das Gespräch, vor dem John bei dem Gedanken daran zurückschauderte, wie die Hand vor dem Feuer zurückzuckt.

Dicht unter dem Calton-Hügel läuft eine schmale Gasse entlang, halb Straße, halb Landweg. Der Kopf dieser Straße liegt dem Tor des Gefängnisses gegenüber; ihr Schwanz reicht in die sonnenlosen Spelunkengassen von Nieder-Calton herab. Auf der einen Seite wird sie von den Klippen des Hügels überragt, auf der anderen von einem alten Friedhof. Zwischen diesen beiden läuft die Straße in einer Schlucht entlang, bei Nacht spärlich erleuchtet, bei Tage spärlich begangen, und jenseits der Gräberstätte von schmutzigen, zweideutigen Häusern eingefaßt. Eines von diesen war das Haus Colettes, und an dessen Tür klopfte jetzt unser unglückseliger John, um Einlaß zu finden. Es war für ihn eine böse Stunde, als er die mißtrauischen Fragen des unvorschriftsmäßigen Gastgebers zu dessen Zufriedenheit beantwortete; es war eine böse Stunde, als er in das etwas unappetitliche Innere eintrat. Alan war freilich da; er saß in einem von zischenden Gasflammen beleuchteten Raum, vor einem schmutzigen Tischtuch, auf welchem ein gemeines Garküchenessen stand, und in der Gesellschaft mehrerer bezechter jüngerer Rechtsbeflissener. Aber Alan war ebenfalls nicht nüchtern; er hatte bei einem Pferderennen tausend Pfund verloren, hatte die Nachricht davon beim Dinner erhalten, und war jetzt dabei, in Ermangelung jeglicher Mittel, aus dieser Klemme herauszukommen, die Erinnerung an seine Not zu ertränken. Er sollte John helfen! Das war ja ganz unmöglich; er konnte sich selber nicht helfen.

»Wenn du ein Biest von einem Vater hast,« sagte er, »so kann ich dir sagen: ich habe ein Vieh von einem Vormund.«

»Ich lasse nicht meinen Vater ein Biest nennen!« rief John mit klopfendem Herzen – denn er fühlte, daß er das letzte heile Glied der Kette, die ihn ans Leben band, aufs Spiel setzte.

Aber Alan war ganz gemütlich und sagte:

»Schön, schön, alter Junge! Höchst respektabler Mann, dein Vater.«

Und er stellte seinen Kumpanen seinen Freund als »des alten Dingerich Nicholsons Sohn« vor.

John saß da in stummer Verzweiflung. Colettes moderige Tapeten und befleckte Tischtücher und häßliche Eßgeschirre sah er wie in einem schweren Traum. Und dann auf einmal kam ein Klopfen und ein eiliges Getrampel: die Polizei, die auf dem Calton-Hügel in so bedauerlicher Weise abwesend gewesen war, erschien auf der Bildfläche; und die ganze Gesellschaft, die mit dem Weinglas in der Hand » flagrante delicto« ertappt worden war, wurde verhaftet und nach der Polizeiwache geschleppt, wo sie sämtlich in gebührender Form aufgefordert wurden, in der bevorstehenden Gerichtsverhandlung gegen den Schwerverbrecher Colette wegen verbotenen Ausschanks geistiger Getränke zu erscheinen.

Eine sehr bekümmerte und sehr nüchtern gewordene Gesellschaft verließ die Polizeiwache.

Die unbestimmte Furcht vor der öffentlichen Meinung beherrschte sie alle; aber einzelne von ihnen hatten noch ihre eigenen, ganz besonderen Ängste auf dem Herzen: Alan hatte Furcht vor seinem Vormund, den er ohnehin schon genug gereizt hatte. Einer von den jungen Leuten war der Sohn eines Landgeistlichen, ein anderer der eines Richters; John, der unglücklichste von allen, hatte David Nicholson zum Vater, und der bloße Gedanke, diesem aus einem so skandalösen Anlaß gegenüberzutreten, machte ihn körperlich krank.

Sie standen eine Weile unter den Strebepfeilern von Saint Giles und hielten Rat; von dort begaben sie sich in die Wohnung eines von ihnen in North Castle Street, wo sie übrigens – nebenbei bemerkt – ebensogut hätten essen und viel besser hätten trinken können als in dem gefährlichen Paradies, aus welchem sie ausgetrieben worden waren. Dort besprachen sie bei einem Glase, in das sozusagen ihre Tränen hineinliefen, was sie in ihrer Lage zu tun hätten. Jeder einzelne setzte auseinander, daß für ihn seine ganze Existenz vernichtet wäre, wenn die Sache ihren Fortgang nähme und er als Zeuge erschiene. Es war bemerkenswert, was für glänzende Aussichten gerade in diesem Augenblick jedem einzelnen von der kleinen Gesellschaft von Jünglingen sich eröffneten, und welch eine fromme Rücksichtnahme auf die Gefühle ihrer Angehörigen in ihnen allen aufwallte. Außerdem befand sich jeder einzelne in einer merkwürdigen Geldlosigkeit. Nicht einer konnte seinen Anteil an der Geldbuße aufbringen; jeder einzelne sprach die wundergläubige Hoffnung aus, daß jeder von den anderen – der Reihe nach – gerade der rechte Mann wäre, die Sache zu übernehmen und das Fehlende beizutragen. Der eine sprach vom hohen Roß herab: seinen Anteil könnte er nicht zahlen; wenn es zu einer Gerichtsverhandlung käme, würde er durchbrennen; er hätte stets gefühlt, daß der Englische Gerichtshof der richtige Wirkungskreis für ihn wäre. Ein anderer ergoß sich in rührenden Einzelheiten bezüglich seiner Familie, und kein Mensch hörte auf ihn. Inmitten dieses stürmischen Wettstreites von Armut und Knauserei saß John wie betäubt und dachte über den berghohen Haufen seiner Mißgeschicke nach.

Schließlich gab jeder sein Wort, daß er ebenso offen wie seine Kameraden die Hilfe seiner Familie anrufen wolle, und dann brach die ganze Gesellschaft unglücklicher junger Esel auf und ging die Haustreppe hinunter. Die Straßen lagen wie ausgestorben rings um sie herum, die Laternen brannten mit verblaßtem Schein in dem Tageslicht, die Vögel stimmten ihre Kehlen im Laub der Stadtgärten, und in dem Grau des Frühlingsmorgens ging ein jeder seines Weges mit gesenktem Haupt und hallenden Schritten.

Am Randolph Crescent waren die Krähen schon wach; aber die Fenster des Hauses sahen, diskret verhängt, auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes hernieder. John hatte einen Hausschlüssel – ein Vorrecht, das ihm erst ganz neuerdings verliehen worden war. Heute war es das erstemal, daß er ihn benutzte – und ach! mit was für einem beschämenden Gefühl seiner Unwürdigkeit steckte er ihn jetzt in das wohlgeölte Schloß und trat in diese Hochburg der Wohlanständigkeit ein!

Alles schlief; das Gas in der Halle hatte man, heruntergedreht, schwach brennen lassen, um ihm beim Nachhausekommen zu leuchten; eine Totenstille herrschte, eine entsetzliche Stille, die nur von dem tiefen Ticken der großen Standuhr unterbrochen wurde. Er drehte das Gas aus und setzte sich auf einen Stuhl in der Halle, wartete und zählte die Minuten und sehnte sich nach einem Menschenantlitz – nach irgendeinem!

Aber als er endlich die Weckuhr im Kellergeschoß rasseln hörte und als die Dienerschaft sich unten rührte, verlor er sofort jeden Mut und floh in sein Schlafzimmer, wo er sich auf das Bett warf.


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